Familienrecht

V ZB 59/21

Aktenzeichen  V ZB 59/21

Datum:
24.2.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2022:240222BVZB59.21.0
Spruchkörper:
5. Zivilsenat

Verfahrensgang

vorgehend LG Dessau-Roßlau, 10. September 2021, Az: 5 S 47/21vorgehend AG Naumburg, 19. März 2021, Az: 12 C 46/20

Tenor

Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss der 5. Zivilkammer des Landgerichts Dessau-Roßlau vom 10. September 2021 aufgehoben.
Dem Beklagten wird Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsfrist und der Berufungsbegründungsfrist gewährt.
Die Sache wird zur erneuten Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Der Gegenstandswert für das Rechtsbeschwerdeverfahren beträgt 20.927,50 €.

Gründe

I.
1
Die Klägerin ist eine Gemeinschaft der Wohnungseigentümer; der Beklagte ist der frühere Verwalter der Klägerin. Die Parteien streiten in dem seit dem 10. Februar 2020 anhängigen Rechtsstreit darüber, ob der Beklagte der Klägerin Schadensersatz wegen nicht beigetriebener Hausgelder schuldet. In der Rechtsmittelbelehrung des dem Beklagten am 26. März 2021 zugestellten Urteils des Amtsgerichts Naumburg wird das Landgericht Halle als zuständiges Berufungsgericht bezeichnet. Dorthin richtete der Beklagte seine Berufung. Nach einem Hinweis des Landgerichts Halle vom 1. Juni 2021, dass zuständiges Berufungsgericht gemäß § 72 Abs. 2 Satz 1 GVG i.V.m. der maßgeblichen landesrechtlichen Verordnung das Landgericht Dessau-Roßlau sei, weil es sich um eine wohnungseigentumsrechtliche Streitigkeit nach § 43 Abs. 2 Nr. 3 WEG handele, hat der Beklagte die Berufung bei dem Landgericht Halle zurückgenommen. Anschließend hat er am 8. Juni 2021 Berufung bei dem Landgericht Dessau-Roßlau eingelegt, diese begründet und gleichzeitig Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Berufungs- und Begründungsfrist beantragt. Das Landgericht Dessau-Roßlau hat durch Beschluss vom 10. September 2021 den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen wendet sich der Beklagte mit der Rechtsbeschwerde. Mit Beschluss vom 15. Oktober 2021 hat das Landgericht Dessau-Roßlau auf die Anhörungsrüge des Beklagten den vorangegangenen Beschluss vom 10. September 2021 aufgehoben, dem Beklagten Wiedereinsetzung in die versäumte Berufungs- und Berufungsbegründungsfrist gewährt sowie Termin zur mündlichen Verhandlung bestimmt.
II.
2
Das Berufungsgericht meint in seinem Beschluss vom 10. September 2021, Wiedereinsetzung sei nicht zu gewähren, weil der Beklagte nicht ohne sein Verschulden gehindert gewesen sei, die Berufungsfrist einzuhalten. Er habe nämlich die Frist durch die Einlegung bei dem funktional unzuständigen Landgericht Halle zunächst gewahrt. Nicht die unrichtige Rechtsmittelbelehrung im Urteil des Amtsgericht Naumburg sei ursächlich für die Unzulässigkeit der neuerlich eingelegten Berufung, sondern der Umstand, dass der Beklagte die Berufung nach Ablauf der Berufungsfrist bei dem Landgericht Halle zurückgenommen habe. Richtigerweise habe er einen Verweisungsantrag analog § 281 Abs. 1 ZPO stellen müssen; ein solcher hätte die ursprüngliche Fristwahrung nicht wieder beseitigt.
III.
3
Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg.
4
1. a) Sie ist gemäß § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 522 Abs. 1 Satz 4, § 238 Abs. 2 Satz 1 ZPO statthaft. Ein Zulassungsgrund ist gegeben, weil die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung i.S.v. § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert. Das Berufungsgericht hat dem Beklagten den Zugang zu dem von der Zivilprozessordnung eingeräumten Instanzenzug in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert. Dies verletzt dessen Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. mit dem Rechtsstaatsprinzip) und eröffnet die Rechtsbeschwerde nach § 574 Abs. 2 Nr. 2 Alt. 2 ZPO (vgl. Senat, Beschluss vom 28. September 2017 – V ZB 109/16, NJW 2018, 164 Rn. 5 mwN).
