Familienrecht

Verweisungsbeschluss wegen sachlicher Unzuständigkeit – offenkundig aktenwidrige Streitwerterfassung

Aktenzeichen  101 AR 114/20

Datum:
28.10.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 29202
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 36 Abs. 1 Nr. 6
EGZPO § 9
GVG § 23, § 71

 

Leitsatz

Ein Verweisungsbeschluss wegen sachlicher Unzuständigkeit, der auf einer offenkundig aktenwidrigen Streitwerterfassung beruht, ist objektiv willkürlich und bindet daher nicht.
1. Einem Verweisungsbeschluss kommt dann keine Bindungswirkung zu, wenn dieser schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder weil er jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als objektiv willkürlich betrachtet werden muss (so auch BGH BeckRS 2017, 123744). (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Objektiv willkürlich ist ein Verweisungsbeschluss, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar und offensichtlich unhaltbar ist, wofür es allerdings nicht genügt, dass er nur inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist, denn eine fehlerhafte Anwendung materiell- oder verfahrensrechtlicher Bestimmungen allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich. Es bedarf vielmehr zusätzlicher Umstände, die die getroffene Entscheidung als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar erscheinen lassen (so auch BGH BeckRS 2015, 11660). (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

24 O 9456/20 2020-08-10 Bes LGMUENCHENI LG München I

Tenor

Sachlich zuständig ist das Landgericht München I.

