Aktenzeichen M 10 S 16.30811
Leitsatz
Eine bösartige Tumorerkrankung mit einer Rezidivrate zwischen 10 und 50% begründet die konkrete Gefahr, dass sich der Gesundheitszustand des Erkrankten kurzfristig im Senegal wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern wird, zumal er dort keine adäquate Therapie in Anspruch nehmen kann. (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 18. April 2016 gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 5. April 2016 ausgesprochene Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Gründe
I.
Hinsichtlich des Sachverhalts nimmt das Gericht zunächst Bezug auf die Feststellungen des angefochtenen Bescheids des Bundesamts vom 5. April 2016, denen es folgt, § 77 Abs. 2 AsylG. Der Bescheid wurde am 11. April 2016 zugestellt.
Der Antragsteller hat am 18. April 2016 Klage zum Verwaltungsgericht München erhoben (Az. M 10 K 16.30810). Gleichzeitig wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheids des Bundesamts vom 5. April 2016 anzuordnen.
Zur Begründung wird ausgeführt, beim Antragsteller liege eine akute Erkrankung aufgrund eines Weichteilsarkoms vor. Er sei operiert worden, es bestehe aber weiterhin eine hohe Gefahr aufgrund Metastasenbildung. Eine erforderliche Nachbehandlung sei im Senegal nicht möglich. Hierzu wurden ärztliche Stellungnahmen der Fachärzte für Chirurgie Dr. … und Dr. … vom 14. April 2016 und der Strahlentherapie …, Prof. Dr. …, vom 26. April 2016 vorgelegt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichts- und die beigezogene Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der zulässig nach § 80 Abs. 5 der VwGO erhobene Antrag ist begründet.
1. Gemäß Art. 16a Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 GG wird die Vollziehung aufenthaltsbeendender Maßnahmen in den Fällen, in denen das Schutzbegehren als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist, durch das Gericht nur ausgesetzt, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Maßnahme bestehen. Im Anschluss an Art. 16a Abs. 4 Satz 2 GG bestimmt § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG, dass die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden darf, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten nicht angegeben worden sind, bleiben unberücksichtigt, es sei denn, sie sind gerichtsbekannt oder offenkundig (Art. 16a Abs. 4 Satz 2 GG, § 36 Abs. 4 Satz 2 AsylG). „Ernstliche Zweifel“ im Sinne des Art. 16a Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 1 GG liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 99).
Die Verwaltungsgerichte haben im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch zu prüfen, ob etwaige Verfahrensverstöße des Bundesamtes ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der behördlichen Entscheidung begründen (vgl. nur BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 135).
Müssen nach dem Tatbestand, auf den das Bundesamt seine negative Entscheidung über den Asylantrag und daran anknüpfend die Abschiebungsandrohung stützt, bestimmte Voraussetzungen „offensichtlich“ vorliegen (vgl. etwa § 30 Abs. 1 und Abs. 2 AsylG), hat das angerufene Verwaltungsgericht (ausschließlich) darüber zu befinden, ob gerade das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes ernstlichen Rechtmäßigkeitszweifeln unterliegt (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 93f.). Verlangt der Anknüpfungspunkt für die Abschiebungsandrohung hingegen keine Offensichtlichkeit, müssen die Voraussetzungen des Tatbestandes selbst ernstlich zweifelhaft sein, damit dem vorläufigen Rechtsschutzbegehren des Asylbewerbers entsprochen werden kann (vgl. nur Pietzsch in Beck´scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Kluth/Heusch, 9. Edition, Stand 1.11.2015, § 36 AsylG Rn. 40 m.w.N). Da dem Bundesamt bei seiner Entscheidung über die Offensichtlichkeit kein Einschätzungsspielraum und kein Ermessen zusteht, darf das Gericht die Begründung für die offensichtliche Unbegründetheit auswechseln (vgl. VG München, B. v. 29.8.2013 – M 24 S 13.30753 – juris Rn. 27).
Das Gericht hat im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes auch die Einschätzung des Bundesamtes, dass dem Antragsteller kein subsidiärer Schutzstatus nach § 4 AsylG zuzuerkennen ist und dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht bestehen, zum Gegenstand seiner Prüfung zu machen. Dies ist zwar der gesetzlichen Regelung in §§ 30, 36 AsylG nicht unmittelbar zu entnehmen, dafür sprechen jedoch § 34 Abs. 1 AsylG und Art. 103 Abs. 1 GG (vgl. BVerfG, B.v. 17.7.1996 – 2 BvR 1291/96 – juris Rn. 3).
