Medizinrecht

Nachteilsausgleich bei ADHS-Erkrankung

Aktenzeichen  W 2 K 16.284

Datum:
29.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 147800
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 3 Abs. 1, Art. 12
ASPO 2007 § 8 Abs. 7, § 26 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Eine ADHS-Erkrankung rechtfertigt als nicht ausgleichsfähiges Dauerleiden keinen Nachteilsausgleich und stellt daher keinen „wichtigen Grund“ iSd § 8 Abs. 7 ASPO 2007 dar. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei Beeinträchtigungen, die nicht die geprüfte Befähigung selbst betreffen, sondern lediglich den Nachweis der vorhandenen Befähigung erschweren und die in der Prüfung sowie in einem angestrebten Beruf durch Hilfsmittel ausgeglichen werden können, gebieten der in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz der Chancengleichheit und das Grundrecht auf freie Berufswahl nach Art. 12 GG es, dem Betroffenen durch Einräumung besonderer Prüfungsbedingungen zu ermöglichen, sein wahres Leistungsvermögen unter Beweis zu stellen. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
3. Im Wege des Nachteilsausgleichs nicht ausgleichsfähig sind Dauerleiden, die als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften die geistige Leistungsfähigkeit des Prüflings dauerhaft prägen; ihre Folgen bestimmen im Gegensatz zu sonstigen krankheitsbedingten Leistungsminderungen das normale und reguläre Leistungsbild des Prüflings.  (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
4. Der in Art. 3 GG verankerte Grundsatz der Chancengleichheit aller Prüflinge verbietet es, durch Dauerleiden bedingte Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit durch Einräumung von Prüfungserleichterungen auszugleichen. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 21. Oktober 2014 in Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 5. Februar 2016 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Gewährung eines (weiteren) Verlängerungssemesters, § 113 Abs. 5 VwGO.
1. Der Kläger kann die Gewährung eines Nachteilsausgleichs in Form einer (weiteren) Studienzeitverlängerung um ein Semester aufgrund seiner Erkrankung an ADHS nicht aus § 8 Abs. 7 ASPO 2007 beanspruchen.
Eine ADHS-Erkrankung rechtfertigt als nicht ausgleichsfähiges Dauerleiden keinen Nachteilsausgleich und stellt daher keinen „wichtigen Grund“ i.S.d. Vorschrift dar.
Bei der Frage, ob einem Prüfling aufgrund einer Behinderung oder dauerhaften Erkrankung ein Nachteilsausgleich zu gewähren ist, ist zu differenzieren zwischen der Beeinträchtigung, eine vorhandene geistige Leistungsfähigkeit nachzuweisen, d.h. technisch umsetzen zu können, und der Beeinträchtigung der geistigen Leistungsfähigkeit selbst.
Ein Anspruch auf Nachteilsausgleich kommt nur im ersten Fall in Betracht. Bei Beeinträchtigungen, die nicht die geprüfte Befähigung selbst betreffen, sondern lediglich den Nachweis der vorhandenen Befähigung erschweren und die in der Prüfung sowie in einem angestrebten Beruf durch Hilfsmittel ausgeglichen werden können, gebieten der in Art. 3 Abs. 1 GG verankerte Grundsatz der Chancengleichheit und das Grundrecht auf freie Berufswahl nach Art. 12 GG es, dem Betroffenen durch Einräumung besonderer Prüfungsbedingungen zu ermöglichen, sein wahres Leistungsvermögen unter Beweis zu stellen (vgl. Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 6. Auflage 2014, Rn. 259).