Gründe

I.
Die Klägerin erwirkte gegen den Beklagten einen Mahnbescheid über eine Darlehensrückzahlungsforderung von 6.550,57 € sowie Schadensersatz aus Verletzung des Kreditvertrags in Höhe von 602,50 € zuzüglich Verfahrenskosten, Zinsen und als Nebenforderungen geltend gemachte Inkassokosten von 659,34 €. Nach Einlegung eines Teil-Widerspruchs, gerichtet gegen die Schadensersatzforderung von 602,50 € nebst hierauf entfallende Zinsen, gegen die Verfahrenskosten sowie Nebenforderungen in Höhe von 254,34 €, erging am 10. Juni 2020 ein Vollstreckungsbescheid im Umfang des unwidersprochen gebliebenen Teils der Forderungen. Gegen den Vollstreckungsbescheid legte der Beklagte am 10. Juli 2020 Einspruch beim Mahngericht ein.
Mit Schriftsatz vom 14. Juli 2020 beantragte die über den Einspruch nicht informierte Klägerin beim Mahngericht die Abgabe des Verfahrens an das im Mahnbescheid bezeichnete Landgericht München I. Im selben Schriftsatz stellte sie zum Landgericht München I den Antrag, das Verfahren an das Amtsgericht München zu verweisen, weil der nach Teil-Widerspruch noch streitige Verfahrensgegenstand in die sachliche Zuständigkeit des Amtsgerichts falle. Zur Sache wurde beantragt, den Beklagten zur Zahlung von 254,34 € nebst Rechtshängigkeitszinsen zu verurteilen. Laut Begründung ist der Antrag auf den widersprochenen Teil der Nebenforderungen bezogen, ohne dass damit eine Klagerücknahme hinsichtlich der weiteren Positionen des Mahnbescheids verbunden sei, gegen die sich der Widerspruch richte. Die im Mahnbescheid als Schadensersatzforderung von 602,50 € und im Rahmen der Verfahrenskosten als Auslagen für die Inkassodienstleistung im Betrag von 25,00 € geltend gemachten Beträge würden im Kostenfestsetzungsverfahren als – erstattungsfähige – Kosten für die Vertretung im gerichtlichen Mahnverfahren nach Ziff. 3305, 3306 des Vergütungsverzeichnisses zum Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (VV RVG) geltend gemacht; sie seien als Gebühren des Mahnverfahrens nicht Gegenstand des Hauptsacheverfahrens. Die Darstellung im Mahnbescheid sei den Besonderheiten des Mahnverfahrens geschuldet.
Das Mahngericht gab mit Verfügung vom 21. Juli 2020 das Verfahren an das Landgericht München I ab und gab als Abgabegrund an, dass der Antragsgegner gegen den Mahnbescheid Teilwiderspruch erhoben und (Unterstreichung im Original) gegen den Vollstreckungsbescheid Einspruch eingelegt habe.
Mit Verfügung vom 28. Juli 2020 erteilte das Landgericht an die Parteien den Hinweis, dass für die Durchführung des Verfahrens über den laut Anspruchsbegründung noch streitigen Betrag von nur noch 254,34 € das Amtsgericht sachlich zuständig sei. Der Beklagte persönlich nahm dahingehend Stellung, er sei mit einer Verfahrensübernahme durch das Amtsgericht einverstanden. An seinem Teil-Widerspruch halte er fest.
Mit Beschluss vom 10. August 2020 hat sich das Landgericht München I für sachlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Amtsgericht München verwiesen mit der Begründung, nach Teil-Widerspruch mache die Klägerin nur noch einen Betrag von 254,34 € geltend.
Das Amtsgericht München hat die Parteien mit Verfügung vom 14. August 2020 darauf hingewiesen, dass der Streitwert des Verfahrens wegen des vom Landgericht übersehenen Einspruchs gegen den Vollstreckungsbescheid über der gesetzlichen Schwelle liege, die zur Zuständigkeit des Landgerichts führe. Der Verweisungsbeschluss binde wegen Willkür nicht.
Die Klägerin hat daraufhin mitgeteilt, ihr sei der Einspruch bislang unbekannt gewesen. Die Verfahren wegen des Teil-Widerspruchs einerseits und des Einspruchs andererseits seien als getrennte Verfahren zu behandeln, da es an einem Verbindungsbeschluss fehle. Das Landgericht müsse über den Einspruch informiert und darauf hingewiesen werden, dass es zur Anspruchsbegründung aufzufordern habe. In die Zuständigkeit des Landgerichts falle sodann nur das Verfahren über den Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid.
