IT- und Medienrecht

Stattgebender Kammerbeschluss: Verletzung von Art 5 Abs 1 S 1 GG durch eine zivilgerichtliche Verurteilung eines Abtreibungsgegners Protestaktionen – insb. durch Ansprechen von Patientinnen eines „Abtreibungsarztes“ in unmittelbarer Nähe von dessen Praxisräumen anzusprechen – zu unterlassen

Aktenzeichen  1 BvR 1745/06

Datum:
8.6.2010
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Stattgebender Kammerbeschluss
ECLI:
ECLI:DE:BVerfG:2010:rk20100608.1bvr174506
Normen:
Art 12 Abs 1 GG
Art 5 Abs 1 S 1 GG
§ 1004 BGB
§ 823 BGB
§ 93c Abs 1 S 1 BVerfGG
Spruchkörper:
1. Senat 1. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend OLG München, 2. Juni 2006, Az: 18 U 2358/06, Beschlussvorgehend LG München I, 18. Januar 2006, Az: 9 O 14979/05, Urteilnachgehend BVerfG, 14. September 2010, Az: 1 BvR 1745/06, Gegenstandswertfestsetzung im verfassungsgerichtlichen Verfahren

Tenor

Der Beschluss des Oberlandesgerichts München vom 2. Juni 2006 – 18 U 2358/06 – und das Endurteil des Landgerichts München I vom 18. Januar 2006 – 9 O 14979/05 – verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidungen werden aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht München I zurückverwiesen.

Gründe

I.
1
1. a) Der Beschwerdeführer hält aus religiöser Überzeugung Abtreibungen für verwerflich. Er pflegt Protestaktionen gegen Frauenärzte
zu veranstalten, die Schwangerschaftsabbrüche vornehmen, indem er sich in der Nähe der jeweiligen Arztpraxis auf der Straße
aufstellt, um durch Plakate und Flugblätter auf seine Haltung zur Abtreibungsfrage aufmerksam zu machen. Hierbei spricht er
auch Passanten und Passantinnen, insbesondere solche, die er für mögliche Patientinnen des Frauenarztes hält, an und versucht
sie zu einer Überprüfung ihrer Haltung zur Frage der Abtreibung zu bewegen. Mehrere dieser Aktionen waren bereits Gegenstand
von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (vgl. nur BVerfGK 8, 89).

2
Im vorliegenden Fall hatte sich der Beschwerdeführer im Mai 2003 und erneut im April 2004 jeweils an einem Tag vor der Praxis
des Münchener Frauenarztes Dr. M. (im Folgenden: Kläger) aufgestellt, der nach den Feststellungen der Gerichte seinerzeit
im Rahmen seiner Berufsausübung Schwangerschaftsabbrüche vornahm und hierauf auch im Internet hinwies. Dabei verteilte der
Beschwerdeführer Flugblätter, auf denen darauf hingewiesen wurde, der Kläger führe “rechtswidrige Abtreibungen durch, die
aber der deutsche Gesetzgeber erlaubt und nicht unter Strafe stellt”. Auch im Internet machte der Beschwerdeführer auf einer
von ihm betriebenen Homepage den Kläger als Abtreibungsmediziner namhaft.

3
b) Nach erfolglosem vorgerichtlichem Unterlassungsverlangen nahm der Kläger den Beschwerdeführer bei dem Landgericht auf Unterlassung
vergleichbarer Aktionen in Anspruch.

4
Mit dem hier angegriffenen Urteil vom 18. Januar 2006 verurteilte das Landgericht den Beschwerdeführer antragsgemäß, es zu
unterlassen, öffentlich, insbesondere durch Einträge im Internet, durch Plakate oder Flugblätter darauf hinzuweisen, dass
der namentlich oder in anderer Weise identifizierbar bezeichnete Kläger Abtreibungen vornehme oder dass in seiner Praxis Abtreibungen
vorgenommen würden, und des Weiteren es zu unterlassen, Patientinnen des Klägers oder Passanten in einem Umkreis von einem
Kilometer zu dessen jeweiligen Praxisräumen anzusprechen und wörtlich oder sinngemäß auf in der Praxis – insbesondere durch
den Kläger – vorgenommene Abtreibungen hinzuweisen.