Nicht ausgleichsfähig sind dagegen nach ständiger höchst- und obergerichtlicher Rechtsprechung Dauerleiden, die als persönlichkeitsbedingte Eigenschaften die geistige Leistungsfähigkeit des Prüflings dauerhaft prägen (BVerwG, B.v. 13.12.1985 – 7 B 210.85 – juris; VGH München, B.v. 28.1.2011 – 7 ZB 10.2236 – juris; VGH Mannheim, B.v. 29.4.2016 – 9 S 582/16 – juris; OVG Thüringen, B.v. 17.5.2010 – 1 EO 854/10 – juris; OVG Schleswig-Hollstein, U.v. 19.8.2002 – 3 M 41/02 – juris). Ihre Folgen bestimmen im Gegensatz zu sonstigen krankheitsbedingten Leistungsminderungen das normale und reguläre Leistungsbild des Prüflings. Schlägt sich eine durch ein Dauerleiden bedingte generelle Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit im Prüfungsergebnis negativ nieder, so wird der Aussagewert des Ergebnisses nicht verfälscht, sondern der Sache nach bekräftigt. Die dauerhafte krankheitsbedingte Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit ist dann Mitbestandteil des durch die Prüfung zu belegenden Leistungsbildes. Denn sie ist für Art und Umfang der Befähigung des Prüflings und damit letztlich auch für seine Eignung zu dem Beruf, die in der Prüfung festgestellt werden soll, von Bedeutung. Der in Art. 3 GG verankerte Grundsatz der Chancengleichheit aller Prüflinge verbietet es daher, durch Dauerleiden bedingte Einschränkungen der geistigen Leistungsfähigkeit durch Einräumung von Prüfungserleichterungen auszugleichen.
Vor diesem Hintergrund kann dem Kläger aufgrund seiner ADHS-Erkrankung kein Nachteilsausgleich gewährt werden. ADHS im Erwachsenenalter stellt ein nicht ausgleichsfähiges Dauerleiden dar (VG Freiburg, B.v. 30.8.2007 – 2 K 1667/07 – juris; VG Arnsberg, B.v. 19.9.2014 – 9 L 899/14 – juris; VG Berlin, U.v. 20.9.2017 – 12 K 488.169). Wie der Kläger vorträgt, führt die Erkrankung dazu, dass er bereits bei normalen Alltagsanforderungen ein Gefühl der Überlastung und Überforderung empfindet und seine Fähigkeit zu Konzentration, Selbstorganisation und -motivation sowie sein Durchhaltevermögen stark einschränkt ist. Die Krankheit erschwert ihm damit nicht nur die Darstellung einer im Kopf erarbeiteten Prüfungsleistung, sondern beeinträchtigt ihn infolge der geringeren Konzentrationsfähigkeit, erhöhten Ablenkbarkeit und Schwierigkeiten bei der Informationsverarbeitung bei der gedanklichen Erarbeitung der Aufgabenlösung selbst. Sie prägt damit dauerhaft die geistige Leistungsfähigkeit des Klägers und bestimmt dessen normales Leistungsbild. Die Schwierigkeiten, die der Kläger infolge seiner Erkrankung gerade unter zeitlichem Druck bei der Ordnung und Fokussierung seiner Gedanken, der Filterung der Informationen und der Konzentration auf die relevante Aufgabenstellung hat, lassen sich auch nicht durch Hilfsmittel kompensieren und werden sich voraussichtlich im späteren beruflichen Alltag nicht wesentlich anders als im Rahmen des Studiums niederschlagen.
2. Das Klagebegehren lässt sich auch nicht auf § 26 Abs. 2 ASPO 2007 stützen. Danach ist, wer wegen länger andauernder Krankheit oder wegen länger andauernder oder ständiger Behinderung nicht in der Lage ist, die erwarteten Studien- und Prüfungsleistungen zu erbringen, berechtigt, diese Leistungen nach der in § 8 Abs. 2 Satz 3 ASPO 2007 dafür vorgesehen Frist abzulegen.
Die Anwendung dieser Vorschrift hat sich ebenfalls am Grundrecht der Berufsfreiheit der Prüflinge nach Art. 12 GG und an dem das Prüfungsrecht beherrschenden Grundsatz der Chancengleichheit aller Prüflinge zu orientieren und ist daher verfassungskonform so auszulegen, dass ein Anspruch auf Fristverlängerung nur besteht, soweit dies zur Herstellung der Chancengleichheit notwendig ist, was bei ADHS – wie ausgeführt – nicht der Fall ist.
