Familienrecht

Kindergeld: Anspruchsberechtigung bei grenzüberschreitenden Sachverhalten

Aktenzeichen  III R 11/13

Datum:
7.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BFH
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BFH:2016:U.070716.IIIR11.13.0
Normen:
§ 62 Abs 1 Nr 1 EStG 2009
§ 62 Abs 2 EStG 2009
§ 63 Abs 1 EStG 2009
§ 64 Abs 2 S 1 EStG 2009
Art 1 Buchst g EGV 883/2004
Art 1 Buchst z EGV 883/2004
Art 2 Abs 1 EGV 883/2004
Art 3 Abs 1 Buchst j EGV 883/2004
Art 11 Abs 1 EGV 883/2004
Art 11 Abs 3 Buchst a EGV 883/2004
Art 67 EGV 883/2004
Art 60 Abs 1 EGV 987/2009
EStG VZ 2011
EStG VZ 2012
Spruchkörper:
3. Senat

Leitsatz

1. Die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann dazu führen, dass der Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG nicht dem in Deutschland, sondern vorrangig dem im EU-Ausland lebenden Elternteil zusteht (Anschluss an die Senatsurteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom 28. April 2016 III R 68/13, BFH/NV 2016, 1514) .
2. Für eine (vorrangige) Anspruchsberechtigung eines nicht freizügigkeitsberechtigten Elternteils müssen die Voraussetzungen i.S. des § 62 Abs. 2 EStG erfüllt sein .

Verfahrensgang

vorgehend FG Münster, 1. Februar 2013, Az: 4 K 997/12 Kg, Urteilnachgehend FG Münster, 13. März 2017, Az: 4 K 3419/16 Kg, Urteil

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 1. Februar 2013 4 K 997/12 Kg aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Münster zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.

Tatbestand

1
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist ruandischer Staatsangehöriger und lebt in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland). Er ist anerkannter Flüchtling i.S. des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl II 1953, 560) und im Besitz einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis. Der Kläger ist seit Mai 2011 sozialversicherungspflichtig beschäftigt, seit November 2011 unbefristet.
2
Der Kläger erkannte mit notarieller Urkunde vom 17. Oktober 2011 die Vaterschaft der im Oktober 2011 in Belgien geborenen L an, die bei der Kindsmutter in Belgien lebt. Die Kindsmutter bezieht seit der Geburt Kindergeld in Belgien in Höhe von monatlich 86,77 €.
3
Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) lehnte mit Bescheid vom 5. Dezember 2011 den Antrag des Klägers auf Festsetzung von Kindergeld für L ab. Zur Begründung führte die Familienkasse aus, die Kindsmutter habe L in ihren Haushalt aufgenommen. Der Einspruch blieb ohne Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 21. Februar 2012).
4
Mit der hiergegen gerichteten Klage begehrte der Kläger Differenzkindergeld für L in Höhe von monatlich 97,23 €. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2013, 709 veröffentlichten Urteil statt. Es verpflichtete die Familienkasse zur Festsetzung des beantragten Differenzkindergeldes für den Zeitraum Oktober 2011 bis Februar 2012.
5
Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt die Familienkasse die sich aus einer unzutreffenden Auslegung des § 64 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ergebende Verletzung materiellen Rechts. Bei der Beurteilung des vorliegenden Sachverhalts sei nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union –ABlEU– 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung –VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)– i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung –VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)– zu unterstellen, dass die Kindsmutter mit dem Kind in Deutschland lebt. Die Kindsmutter sei somit gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig kindergeldberechtigt.
6
Die Familienkasse beantragt,das Urteil des FG Münster vom 1. Februar 2013  4 K 997/12 Kg aufzuheben und die Klage abzuweisen.
7
Der Kläger beantragt,die Revision zurückzuweisen.
8
Mit Beschluss vom 12. Januar 2015 hat der Bundesfinanzhof das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 angeordnet. Der EuGH hat mit Urteil Trapkowski vom 22. Oktober 2015 C-378/14 über die Vorla-gefragen entschieden (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/ Entscheidungsdienst –DStRE– 2015, 1501).


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