5
Mit seinen Demonstrationen im Mai 2003 und April 2004 habe der Beschwerdeführer rechtswidrig in das allgemeine Persönlichkeitsrecht
des Klägers eingegriffen mit der Folge, dass diesem der geltend gemachte Unterlassungsanspruch aus § 823 Abs. 1, § 1004 BGB
zustehe. Betroffen sei das berufliche Umfeld des Klägers, mithin die Sozialsphäre. Hier stehe ihm zwar kein so weitgehender
Schutz zu wie bei Eingriffen in die Privatsphäre, doch seien bei schwerwiegenden Auswirkungen auf die Persönlichkeit, etwa
bei Stigmatisierung oder sozialer Ausgrenzung auch Eingriffe in die Sozialsphäre unzulässig. So liege es hier. Indem der Beschwerdeführer
Passanten, insbesondere mögliche Patientinnen des Klägers in unmittelbarer Nähe zu dessen Praxis in Gespräche über das Thema
Abtreibung verwickle, um sie zu irritieren und von dem Besuch der Praxis abzuhalten, würdige er die berufliche Tätigkeit des
Klägers insgesamt herab, obwohl diese legal sei. Überdies wähle er den Kläger willkürlich aus einer Vielzahl von Abtreibungsmedizinern
aus und dränge ihn als Privatperson in eine von ihm nicht gewollte und nicht herausgeforderte Öffentlichkeit. Der Beschwerdeführer
könne sich auch nicht darauf berufen, dass der Kläger selbst im Internet darauf hingewiesen habe, dass in seiner Praxis Schwangerschaftsabbrüche
vorgenommen würden. Durch diese bloße Information nehme der Kläger noch nicht zur Bewertung von Abtreibungen öffentlich Stellung
oder beteilige sich an einer öffentlichen Diskussion hierüber.

6
Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Klägers sei auch nicht durch das Grundrecht des Beschwerdeführers
auf Meinungsfreiheit gerechtfertigt. Der Beschwerdeführer habe die Tatsachenbehauptung, der Kläger führe rechtswidrige, aber
erlaubte Abtreibungen durch, mit einer moralischen Bewertung des deutschen Abtreibungsrechts verbunden. Dass er dies gerade
in Form einer Demonstration vor der Praxis des Klägers getan habe, falle zwar in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. Allerdings
rechtfertige dieses Grundrecht nur verhältnismäßige Maßnahmen. Die Beeinträchtigung Dritter durch eine Meinungsäußerung müsse
zur Erreichung des verfolgten Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen sein. Vorliegend habe der Beschwerdeführer zwar
klargestellt, dass die vom Kläger vorgenommenen Abtreibungen nicht illegal seien. Jedoch greife er aus dem Tätigkeitsspektrum
des Klägers einen Aspekt heraus und weise auf diesen isolierten Punkt öffentlich hin. Dadurch präsentiere er den Kläger als
Repräsentanten der kritisierten Abtreibungspraxis, ohne dass dieser durch eigene Handlungen hierzu Anlass gegeben habe. Wegen
der hierdurch erzeugten Prangerwirkung müsse die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers hinter das allgemeine Persönlichkeitsrecht
des Klägers zurücktreten.

7
Der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht sei auch deswegen unverhältnismäßig, weil der Beschwerdeführer das gesetzgeberische
Schutzkonzept, das hinter den §§ 218 ff. StGB stehe, zu unterlaufen suche. Der Gesetzgeber habe erkannt, dass allein durch
Repression Schwangerschaftsabbrüche nicht zu verhindern seien, und setze daher besonders auf das vertrauensvolle Zusammenwirken
der Ärzte und Beratungsstellen mit den betroffenen Frauen. Hierfür sei indes unerlässlich, dass das Vertrauensverhältnis zwischen
Arzt und Patientin nicht durch das Dazwischentreten eines außenstehenden Dritten belastet werde. Da das Verhalten des Beschwerdeführers
diese Vertrauensbasis störe, sei es selbst bei Beachtung des Umstandes, dass eine Wirkungssteigerung einer Meinungsäußerung
grundsätzlich auch durch eine personalisierte Darstellung bewirkt werden dürfe, vorliegend nicht durch Art. 5 Abs. 1 GG gedeckt.

8
Ebenso wenig könne der Beschwerdeführer sich auf Art. 4 GG berufen, denn die dort genannten Grundrechte gäben dem Einzelnen
keinen Anspruch darauf, dass seine Überzeugung zum Maßstab der Gültigkeit genereller Rechtsnormen und ihrer Anwendung gemacht
werde.