5
b) Dem Beklagten fehlt nicht das Rechtsschutzbedürfnis für die Rechtsbeschwerde. Es ist nicht deshalb entfallen, weil durch den Aufhebungsbeschluss des Berufungsgerichts vom 15. Oktober 2021 eine so genannte verfahrensrechtliche Überholung eingetreten wäre.
6
aa) Dies wäre nur der Fall, wenn der Beschluss geeignet wäre, die Entscheidung vom 10. September 2021 aufzuheben. Das Verfahren hätte sich dann ohne Eingreifen des Rechtsbeschwerdegerichts erledigt, und dessen spätere Entscheidung könnte den Beschwerdeführer nicht mehr besserstellen (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Januar 1995 – IV ZB 22/94, NJW-RR 1995, 765).
7
bb) Eine solche Konstellation liegt hier jedoch nicht vor. Das Berufungsgericht stützt die Aufhebung des die Berufung verwerfenden Beschlusses vom 10. September 2021 auf § 321a ZPO. Dessen Voraussetzungen lagen jedoch nicht vor, was der Senat als Rechtsbeschwerdegericht von Amts wegen zu prüfen hat (vgl. Senat, Beschluss vom 19. Juli 2018 – V ZB 6/18, NJW 2018, 3388 Rn. 7; Urteil vom 12. Oktober 2018 – V ZR 291/17, NJW-RR 2019, 460 Rn. 10). Die Anhörungsrüge des Beklagten war unzulässig, weil der Beschluss vom 10. September 2021 nicht unanfechtbar war (§ 321a Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Vielmehr war und ist gegen diesen Beschluss gemäß den oben zitierten Vorschriften kraft Gesetzes die Rechtsbeschwerde statthaft.
8
2. Die Rechtsbeschwerde ist begründet. Da der Rechtsstreit noch vor dem 1. Dezember 2020 und damit vor dem Inkrafttreten des Wohnungseigentumsmodernisierungsgesetzes vom 16. Oktober 2020 (BGBl I S. 2187 – WEMoG) anhängig geworden ist, finden §§ 72 GVG aF, 43 WEG aF Anwendung (vgl. Artikel 1, 4, 18 WEMoG, § 48 Abs. 5 WEG).
9
a) Die Ansicht des Berufungsgerichts, das Versäumen der Berufungsfrist durch den Beklagten beruhe entscheidend auf dessen Verschulden, weil er die bei dem Landgericht Halle eingelegte Berufung, die die Frist gewahrt habe, zurückgenommen und keinen Verweisungsantrag gemäß § 281 ZPO gestellt habe, ist unzutreffend.
10
aa) Bei Vorliegen einer Streitigkeit im Sinne von § 43 Nr. 1 bis 4 und Nr. 6 WEG aF (vgl. jetzt § 43 Abs. 2 WEG) kann die Berufung fristwahrend grundsätzlich nur bei dem von der Regelung des § 72 Abs. 2 GVG aF (vgl. jetzt § 72 Abs. 2 GVG) vorgegebenen Berufungsgericht eingelegt werden. Eine bei dem falschen Berufungsgericht eingelegte Berufung, die nicht rechtzeitig in die Verfügungsgewalt des richtigen Berufungsgerichts gelangt, kann daher auch nicht in entsprechender Anwendung von § 281 ZPO an dieses Gericht verwiesen werden. Vielmehr ist die Berufung als unzulässig zu verwerfen (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Oktober 2020 – V ZB 45/20, NJW-RR 2021, 140 Rn. 4 mwN).
11
bb) Nur in Ausnahmefällen kann die Berufungsfrist auch durch Anrufung des funktionell unzuständigen Berufungsgerichts gewahrt und in solchen Fällen der Rechtsstreit entsprechend § 281 ZPO auf Antrag an das zuständige Gericht verwiesen werden. Einen solchen Ausnahmefall hat der Senat in der Vergangenheit angenommen, wenn die Frage, ob eine Streitigkeit im Sinne von § 43 Nr. 1 bis 4 und Nr. 6 WEG aF vorliegt, für bestimmte Fallgruppen noch nicht höchstrichterlich geklärt war und man über deren Beantwortung mit guten Gründen unterschiedlicher Auffassung sein konnte (vgl. Senat, Beschluss vom 22. Oktober 2020 – V ZB 40/20, NJW-RR 2021, 140 Rn. 5 mwN). Aus der von dem Berufungsgericht zitierten Entscheidung des I. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs ergibt sich nichts Anderes. Dass hiernach eine Berufung in einer Urheberrechtsstreitsache (vgl. § 105 UrhG) fristwahrend auch bei einem nach der Zuständigkeitskonzentration unzuständigen Berufungsgericht eingelegt werden kann, beruht auf den Besonderheiten des Urheberrechts (vgl. BGH, Beschluss vom 7. Juni 2018 – I ZB 48/17, NJW 2018, 3720 Rn. 14 f.) und lässt sich nicht verallgemeinern.
