Medizinrecht

Kompensationsmöglichkeiten bei ermittelten Leistungsmängeln im Fahrerlaubnisverfahren

Aktenzeichen  M 26 S 16.5721

Datum:
31.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG StVG § 2 Abs. 4 S. 1 Alt. 2, § 3 Abs. 1 S. 1
VwGO VwGO § 80 Abs. 5
FeV FeV § 46 Abs. 1 S. 1
BayVwVfG BayVwVfG Art. 24 Abs. 1

 

Leitsatz

1 Die Frage, ob die Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen unter dem erforderlichen Maß liegt, erfordert neben einer ärztlichen Untersuchung auch eine psychologische Bewertung, da psychologische Testverfahren durchzuführen und gegebenenfalls auch Kompensationsmöglichkeiten zu prüfen sind. (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Folgefrage nach Kompensationsmöglichkeiten im Anschluss an im Wege psychologischer Testverfahren ermittelter Leistungsmängel unterliegt einer psychologischen Beurteilung. Ein ärztliches Gutachten ist für die Beantwortung solcher Fragen nicht geeignet. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der gegen den Bescheid vom 1. Dezember 2016 erhobenen Klage wird hinsichtlich der Nummern 1 und 2 des Bescheides wiederhergestellt.
II. Der Antragsgegner hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 8.750 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der im Jahre 19… geborene Antragsteller wendet sich gegen die für sofort vollziehbar erklärte Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A, B, BE, C1, C1E und T (einschließlich Unterklassen) sowie gegen die Rückgabeverpflichtung hinsichtlich seines Führerscheins.
Aufgrund diverser Vorfälle ordnete die Fahrerlaubnisbehörde des Landratsamts R. (im Folgenden Fahrerlaubnisbehörde) mit Schreiben vom … August 2016 die Beibringung eines ärztlichen Gutachtens über die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen an. Dieser Anordnung kam der Antragsteller nach und ließ ein von einem Arzt für Neurologie, Psychiatrie und Verkehrsmedizin erstelltes Gutachten vom … Oktober 2016 vorlegen. Danach habe die psychometrische Testung folgende jeweils mit Prozenträngen bewertete Ergebnisse erbracht: Reaktionstest 0, Konzentrationsleistung 2, Orientierungsleistung 1, Belastbarkeit 1, Aufmerksamkeitsleistung 7. Zusammenfassend kommt das Gutachten zu dem Ergebnis, dass der Antragsteller auch unter Auflagen bzw. Beschränkungen der Fahrerlaubnis ein Kraftfahrzeug nicht mit der geforderten Sicherheit führen könnte. Das kognitive Leistungsvermögen sei in den verkehrsrelevanten Fähigkeiten so weit gemindert, dass es den Antragsteller nicht zum sicheren Führen von Kraftfahrzeugen befähige. Zudem habe der Antragsteller den Gutachter aufgrund der Untersuchungsergebnisse nicht davon überzeugen können, dass die Kompensationsmöglichkeiten ausreichend wären.
Nach vorheriger Anhörung vom … April 2016 entzog die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller mit Bescheid vom 1. Dezember 2016 die Fahrerlaubnis aller Klassen (Nr. 1 des Bescheides) und forderte ihn auf, den Führerschein abzuliefern (Nr. 2 des Bescheides). Die Fahrerlaubnisbehörde ordnete jeweils die sofortige Vollziehung an (Nr. 4 des Bescheides).
Zur Begründung der Fahrerlaubnisentziehung verweist die Fahrerlaubnisbehörde ausschließlich auf die sich nach der psychometrischen Testung ergebenden Leistungsdefizite und die vom Gutachter als nicht ausreichend erachtete Kompensationsmöglichkeit.
In der Folge gab der Antragsteller seinen Führerschein bei der Fahrerlaubnisbehörde ab.
Der Antragsteller hat durch seine Bevollmächtigten am … Dezember 2016 Klage gegen den Bescheid vom 1. Dezember 2016 erhoben und gleichzeitig im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beantragt,
die aufschiebende Wirkung der erhobenen Klage hinsichtlich der Nummern 1 und 2 des Bescheides wiederherzustellen.
Die Antragsgegnerin verteidigt den angegriffenen Bescheid und beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Wegen des weiteren Sachverhalts und zum Vorbringen der Beteiligten im Einzelnen wird auf die Gerichts- und Behördenakte Bezug genommen.
II.
Die jeweils nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Var. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) gestellten Anträge auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der am
… Dezember 2016 gegen den Bescheid der Fahrerlaubnisbehörde vom 1. Dezember 2016 erhobenen Klage haben Erfolg. Die Anträge sind zulässig und begründet.