2. Gemessen an diesen Maßstäben bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angegriffenen, an die Ausreisefrist von einer Woche (§ 36 Abs. 1 AsylG) anknüpfenden Abschiebungsandrohung.
Beim Antragsteller liegt möglicherweise aufgrund seiner Tumorerkrankung ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.
Eine Erkrankung kann einen Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nur begründen, wenn die erhebliche konkrete Gefahr besteht, dass sich die lebensbedrohliche oder schwerwiegende Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat wesentlich verschlechtert, § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG.
Für die Bestimmung der „Gefahr“ gilt der Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, d. h. die drohende Rechtsgutverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein (BVerwG, B.v. 2.11.1995 – 9 B 710/94 – DVBl 1996,108). Eine Gefahr ist dann „erheblich“, wenn eine Gesundheitsbeeinträchtigung von besonderer Intensität zu erwarten ist. Das wäre der Fall, wenn sich der Gesundheitszustand des Ausländers wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde. Eine wesentliche Verschlechterung ist nicht schon bei einer befürchteten ungünstigen Entwicklung des Gesundheitszustandes anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden. Außerdem muss die Gefahr konkret sein, was voraussetzt, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes alsbald nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Heimatland eintreten wird, weil er auf die dort unzureichende Möglichkeiten zur Behandlung seiner Leiden angewiesen wäre und anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG, U.v. 29.7.1999 – 9 C 2/99 – juris Rn. 8). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht auch dann, wenn im Heimatland des Ausländers die notwendige Behandlung oder Medikation seiner Erkrankung zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (vgl. etwa BVerwG, U.v. 29.10.2002 – 1 C 1/02 – juris Rn. 9).
Aus den vorgelegten Attesten und Unterlagen ergibt sich hier, dass bei dem Antragsteller eine akute Erkrankung aufgrund eines Weichteilsarkoms vorliegt. Die ärztlichen Berichte vom 14. und 26. April 2016 erläutern, dass beim Antragsteller ein Weichteilsarkom operativ entfernt wurde, zudem eine Bestrahlung und Chemotherapie erfolgte. Die Aggressivität des Tumors sei schwierig einzuschätzen, aber von einer Rezidivrate der Erkrankung zwischen 10 und 50% sei auszugehen. Der seltene und bösartige Tumor erfordere eine engmaschige Nachkontrolle. Aufgrund des jungen Alters des Patienten werde ein nichterkanntes und -behandeltes Rezidiv relativ rasch zur Ausbreitung im Körper mit Ausbildung von Lungenmetastasen und nachfolgendem Tod führen. Diese seltene Tumorform erfordere eine lebenslange onkologische Nachbetreuung. Bei einem frühzeitigen Erkennen eines Rezidivs sei durch eine erneute Therapie eine Ausheilung der Erkrankung möglich.
Diese Befunde reichen zunächst bei summarischer Prüfung aus, ein Abschiebungshindernis anzunehmen. Es kann gerade nicht ausgeschlossen werden, dass sich der Gesundheitszustand des Antragstellers kurzfristig im Heimatland wesentlich oder sogar lebensbedrohlich verschlechtern würde, und er dort keine adäquate Therapie in Anspruch nehmen kann.
Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts im Hinblick auf die Einstufung der Republik Senegal als sicheres Herkunftsland vom 21. November 2015 (Ziff. IV.1.) ist dort das Gesundheitssystem trotz gut ausgebildeter Ärzte unzureichend. Patienten müssten Medikamente, Operationen und Krankenhausaufenthalte selbst finanzieren. Die Frage, ob und in welchem Umfang langwierige Behandlungen oder komplizierte Operationen durchgeführt werden könnten, müsse von Fall zu Fall beantwortet werden.
Damit ist nach Abwägung der individuellen Interessen des Antragstellers mit dem öffentlichen Interesse an seiner baldigen Ausreise wegen der nicht auszuschließenden hohen gesundheitlichen Gefährdung des Antragstellers die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers anzuordnen. Im Klageverfahren wird weiter aufzuklären sein, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustandes des Antragstellers eintreten kann und ob eine Behandlungsmöglichkeit im Senegal besteht.
Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).