9
c) Gegen das Urteil des Landgerichts wandte sich der Beschwerdeführer mit der Berufung. Mit Beschluss vom 10. Mai 2006 wies
das Oberlandesgericht darauf hin, dass eine Zurückweisung des Rechtsmittels gem. § 522 Abs. 2 ZPO beabsichtigt sei. Entgegen
der Auffassung des Beschwerdeführers müsse es Frauen, die sich nach der entsprechenden Beratung zu einem gesetzlich zulässigen
Schwangerschaftsabbruch entschlossen hätten, ermöglicht werden, medizinische Hilfe durch einen Arzt ihres Vertrauens ohne
weiteres Hinzutreten eines Dritten und die hiermit verbundenen psychischen Belastungen in Anspruch zu nehmen. Nach dem Willen
des Gesetzgebers sollten in die einem möglichen Schwangerschaftsabbruch vorausgehende Beratung im Interesse eines möglichst
wirksamen Schutzes des ungeborenen Lebens auch Ärzte eingebunden sein, weshalb auch dieser Teil der Tätigkeit des Klägers
den Schutz des Art. 12 Abs. 1 GG genieße. Der Beschwerdeführer wolle die Patientinnen des Klägers durch sein Auftreten veranlassen,
diesen nicht aufzusuchen, und das Arzt-Patienten-Verhältnis bewusst stören, um Schwangerschaftsabbrüche zu verhindern, auch
wenn diese legal seien. Dies stelle einen unverhältnismäßigen und damit unzulässigen Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht
des Klägers dar. Das Verhalten des Beschwerdeführers tangiere die konkrete Ausgestaltung der Sozialsphäre des Klägers, auf
die es sich erheblich auswirke. Dass der Beschwerdeführer das gesetzgeberische Konzept zum Schutz des ungeborenen Lebens für
falsch und änderungsbedürftig halte, rechtfertige nicht, den Kläger persönlich in der gegebenen Weise anzugreifen.

10
Auch unter Berücksichtigung der dem Beschwerdeführer zustehenden Meinungsfreiheit sei es ihm aufgrund des damit verbundenen
Eingriffs in das Persönlichkeitsrecht und das Recht auf freie Berufsausübung des Klägers verwehrt, diesen namentlich in irgendeiner
Weise zu benennen. Der Kläger sei nicht durch Veröffentlichungen oder sonstige Verhaltensweisen als besonderer Befürworter
von Abtreibungen in die Öffentlichkeit getreten. Der Beschwerdeführer habe ihn aus einer Vielzahl von anderen Ärzten ausgewählt
und als Privatperson in die Öffentlichkeit gedrängt. Selbst wenn das Leistungsangebot auf der Homepage des Klägers Schwangerschaftsabbrüche
mit umfasse, werde damit lediglich über das Behandlungsangebot der Praxis des Klägers informiert, ohne dass hierin ein persönlicher
Beitrag des Klägers zur öffentlichen Abtreibungsdiskussion zu sehen sei.

11
Der Beschwerdeführer werde (durch das Unterlassungsurteil) auch nicht unzulässig aus der Diskussion über Abtreibung ausgeschlossen.
Ihm bleibe vielmehr das Recht, sich in der Öffentlichkeit auch deutlich und drastisch zu äußern, um die aus seiner Sicht größte
Verbreitung und stärkste Wirkung seiner Meinungsäußerung zu erreichen, solange er nicht wie hier in unverhältnismäßiger Weise
in die Rechte anderer eingreife.

12
d) Mit dem hier angegriffenen Beschluss vom 2. Juni 2006 wies das Oberlandesgericht die Berufung sowie den hierfür gestellten
Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe schließlich ankündigungsgemäß nach § 522 Abs. 2 ZPO zurück. Zur Begründung verwies
es im Wesentlichen auf den soeben wiedergegebenen Hinweisbeschluss.