Das Amtsgericht München hat sich mit Beschluss vom 9. September 2020 ebenfalls für sachlich unzuständig erklärt und das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Gerichts dem Bayerischen Obersten Landesgericht vorgelegt. Das Landgericht habe übersehen, dass das Verfahren auch wegen des gegen den Vollstreckungsbescheid eingelegten Einspruchs abgegeben worden sei. Als Teil-Klagerücknahme sei die nur auf den Teil-Widerspruch abstellende Anspruchsbegründung nicht aufzufassen, weil die Klägerin keine Kenntnis vom Einspruch gehabt habe. Da der Verweisungsbeschluss von falschen Tatsachen ausgehe, entbehre er jeder rechtlichen Grundlage und sei als willkürlich zu werten. Er sei für das Amtsgericht nicht bindend.
Die Parteien haben im Bestimmungsverfahren Gelegenheit zur Äußerung erhalten. Die Klägerin hat hiervon keinen Gebrauch gemacht. Der Beklagte hat lediglich sein Interesse an einer einverständlichen Regelung betont.
II.
Auf die zulässige Vorlage ist die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts München I auszusprechen.
1. Die Voraussetzungen für die Bestimmung der (sachlichen) Zuständigkeit gemäß § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (vgl. Schultzky in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 36 Rn. 34 ff. m. w. N.) durch das Bayerische Oberste Landesgericht liegen vor. Das Landgericht München I hat sich durch unanfechtbaren Verweisungsbeschluss vom 10. August 2020 für unzuständig erklärt, das Amtsgericht München durch die zuständigkeitsverneinende Entscheidung vom 9. September 2020. Die beiden Parteien mitgeteilte und jeweils ausdrücklich ausgesprochene Leugnung der eigenen Zuständigkeit erfüllt das Tatbestandsmerkmal „rechtskräftig“ im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 15. August 2017, X ARZ 204/17, NJW-RR 2017, 1213 Rn. 12; Schultzky in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 36 Rn. 35; jeweils m. w. N.).
Zuständig für die Bestimmungsentscheidung ist gemäß § 36 Abs. 2 ZPO i. V. m. § 9 EGZPO das Bayerische Oberste Landesgericht, weil das im Instanzenzug nächsthöhere gemeinschaftliche Gericht über dem Amtsgericht München und dem Landgericht München I in der hier vorliegenden bürgerlichen Rechtsstreitigkeit der Bundesgerichtshof ist; dass beide am Kompetenzkonflikt beteiligten Gerichte im Bezirk des Oberlandesgerichts München liegen, führt deshalb nicht zur Zuständigkeit des Oberlandesgerichts für das Bestimmungsverfahren (vgl. Senatsentscheidung v. 24. September 2019, 1 AR 83/19, juris; Toussaint in BeckOK, ZPO, 38. Ed. Stand: 1. September 2020, § 36 Rn. 45.2).
2. Sachlich zuständig für das streitige Verfahren ist das Landgericht München I.
a) Im Verfahren nach oder analog § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO ist auch der negative Kompetenzkonflikt zwischen Amtsgericht (§ 23 GVG) und Landgericht (§ 71 GVG) über die sachliche Zuständigkeit als Eingangsinstanz zu entscheiden (Toussaint in BeckOK, ZPO, § 36 Rn. 38.1).
b) Die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts folgt aus § 71 Abs. 1, § 23 Nr. 1 GVG.
aa) Mit der ausdrücklich auf den Teil-Widerspruch und den Einspruch abstellenden Abgabeverfügung des Mahngerichts sind dem Landgericht München I alle Positionen der im Mahnverfahren geltend gemachten Forderung(en) als Gegenstand des streitigen Verfahrens angefallen. Weil aufgrund der einheitlichen Abgabeverfügung zu keiner Zeit zwei getrennte streitige Verfahren angelegt worden sind, bedurfte es hierfür keiner Verfahrensverbindung durch Beschluss nach § 147 ZPO. Der Streitwert des Verfahrens liegt daher über 5.000,00 €.
bb) Der Verweisungsbeschluss vom 10. August 2020 ändert an der Zuständigkeit des Landgerichts nichts, denn er ist als objektiv willkürlich zu werten und daher nicht geeignet, die Zuständigkeit des Amtsgerichts zu begründen.
Der Gesetzgeber hat in § 281 Abs. 2 Sätze 2 und 4 ZPO die grundsätzliche Unanfechtbarkeit von Verweisungsbeschlüssen und deren Bindungswirkung angeordnet. Auch ein sachlich zu Unrecht oder verfahrensfehlerhaft ergangener Verweisungsbeschluss entzieht sich danach grundsätzlich der Nachprüfung. Dies hat der Senat im Verfahren nach § 36 Abs. 1 Nr. 6 ZPO zu beachten. Im Falle eines negativen Kompetenzkonflikts innerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit ist daher grundsätzlich das Gericht als zuständig zu bestimmen, an das die Sache in dem zuerst ergangenen Verweisungsbeschluss verwiesen worden ist.