Im Übrigen scheitert die Anwendung der Norm wohl bereits daran, dass es sich bei ADHS um keine „länger andauernde Krankheit“, sondern um ein dauerhaftes Leiden handelt. Zudem setzt die Norm nach ihrem Sinn und Zweck voraus, dass der Erkrankte die betreffenden Prüfungsleistungen nicht bereits innerhalb der vorgegebenen Fristen (erfolglos) abgelegt hat, sondern vor Prüfungsbeginn einen Antrag auf Fristverlängerung gestellt hat. Denn es widerspräche dem Grundsatz der Chancengleichheit, einem Prüfling der sich der Prüfung in der Hoffnung stellt, trotz seiner für ihn erkennbar fehlenden oder erheblich eingeschränkten Prüfungsfähigkeit zu bestehen, im Falle des Misslingens einen zusätzlichen Prüfungsversuch zu gewähren (Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 6. Auflage 2014, Rn. 265).
3. Entgegen der Auffassung des Klägers begründen auch die Informationen der Beklagten in der Broschüre „Nachteilsausgleich – Informationen für Studierende mit Behinderung und chronischer Erkrankung“ (Stand Juli 2013)“ keinen Vertrauenstatbestand dahingehend, dass ihm aufgrund seiner Erkrankung an ADHS ein Nachteilsausgleich zu gewähren wäre.
In der Broschüre, die u.a. Informationen zur Umsetzung eines Nachteilsausgleichs, Beispiele möglicher Nachteilsausgleiche und Ausführungen zum Nachteilsausgleich bei psychischer Erkrankung beinhaltet, wird zwar nicht auf die für eine Nachteilsausgleichsgewährung entscheidende Differenzierung eingegangen, ob eine Beeinträchtigung die geistige Leistungsfähigkeit selbst oder nur deren Nachweis erschwert. Dies wäre zwar sinnvoll um Missverständnissen über den grundsätzlichen Anwendungsbereich eines Nachteilsausgleichs vorzubeugen. Jedoch werden in der Broschüre – worauf auf Seite 12 ausdrücklich hingewiesen wird – keinerlei allgemeinverbindliche Aussagen über bei einzelnen Erkrankungen zu gewährende Prüfungsmodifikationen getroffen. Auf Seite 6 wird zudem darauf hingewiesen, dass ein Nachteilsausgleich nach bereits erfolgter Absolvierung von Prüfungen ausgeschlossen ist. Ein Vertrauensschutz für die Gewährung einer Studienzeitverlängerung zugunsten des Klägers lässt sich aus den Angaben der Broschüre daher nicht ableiten.
4. Nach alledem kann der Kläger aufgrund seiner ADHS-Erkrankung kein (weiteres) Verlängerungssemester beanspruchen. Die ihm von der Beklagten bereits gewährte Studienzeitverlängerung um ein Semester mit Bescheid vom 21. November 2013 erweist sich mit Blick auf die Chancengleichheit zugunsten der konkurrierenden Mitprüflinge als nicht gerechtfertigte Erleichterung des Studiums und damit als rechtswidrige Bevorteilung des Klägers. Angesichts dessen ist es unerheblich, ob dieser „Nachteilsausgleich“ infolge einer Verunsicherung des Klägers durch das weitere Verhalten der Beklagten faktisch ins Leere gelaufen ist, wie der Kläger vorträgt. Ebenso unerheblich ist, dass die KIS in ihrer Stellungnahme zu dem Nachteilsausgleichsantrag eine Studienzeitverlängerung um zwei Semester empfohlen hat.
Die im angefochtenen Bescheid getroffene Feststellung des endgültigen Nichtbestehens der Bachelorprüfung ist damit zu Recht erfolgt. Der Bescheid ist materiell rechtmäßig; für eine formelle Rechtswidrigkeit sind keine Anhaltspunkte ersichtlich.
Die Klage war daher abzuweisen.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.

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