13
2. Der Beschwerdeführer sieht sich durch die angegriffenen Entscheidungen in seinen Grundrechten aus Art. 5 Abs. 1 und Art.
4 Abs. 1 GG verletzt. Als engagiertem Christen sei es ihm darum zu tun, sich mit verschiedenen Aktionen gegen die Durchführung
von Abtreibungen zu wenden, auch wenn diese der geltenden Rechtslage entsprächen. Hierbei wolle er sich nicht auf eine abstrakte
oder theoretische Argumentation beschränken, sondern bemühe sich darum, das Geschehen der Abtreibung für den jeweiligen Ort
seiner Meinungsäußerung zu konkretisieren. Die angegriffenen Entscheidungen seien schon deshalb mit seinen Grundrechten nicht
vereinbar, weil sie ihm völlig unabhängig von Kontext, Intention und inhaltlicher Bewertung jeden Hinweis auf die berufliche
Tätigkeit des Klägers untersagten. Im Übrigen handele es sich bei der untersagten Äußerung um eine zutreffende Tatsachenbehauptung,
die den Kläger allenfalls in seiner Sozialsphäre berühre. Auch eine unzulässige Prangerwirkung oder Stigmatisierung des Klägers
liege nicht vor. Insoweit sei nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts maßgeblich, ob dem Betroffenen ein strafrechtlich
relevantes Verhalten oder ein lediglich auf moralischer Ebene verbleibender Vorwurf gemacht werde. Im vorliegenden Fall werde
dem Kläger aber gerade kein strafrechtlich relevantes Verhalten angelastet.

14
3. Gelegenheit zur Stellungnahme hatten der Bundesgerichtshof, das Bayerische Staatsministerium der Justiz und für Verbraucherschutz
sowie der Kläger des Ausgangsverfahrens. Die Akte des Ausgangsverfahrens hat dem Bundesverfassungsgericht vorgelegen.

II.
15
Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung
der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor
(§ 93c Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG).

16
1. Das Bundesverfassungsgericht hat die maßgeblichen Fragen bereits entschieden. Dies gilt namentlich für das Verhältnis des
Grundrechts auf Meinungsfreiheit zu dem ebenfalls grundrechtlich geschützten allgemeinen Persönlichkeitsrecht des von einer
Äußerung Betroffenen (vgl. nur BVerfGE 97, 391 ; 99, 185 ; BVerfGK 8, 107).

17
2. Die Verfassungsbeschwerde ist zwar nur teilweise zulässig (a); im Umfang ihrer Zulässigkeit ist sie allerdings auch im
Sinne des § 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG offensichtlich begründet (b).

18
a) Soweit der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 4 GG rügt, genügen seine Ausführungen nicht den
sich aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG ergebenden Begründungsanforderungen. Sie lassen nicht einmal ansatzweise erkennen,
inwieweit die angegriffenen Entscheidungen den Beschwerdeführer in der Freiheit seines Glaubens betreffen oder an der Ausübung
seiner Religion hindern. Namentlich legt der Beschwerdeführer nicht schlüssig dar, dass gerade die Wiederholung der durch
die angegriffenen Entscheidungen untersagten Äußerungen und Verhaltensweisen der unmittelbaren Umsetzung einer religiösen
Grundhaltung der Beschwerdeführer geschuldet sei.

19
b) Die angegriffenen Entscheidungen verletzen den Beschwerdeführer allerdings in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus
Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG. Die dem Beschwerdeführer durch die angegriffenen Entscheidungen verbotenen Hinweise darauf, dass
der Kläger Abtreibungen durchführe und in seiner Praxis Abtreibungen durchgeführt würden, fallen in den Schutzbereich dieses
Grundrechts. Dem steht nicht entgegen, dass es sich hierbei um Tatsachenbehauptungen handelt, denn auch derartige Äußerungen
genießen den Schutz der Meinungsfreiheit, soweit sie geeignet sind, zur Meinungsbildung beizutragen (vgl. BVerfGE 85, 1 <15
f.>; 90, 241 ; stRspr), was hier ersichtlich der Fall ist.

20
Das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG ist allerdings nicht vorbehaltlos gewährt, sondern steht gemäß Art. 5 Abs. 2 GG
insbesondere unter der Schranke der allgemeinen Gesetze, zu denen auch die hier angewendeten Vorschriften der §§ 823, 1004
BGB gehören. Jedoch haben die Fachgerichte bei der Auslegung und Anwendung der grundrechtsbeschränkenden Normen des einfachen
Rechts die wertsetzende Bedeutung des beeinträchtigten Grundrechts zu berücksichtigen. Diesem Erfordernis werden die angegriffenen
Entscheidungen nicht in hinreichendem Maße gerecht. Die Gerichte haben zwar nicht verkannt, dass die streitgegenständlichen
Äußerungen dem Schutzbereich der Meinungsfreiheit unterfallen, und sind auch in eine Abwägung zwischen diesem Grundrecht des
Beschwerdeführers und den auf Seiten des Klägers zu berücksichtigenden grundrechtlich geschützten Interessen eingetreten.
Die hierbei maßgeblichen Erwägungen der Gerichte werden aber der Bedeutung und Tragweite der Meinungsfreiheit nicht hinreichend
gerecht.