Einem Verweisungsbeschluss kommt allerdings dann keine Bindungswirkung zu, wenn dieser schlechterdings nicht als im Rahmen des § 281 ZPO ergangen angesehen werden kann, etwa weil er auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs beruht, nicht durch den gesetzlichen Richter erlassen wurde oder weil er jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und deshalb als objektiv willkürlich betrachtet werden muss (st. Rspr.; vgl. BGH, NJW-RR 2017, 1213 Rn. 15; Beschluss vom 9. Juni 2015, X ARZ 115/15, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 9; Beschluss vom 10. September 2002, X ARZ 217/02, NJW 2002, 3634 [juris Rn. 13 f.]; Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 16 ff.; jeweils m. w. N.).
Objektiv willkürlich ist ein Verweisungsbeschluss, wenn er unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar und offensichtlich unhaltbar ist (vgl. BGH, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 9 m. w. N.). Für die Bewertung als willkürlich genügt es zwar nicht, dass der Verweisungsbeschluss inhaltlich unrichtig oder sonst fehlerhaft ist, denn eine fehlerhafte Anwendung materiell- oder verfahrensrechtlicher Bestimmungen allein macht eine Gerichtsentscheidung nicht willkürlich (vgl. BGH, NJW-RR 2015, 1016 Rn. 11 m. w. N.). Es bedarf vielmehr zusätzlicher Umstände, die die getroffene Entscheidung als schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar erscheinen lassen.
Das kann etwa der Fall sein, wenn das verweisende Gericht eine seine Zuständigkeit begründende Norm nicht zur Kenntnis genommen oder sich ohne Weiteres darüber hinweggesetzt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 19. Januar 1993, X ARZ 845/92, NJW 1993, 1273 [juris Rn. 4]; BayObLG, Beschluss vom 18. April 2002, 1Z AR 36/02, NJW-RR 2002, 1295 [juris Rn. 7]). Gleichfalls als objektiv willkürlich ist es anzusehen, wenn der Verweisungsbeschluss auf einer evident einseitigen oder sonst offensichtlich falschen Erfassung des Sachverhalts (BGH, Beschluss vom 24. Juli 1996, X ARZ 683/96, NJW 1996, 3013 [juris Rn. 7]; KG, Beschluss vom 20. Mai 1998, 28 AR 34/98, MDR 1999, 56 [juris Rn. 18]) oder einem offensichtlichen Sachverhaltsirrtum (BAG, Beschluss vom 11. November 1996, 5 AS 12/96, NJW 1997, 1091 [juris Rn. 9]; BayObLG, Beschluss vom 15. September 2020, 1 AR 88/20, juris Rn. 17; Beschluss vom 5. Dezember 2002, 1Z AR 164/02, juris Rn. 5; OLG Hamm, Beschluss vom 2. Juni 2015, 32 SA 21/15, juris Rn. 12 und 15), auf einer Verkennung des Klagebegehrens (OLG Hamburg, Beschluss vom 19. März 2003, 13 AR 6/03, MDR 2003, 1072 [juris Rn. 8 ff.]) oder auf einer evident falschen Erfassung des Zuständigkeitsstreitwerts beruht (OLG Hamm, Beschluss vom 24. Juli 2012, 32 SA 62/12, MDR 2012, 1367 [juris Rn. 15]; KG, Beschluss vom 17. April 2008, 2 AR 19/08, VersR 2008, 1234 [juris Rn. 4 f.]; Beschluss vom 13. August 1998, 28 AR 63/98, MDR 1999,438 [juris 7]; zum Ganzen: Greger in Zöller, ZPO, § 281 Rn. 17).
Hier hat das verweisende Gericht den Zuständigkeitsstreitwert des Verfahrens offensichtlich verkannt, weil es allein auf den Inhalt der aus Anlass des TeilWiderspruchs verfassten Anspruchsbegründung abgestellt hat, ohne den Inhalt der Zuleitungsverfügung des Mahngerichts zu beachten. Nach dem Akteninhalt liegt eine evidente Verkennung des Zuständigkeitsstreitwerts vor, die den hierauf beruhenden Verweisungsbeschluss als nicht mehr verständlich und unter keinem denkbaren Gesichtspunkt rechtlich vertretbar, mithin objektiv willkürlich erscheinen lässt.
Ob das Übergehen des für den Zuständigkeitsstreitwert ausschlaggebenden Aktenbestandteils auf einem subjektiven Versehen beruht, ist in diesem Zusammenhang ohne Bedeutung. Denn für die Frage objektiver Willkür kommt es auf subjektive Momente nicht (entscheidend) an (vgl. Tombrink, NJW 2003, 2364 [2365] m. w N.). Auch ein etwaiger übereinstimmender Parteiwille (vgl. hierzu: BGH, Beschluss vom 6. Oktober 1993, XII ARZ 22/93, NJW-RR 1994, 126 [juris Rn. 8]) ist hier nicht geeignet, das Ergebnis dieser Beurteilung zu beeinflussen.


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