Medizinrecht

Berücksichtigung kostenintensiver Fälle als Praxisbesonderheit

Aktenzeichen  S 38 KA 5022/17

Datum:
25.10.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB V SGB V § 106
SGB X SGB X § 35

 

Leitsatz

1. Kostenintensive Fälle sind aus sich heraus nicht automatisch wirtschaftlich oder unwirtschaftlich. (Rn. 20)
2. Die Berücksichtigung kostenintensiver Fälle als Praxisbesonderheit kommt nur bei einer signifikanten und außergewöhnlichen Abweichung in Betracht. Davon ist im Bereich der Zahnheilkunde bei einem Fallwert von über 400 – 500 € und mehr auszugehen. (Rn. 22)
3. Kostenintesive Fälle kommen auch in anderen Praxen vor. Deshalb ist es rechlich nicht zu beanstanden, wenn diese Fälle nicht voll berücksichtigt werden, sondern nur in dem Umfang, als die Anzahl der kostenintensiven Fälle in der Praxis über die Anzahl der kostenintensiven Fälle in der Vergleichsgruppe hinausgeht. (Rn. 25)

Tenor

I. Der Bescheid des Beklagten vom 16.01.2017 zur Quartalsabrechnung mit der darin ausgesprochenen Vergütungsberichtigung von 13% in Höhe von 13.346,43 Euro wird aufgehoben und der Beklagte wird verpflichtet, über den Widerspruch der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu verbescheiden.
II. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