21
Im Ausgangspunkt zutreffend haben die angegriffenen Entscheidungen zwar angenommen, dass die dem Beschwerdeführer untersagten
Äußerungen wahre Tatsachenbehauptungen sind, die den Kläger zudem weder in seiner besonders geschützten Intim- noch in seiner
Privatsphäre treffen, sondern lediglich Vorgänge aus seiner Sozialsphäre benennen. Derartige Äußerungen müssen allerdings
grundsätzlich hingenommen werden, denn das Persönlichkeitsrecht verleiht seinem Träger keinen Anspruch darauf, nur so in der
Öffentlichkeit dargestellt zu werden, wie es ihm genehm ist (vgl. BVerfGE 97, 391 ). Zu den hinzunehmenden Folgen der
eigenen Entscheidungen und Verhaltensweisen gehören deshalb auch solche Beeinträchtigungen des Einzelnen, die sich aus nachteiligen
Reaktionen Dritter auf die Offenlegung solcher wahrer Tatsachen ergeben, solange sie sich im Rahmen der üblichen Grenzen seiner
Entfaltungschancen halten (vgl. BVerfGE 97, 391 ). Die Schwelle zur Persönlichkeitsrechtsverletzung wird bei der Mitteilung
wahrer Tatsachen über die Sozialsphäre des Betroffenen regelmäßig erst überschritten, wo sie einen Persönlichkeitsschaden
befürchten lässt, der außer Verhältnis zu dem Interesse an der Verbreitung der Wahrheit steht (vgl. BVerfGE 97, 391 ;
99, 185 ). Eine derart schwerwiegende Beeinträchtigung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Klägers zeigen die
angegriffenen Entscheidungen aber nicht in einer verfassungsrechtlich tragfähigen Weise auf. Ihre Erwägung, dass der Kläger
gegen seinen Willen in der Öffentlichkeit als ein auch Schwangerschaftsabbrüche durchführender Arzt präsentiert worden sei
und hierdurch eine unzulässige Anprangerung und Stigmatisierung des Klägers bewirkt werde, begegnet zwar keinen grundsätzlichen
verfassungsrechtlichen Bedenken (vgl. BVerfGE 97, 391 ; BVerfGK 8, 107 ; BVerfG, Beschluss der 1. Kammer des
Ersten Senats vom 18. Februar 2010 – 1 BvR 2477/08 -, www.bverfg.de). Jedoch darf bei der Würdigung einer möglichen Prangerwirkung
nicht aus dem Blick geraten, dass die Wahl einer personalisierten Darstellungsweise und der hiermit regelmäßig verbundenen
Wirkungssteigerung gerade Teil der grundrechtlich geschützten Meinungsfreiheit des Äußernden ist. Es bleibt daher im Rahmen
der Abwägung zu berücksichtigen, welches Gewicht den durch die Anprangerung ausgelösten Rechtsbeeinträchtigungen im Verhältnis
zu der Einbuße an Meinungsfreiheit zukommt, die ein Verbot der personalisierten Darstellungsweise mit sich bringen würde (vgl.
BVerfGK 8, 107 ).

22
Eine nach diesem Maßstab ausreichend schwere Beeinträchtigung der grundrechtlich geschützten Interessen des Klägers durch
die streitgegenständliche Äußerung zeigen die angegriffenen Entscheidungen indes nicht auf und begründen daher nicht tragfähig,
dass dieser sie trotz ihrer unstreitigen Wahrheit ausnahmsweise nicht hinnehmen müsste. Namentlich lassen sie nicht erkennen,
dass dem Kläger ein umfassender Verlust an sozialer Achtung drohe, wenn seine Bereitschaft zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen
zum Gegenstand einer öffentlichen Erörterung gemacht wird. Hiergegen spricht, dass dem Kläger nach dem festgestellten Sachverhalt
nicht etwa eine strafrechtlich relevante oder auch nur überhaupt gesetzlich verbotene, sondern lediglich eine aus Sicht des
Beschwerdeführers moralisch verwerfliche Tätigkeit vorgehalten wurde, auf die zudem der Kläger selbst ebenfalls öffentlich
hinwies. Darüber hinaus haben die Gerichte auch nicht hinreichend gewürdigt, dass der Beschwerdeführer mit dem Thema der Schwangerschaftsabbrüche
einen Gegenstand von wesentlichem öffentlichem Interesse angesprochen hat, was das Gewicht seines in die Abwägung einzustellenden
Äußerungsinteresses vergrößert.