1. Nach der im Eilverfahren gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung hat die in der Hauptsache erhobene Klage Aussicht auf Erfolg, da der angefochtene Bescheid voraussichtlich rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die anzustellende Interessenabwägung fällt folglich zugunsten des Antragstellers aus, da kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung eines voraussichtlich rechtswidrigen Bescheides bestehen kann.
Maßgeblich für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der angegriffenen Fahrerlaubnisentziehung (1.1.) und Rückgabeverpflichtung (1.2.) ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, hier also der Zeitpunkt der Zustellung des Bescheides.
1.1. Erweist sich jemand als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, so hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Fahrerlaubnisverordnung (FeV) zu entziehen. Insofern muss die Fahrungeeignetheit nachgewiesen sein.
Mit dem der Entscheidung der Fahrerlaubnisbehörde ausschließlich zugrunde gelegten Gutachten wird dieser Nachweis voraussichtlich nicht gelingen. Dieses ist hinsichtlich der vom Gutachter festgestellten fehlenden Kompensationsmöglichkeiten nicht verwertbar und insofern nicht ausreichend, um eine fehlende Fahreignung festzustellen. Ohne jedoch die Frage nach bestehenden Kompensationsmöglichkeiten abschließend durch ein medizinisch-psychologisches Gutachten zu klären, ist die Fahrerlaubnisbehörde ihrer Amtsermittlungspflicht aus Art. 24 Abs. 1 des Bayerischen Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) nicht hinreichend nachgekommen.
Die von Seiten des Gutachters durchgeführte psychometrische Testung weist zwar in sämtlich untersuchten verkehrsrelevanten Bereichen erhebliche beim Antragsteller bestehende Leistungsdefizite auf. Die Frage danach, ob die Leistungsfähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen derart beeinträchtigt und dadurch unter dem erforderlichen Maß liegt, (vgl. Nr. 9.6.2. der Anlage 4 zur FeV), erfordert neben einer ärztlichen Untersuchung jedoch auch eine psychologische Bewertung, da psychologische Testverfahren durchzuführen und gegebenenfalls auch Kompensationsmöglichkeiten zu prüfen sind (vgl. BayVGH, B.v. 4.1.2017 – 11 ZB 16.2285 -, B.v. 22.3.2016 – 11 ZB 15.2700 -; VG München B.v. 25.5.2016 – M 26 S. 16.1225 – juris Rn. 21 f.). Darum erfolgt die Prüfung der psycho-physischen Leistungsfähigkeit nach Nr. 2.5. der Begutachtungsleitlinien für Kraftfahreignung regelmäßig im Rahmen einer medizinisch-psychologischen Begutachtung. Gerade die Folgefrage nach Kompensationsmöglichkeiten im Anschluss an im Wege psychologischer Testverfahren ermittelter Leistungsmängel unterliegt einer psychologischen Beurteilung, zumal im Hinblick auf die zu erwägende Verhaltensanpassung auch vorausschauende Elemente zu berücksichtigen sind. Ein ärztliches Gutachten ist für die Beantwortung solcher Fragen nicht geeignet (BayVGH, B.v. 22.3.2016 – 11 ZB 15.2700; VG München, B.v. 25.5.2016 – M 26 S. 16.1225 – juris Rn. 21).
Nachdem der Gutachter jedoch keine psychologische Qualifikation nach Anlage 14 der FeV Abs. 2 Nr. 1 lit. b aufweist, durfte er vorliegend Feststellungen, welche einer psychologischen Bewertung folgen, nicht treffen. Es hätte vielmehr einer medizinisch-psychologischen Begutachtung bedurft.
Ergänzend führt das Gericht aus: Soweit der Gutachter ein leichtgradiges organisches Psychosyndrom diagnostiziert, lässt das Gutachten nicht erkennen, inwiefern hierdurch die Fähigkeit zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 und 2 ausgeschlossen sein soll. Nach Nr. 7.2.1. der Anlage 4 zur FeV kann selbst bei einer leichten Erscheinungsform einer solchen Krankheit die Fahreignung ausgeschlossen sein. Dies hängt im Rahmen der Gruppe 1 jedoch maßgeblich von der Art und Schwere dieser psychischen Störung ab, wohingegen hinsichtlich der Gruppe 2 nur ausnahmsweise die Fahreignung gegeben ist. Nachdem sich das Gutachten jedoch nicht substantiiert hinsichtlich der vorgenannten Erkrankung mit der Fahreignung des Antragstellers auseinandersetzt, reicht das Gutachten nicht aus, um eine fehlende Eignung anzunehmen.
2.2. Nachdem – wie unter 1. festgestellt – die Entziehung der Fahrerlaubnis voraussichtlich rechtswidrig war, ist ebenso hinreichend absehbar, dass der Antragsteller im Hauptsacheverfahren hinsichtlich der in Nummer 2 des Bescheides angeordneten Rückgabeverpflichtung obsiegen wird, § 47 Abs. 1 FeV.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes i.V.m. den Empfehlungen in Nrn. 1.5 Satz 1, 46.1, 46.3, 46.5 sowie 46.9 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.


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