12
cc) Dass das erstinstanzliche Gericht eine unrichtige Belehrung über das nach § 72 Abs. 2 GVG aF zuständige Berufungsgericht erteilt hat, begründet einen solchen Ausnahmefall nicht. Legt der Rechtsanwalt die Berufung in einer Wohnungseigentumssache aufgrund einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung nicht bei dem nach § 72 Abs. 2 GVG aF zuständigen Berufungsgericht, sondern bei dem für allgemeine Zivilsachen zuständigen Berufungsgericht ein, unterliegt er in aller Regel einem unverschuldeten Rechtsirrtum. Denn eine solche Rechtsmittelbelehrung ist regelmäßig nicht offenkundig in einer Weise fehlerhaft, dass sie – ausgehend von dem bei einem Rechtsanwalt voraussetzenden Kenntnisstand – nicht einmal den Anschein der Richtigkeit zu erwecken vermag (vgl. näher Senat, Urteil vom 21. Februar 2020 – V ZR 17/19, NJW 2020, 1525 Rn. 12). Das gilt auch für einen Rechtsanwalt, der Fachanwalt für Miet- und Wohnungseigentumsrecht ist (vgl. Senat, Beschluss vom 28. September 2017 – V ZB 109/16, NJW 2018, 164 Rn. 15). Dem unverschuldeten Rechtsirrtum wird dadurch Rechnung getragen, dass die Fristversäumnis durch erneute Berufungseinlegung bei dem zuständigen Gericht verbunden mit einem Antrag gemäß § 233 ZPO auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand behoben werden kann (Senat, Beschluss vom 22. Oktober 2020 – V ZB 45/20, NJW-RR 2021, 140 Rn. 7 mwN).
13
b) Unter Beachtung dieser Grundsätze hätte das Berufungsgericht dem Beklagten Wiedereinsetzung gewähren müssen, weil er die Berufungs- und die Berufungsbegründungsfrist unverschuldet versäumt und die Wiedereinsetzungsfristen gewahrt hat.
14
aa) Werden Schadensersatzansprüche einer Gemeinschaft der Wohnungseigentümer gegen den ehemaligen Verwalter geltend gemacht, handelt es sich um eine Streitigkeit nach § 43 Nr. 3 WEG aF (vgl. jetzt § 43 Abs. 2 Nr. 3 WEG), so dass Berufungsgericht das Konzentrationsgericht gemäß § 72 Abs. 2 GVG aF (hier: das Landgericht Dessau-Roßlau) ist. Deshalb konnte der bei dem hiernach unzuständigen Landgericht Halle eingelegten Berufung keine fristwahrende Wirkung zukommen. Dem Beklagten ist aber Wiedereinsetzung zu gewähren, weil die Einlegung bei dem falschen Berufungsgericht auf der fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung des Amtsgerichts beruht und einen unverschuldeten Rechtsirrtum begründete.
15
bb) Auch die Wiedereinsetzungsfristen nach § 234 Abs. 1 Satz 1 und 2 ZPO für die Versäumung der Berufungs- und der Berufungsbegründungsfrist sind gewahrt worden. Sie beginnen (§ 234 Abs. 2 ZPO) nämlich regelmäßig erst zu laufen, wenn das aufgrund der Rechtsmittelbelehrung angerufene Gericht auf seine Unzuständigkeit hinweist (vgl. Senat, Urteil vom 21. Februar 2020 – V ZR 17/19, NJW 2020, 1525 Rn. 17; Beschluss vom 22. Oktober 2020 – V ZB 45/20, NJW-RR 2021, 140 Rn. 7), hier also mit Zugang des Schreibens vom 1. Juni 2021. Bereits am 8. Juni 2021 und damit innerhalb der Fristen hat der Beklagte Wiedereinsetzung beantragt und die versäumten Prozesshandlungen nachgeholt (§ 236 Abs. 2 Satz 2 ZPO).
16
3. Der die Berufung verwerfende Beschluss wird mit der Wiedereinsetzung gegenstandslos (vgl. Senat, Beschluss vom 28. September 2017 – V ZB 109/16, NJW 2018, 164 Rn. 18). Seine Aufhebung erfolgt nur klarstellend.
IV.
17
Den Gegenstandswert des Rechtsbeschwerdeverfahrens hat der Senat nach der Wertfestsetzung des Berufungsgerichts bestimmt.
Stresemann     
      
Brückner     
      
Göbel 
      
Haberkamp     
      
Laube     
      


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