23
Soweit die Gerichte daneben auf die Auswirkungen verwiesen haben, die die streitgegenständlichen Äußerungen auf das Arzt-Patienten-Verhältnis
entfalten, erscheint auch dies im vorliegenden Fall verfassungsrechtlich nicht haltbar. Allerdings ist die Erwägung, dass
die Patientinnen, deren Weg in die Arztpraxis am Standort des Beschwerdeführers vorbeiführt, sich durch dessen Aktionen gleichsam
einem Spießrutenlauf ausgesetzt sehen könnten, ein gewichtiger Gesichtspunkt. Vor dem Hintergrund, dass Art. 5 Abs. 1 GG zwar
das Äußern von Meinungen schützt, nicht aber Tätigkeiten, mit denen anderen eine Meinung – mit nötigenden Mitteln – aufgedrängt
werden soll (vgl. BVerfGE 25, 256 ), erscheint es nicht ausgeschlossen, auf diesen Gesichtspunkt und die damit verbundene
Einmischung in die rechtlich besonders geschützte Vertrauensbeziehung zwischen Arzt und Patientin im Einzelfall ein verfassungsrechtlich
tragfähiges Verbot von bestimmten Formen von Protestaktionen zu stützen. Die angegriffenen Entscheidungen genügen den diesbezüglichen
Anforderungen jedoch nicht. Denn zum einen sind die Feststellungen der angegriffenen Entscheidungen so knapp, dass undeutlich
bleibt, ob und inwieweit die Aktionen “vor” der Praxis des hiesigen Klägers überhaupt zu derartigen Belästigungen von Patientinnen
geführt haben oder hierzu auch nur geeignet waren. Außerdem geht der – vom Berufungsgericht bestätigte – Tenor des landgerichtlichen
Urteils deutlich über das durch diesen Aspekt noch zu rechtfertigende Maß hinaus. Auf mögliche das Grundrecht des Klägers
aus Art. 12 Abs. 1 GG betreffende Belästigungen von Patientinnen lässt sich weder ein Verbot stützen, in einem Umkreis von
einem Kilometer Luftlinie von der Praxis des Klägers – ohne Rücksicht darauf, ob es sich um einen Standort handelt, den Patientinnen
des Klägers auf dem Weg zur Praxis passieren müssen oder nicht – auf die dort durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche hinzuweisen
noch gar dies in sonstiger Weise öffentlich zu tun. Es erscheint fernliegend, in einem etwa im Internet veröffentlichten Hinweis
auf die Praxis des Klägers eine rechtserhebliche Störung dessen Verhältnisses zu seinen Patientinnen zu sehen. Denn nicht
nur weist der Kläger selbst nach den Feststellungen der Gerichte auf das auch Schwangerschaftsabbrüche umfassende Leistungsangebot
seiner Praxis hin, sondern es ist der angenommenen Störung der Vertrauensbeziehung geradezu vorausgesetzt, dass die Patientinnen,
die einen Schwangerschaftsabbruch erwägen, Kenntnis davon haben, dass ihr Arzt derartige Eingriffe vornimmt. Hinzu kommt,
dass nicht einmal ansatzweise erkennbar ist, warum zu befürchten sein sollte, dass eine solche Patientin der Website des Beschwerdeführers
ansichtig werden könnte. Der bloße Wunsch des Klägers, von der Belästigung freigehalten zu werden, öffentlich mit der eigenen
freien Entscheidung für die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen konfrontiert und hierfür auch kritisiert zu werden,
verdient angesichts des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 1 GG aber keine Anerkennung.

24
c) Die angegriffenen Entscheidungen beruhen auch auf den aufgezeigten verfassungsrechtlichen Fehlern. Es ist nicht auszuschließen,
dass die Gerichte bei erneuter Befassung unter angemessener Berücksichtigung der erfolgten Grundrechtsbeeinträchtigung zu
einer anderen Entscheidung in der Sache kommen werden.

25
3. Die Entscheidung über die Erstattung der notwendigen Auslagen des Beschwerdeführers folgt aus § 34a Abs. 2 BVerfGG.


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