Die zum Sozialgericht München eingelegte Klage ist zulässig und erweist sich auch als begründet.
Der angefochtene Bescheid des Beschwerdeausschusses ist als rechtswidrig anzusehen.
Rechtsgrundlage der Wirtschaftlichkeitsprüfung, hier der statistischen Durchschnittsprüfung ist § 106 SGB V i.V.m. § 16a der Prüfvereinbarung (PV). Der Beklagte hat festgestellt, dass der Fallwert bei der Klägerin, verglichen mit dem Fallwert der Vergleichsgruppe, außergewöhnlich hoch ist. Er liegt bei ca. 200 € pro Fall, während die Vergleichsgruppe einen Fallwert von ca. 100 € pro Fall aufweist. Auch liegt die klägerische Praxis, gemessen an der Vergleichsgruppe über deren durchschnittlicher Fallzahl. Sollten nicht entsprechende Praxisbesonderheiten bzw. kausal-kompensatorische Einsparungen anzuerkennen sein, wäre bei dieser Datenlage von einer Überschreitung des offensichtlichen Missverhältnisses und deshalb von einer unwirtschaftlichen Behandlungsweise auszugehen.
In Übereinstimmung mit der ständigen Rechtsprechung der Sozialgerichte hat der Beklagte zutreffend den von der Klägerseite angegebenen hohen Anteil der Patientengruppen aus den GUSStaaten und von Aussiedlern nicht als Praxisbesonderheit anerkannt. Denn bei Ausländern/Aussiedlern ist nicht generell ein erhöhter zahnmedizinischer Behandlungsbedarf gegeben (vgl. BSG, Urteil vom 10.5.2000, Aktenzeichen B 6 KA 25/99R).
Auffällig ist, wie auch der Beklagte festgestellt hat, dass in der klägerischen Praxis eine hohe Anzahl an kostenintensiven Fällen vorhanden ist. Dabei ist einzuräumen, dass auch in anderen Praxen derartige Fälle behandelt werden. Insofern sind kostenintensive Fälle auch im Landesdurchschnitt enthalten. Daraus folgt, dass kostenintensive Fälle in der klägerischen Praxis nicht voll als Praxisbesonderheit anzuerkennen sind. Abgesehen davon bedeutet das Vorhandensein solcher Fälle nicht automatisch, dass eine Praxisbesonderheit vorliegt und die Behandlungsweise als wirtschaftlich anzusehen ist.
Der Beklagte hat im 35 Fälle mit einem Fallwert von mehr als 600 € (im Schnitt: 880 €) überprüft. Dies entspricht 5,5% aller Fälle, die im in der Praxis behandelt worden.
Bei welcher Punktzahl bzw. bei welchem Fallwert der kostenintensive Fall anfängt, ist eine Frage der Auslegung. Tatsache ist, dass der Fallwert im Durchschnitt der Fachgruppe der Zahnärzte bei 100 € pro Fall liegt. Daraus schließen zu wollen, jeden Fall über 100 € als schweren Fall anzusehen, wäre sicherlich überzogen. Vielmehr muss es sich um eine signifikante und außergewöhnliche Abweichung handeln. Auf jeden Fall ist ein Fallwert von über 400-500 € als kostenintensiver Fall zu definieren (vgl. kzvb TRANSPARENT 15 +16/2015).
Legt man die im Vorverfahren von der Klägerin eingereichten Listen zu Grunde, ist festzustellen, dass in der klägerischen Praxis allein
– 37 Fälle einen Fallwert von über 600 € (durchschnittlicher Fallwert: 880 €)
– 22 Fälle einen Fallwert von über 500 € -600 € und
– 34 Fälle einen Fallwert von über 400 €-500 € aufweisen.
Gemessen an der Fallzahl von 631 Fällen im entfallen 5,5% aller Fälle auf Fälle mit einem Fallwert von über 600 €, 10% auf Fälle mit einem Fallwert von über 500 € und 15% auf Fälle mit einem Fallwert von über 400 €. Im Vergleich dazu entfallen bei der Vergleichsgruppe der Zahnärzte 2,2% bis 3,5% auf Fälle mit einem Fallwert von 400 € und mehr, 1,18% bis 1,94% auf einen Fallwert von 500 € und mehr (Zahlen aus dem Jahr 2013 in kzvb TRANSPARENT 15 + 16/2015). Dies bedeutet, die klägerische Praxis hat jeweils ca. das fünffache der kostenintensiven Fälle der Vergleichsgruppe, unabhängig davon, bei welcher Höhe des Fallwertes der schwere Fall festgemacht wird. Die klägerische Praxis hat nicht nur zahlenmäßig deutlich mehr schwere Fälle als die Vergleichsgruppe, sondern auch viele Fälle mit hohen Fallwerten.
Aufgrund dieser Datenlage erscheint es angemessen, nicht nur Fälle ab einem Fallwert von 600 €, sondern bereits ab einem Fallwert von 500 € in die Prüfung einzubeziehen. Wenn im Hinblick darauf Abzüge gemacht werden, dass auch in anderen Praxen schwere Fälle vorhanden sind, ist dies grundsätzlich rechtlich nicht zu beanstanden. Nicht nachvollziehbar ist allerdings, warum der Beklagte lediglich 60% als Praxisbesonderheit anerkennt. Es handelt sich um eine pauschale Berechnungsweise, deren Rechenschritte grds. nachvollziehbar sind. Es bleibt aber offen, wie der Beklagte zu diesem prozentualen Abzug gelangt. Nachdem kostenintensive Fälle auch in anderen Praxen vorkommen, jedoch im Vergleich zur klägerischen Praxis wesentlich weniger (1/4 – 1/5) erschiene ein Abzug von maximal 25% und nicht von 40% für nachvollziehbar und rechtlich vertretbar. Insofern liegt in diesem Punkt ein Begründungsdefizit vor und damit ein Verstoß gegen § 35 SGB X.
Weitere Abzüge sind nicht auszuschließen, insbesondere dann nicht, wenn die Überprüfung der Fälle ab 500 € pro Fall ergibt, dass der hohe Behandlungsaufwand zum Teil nicht wirtschaftlich ist. Der Beklagte ist allerdings rechtlich nicht gehalten, in einem zu erlassenden Verwaltungsakt die Unwirtschaftlichkeit in jedem überprüften Fall darzustellen. Denn es handelt sich um eine statistische Durchschnittsprüfung und nicht um eine Einzelfallprüfung. Es ist als ausreichend anzusehen, wenn hier exemplarisch anhand 5% der geprüften Fälle, mindestens jedoch bei drei Fällen eine Unwirtschaftlichkeit aufgezeigt würde. Die exemplarische Prüfung von Einzelfällen darf nicht verwechselt werden mit der Durchschnittsprüfung mit ergänzender Einzelfallbetrachtung. Hier wird die Einbeziehung von mindestens 20% der Fallzahl, mindestens jedoch von 100 Fällen gefordert. Diese Prüfmethode gelangt jedoch nur dann zur Anwendung, wenn die Überschreitung in der Übergangszone liegt, was hier eindeutig nicht der Fall ist (vgl. BSG, Urteil vom 9.6.1982, Az 6 RKa 1/81). Welcher zusätzliche Abzug gerechtfertigt ist, bleibt der Prüfung durch den Beklagten vorbehalten.
Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass sog. Leistungsketten (Aneinanderreihung von prinzipiell gleichen Abrechnungsziffern in einer Vielzahl von Fällen), die der Beklagte für die Unwirtschaftlichkeit anführt (Leistungsketten: Bema-Nrn. 01 (alt. Ä1), 8, 10, 105, (alt. 106) und ggf. 107; Leistungsketten bei Zahnersatz: Bema-Nrn. 12 und 49 oder 50; endodontische Leistungen grundsätzlich mit Injektionen), nicht per se unwirtschaftlich sind. Die erstgenannte Leistungskette kann durchaus im Zusammenhang mit der richtlinienkonformen Vorbehandlung bei PARBehandlungen stehen. Auch damit hat sich der Beklagte nicht intellektuell auseinandergesetzt, weshalb hier ebenfalls von einem Begründungsdefizit (§ 35 SGB X) auszugehen ist. Dies wird nachzuholen und entsprechend zu begründen sein. Desweiteren können die Ansätze der Bema-Nrn. 1 und Ä1 rechtlich nicht beanstandet werden, zumal es sich um sogenannte Eingangsleistungen handelt.
Was die Patientenverteilung betrifft, die von der der Vergleichsgruppe erheblich abweicht (Mitglieder vergleichsweise überrepräsentiert (+55,8%), während Familienversicherte und Rentner (-48% bzw. – 72,7%) unterrepräsentiert sind), kann hieraus nicht auf eine Praxisbesonderheit geschlossen werden. Im Gegenteil! Üblicherweise spricht ein hoher Rentneranteil, der bei der klägerischen Praxis relativ gering ist, für einen höheren Behandlungsbedarf.
Für kompensatorische Einsparungen gibt es keinerlei Anhaltspunkte, wovon auch der Beklagte zutreffend ausgegangen ist.
Der Beklagte hat der klägerischen Praxis eine Restüberschreitung von ca. 50% belassen und diesen Prozentsatz offensichtlich als Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis festgelegt. Bei der nochmaligen Überprüfung unter Zugrundelegung der Rechtsauffassung des Gerichts wird nach wie vor von dieser Grenze auszugehen sein. Eine niedrigere Grenze, beispielsweise bei 40% wäre allein deshalb nicht vertretbar, weil in der klägerischen Praxis noch relativ viele kostenintensive Fälle unter 500 € Fallwert vorhanden sind, die bei der vom Gericht vorgegebenen erneuten Prüfung als Praxisbesonderheiten nicht erfasst werden.
Aus den genannten Gründen war zu entscheiden, wie geschehen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 VwGO.


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