Medizinrecht

Versammlungsrecht, Gegendemonstration, Seitentransparente, Beschränkung von Musik

Aktenzeichen  M 13 S 21.4924

Datum:
17.9.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 27727
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 8 Abs. 1
BayVersG Art. 15 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 15. September 2021 gegen Nr. 5 und Nr. 6 letzter Satz des Bescheids der Antragsgegnerin vom 13. September 2021 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Der Streitwert wird auf 5.000 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt einstweiligen Rechtsschutz gegen Beschränkungen einer von ihm angezeigten Versammlung.
Der Antragsteller zeigte mit Schreiben vom … August 2021 bei der Antragsgegnerin an, am … September 2021 in der Zeit von 17:00 Uhr bis 21:00 Uhr eine sich fortbewegende Versammlung in R. mit Startpunkt in der M. Straße zu dem Thema „Keine Ruhe den Rechten – Gegen Rassismus, Sexismus, Homophobie, Antisemitismus – für Klimagerechtigkeit und die befreite Gesellschaft“ abhalten zu wollen.
Am … sowie … September 2021 fanden telefonische Kooperationsgespräche statt.
Mit Bescheid vom … September 2021 erließ die Antragsgegnerin hinsichtlich der angezeigten Versammlung unter II. insbesondere folgende Beschränkungen:
5. Den Teilnehmern der Versammlung wird untersagt, während der sich fortbewegenden Versammlung Banner und Schilder parallel zur Zugrichtung sowie Seile, Stricke oder ähnliches mitzuführen. Ausgenommen hiervon sind Seitentransparente, die eine Länge von drei Metern nicht überschreiten, nicht verknotet oder auf sonstige Weise verbunden sind und mit einem Mindestabstand von drei Metern zum nächsten Seitentransparent mitgeführt werden. Des Weiteren sind an Stangen befestigte, seitlich mitgeführte Fahnen und Transparente, sofern das untere Ende der Transparente oder Fahnen – auch bei einem Abstellen der Stangen auf dem Boden – in einer lichten Höhe von mindestens zwei Metern bleibt, ausgenommen.
6. [Beschränkungen hinsichtlich der Verwendung von Lautsprecheranlagen und einem Lautstärkehöchstwert von 85 dB(A)]
Zwischen den einzelnen Redebeiträgen darf maximal 5 Minuten Musik gespielt werden.
Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Beschränkung nach Nr. 5 verhindern solle, dass Seitentransparente und Fahnen als Sichtschutz gegenüber der Polizei verwendet würden. Weiterhin werde der Polizei sowie Sicherheits- und Rettungskräften das Eindringen in die Versammlung, z.B. zur Festnahme von Störern oder zur medizinischen Notfallversorgung, durch die Seitentransparente erheblich erschwert bzw. unmöglich gemacht. Hinsichtlich der Beschränkungen nach Nr. 6 enthielt der Bescheid keinerlei Ausführungen über die fünfminütige Höchstspieldauer.
Dagegen hat der Antragssteller durch Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom … September 2021, per Fax bei Gericht eingegangen am selben Tag, Klage zum Bayerischen Verwaltungsgericht München erheben lassen (M 13 K 21.4923).
Zur Begründung lässt er ausführen, dass für die Beschränkung in Nr. 5 hinsichtlich der Seitentransparente bloße Verdachtsmomente nicht für eine Gefahrenprognose ausreichen würden, die eine Beschränkung der Versammlungsfreiheit rechtfertigen könnte. Eine allgemeine Missbrauchsmöglichkeit von Seitentransparenten genüge nicht. Eine Gefahrenprognose konkret zur angezeigten Versammlung fehle vollständig. Hinsichtlich der Höchstspieldauer der Musik sei auch die Vermittlung des Versammlungsthemas in musikalischer Form vom Selbstbestimmungsrecht des Veranstalters erfasst. Eine eine Beschränkung rechtfertigende Gefahr beim Abspielen von Musik länger als 5 Minuten am Stück sei weder vorgetragen noch ersichtlich.
Der Antragsteller lässt mit der Klage beantragen, die Beschränkung in Nr. 5 vollständig, sowie die Beschränkung in Nr. 6 hinsichtlich der zeitmäßigen Begrenzung der Musikbeiträge aufzuheben.
Zusätzlich lässt er beantragen,
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung der Beschränkung nach Nr. 5 wird ausgeführt, dass diese eine Standardregelung für vergleichbare sich fortbewegende Versammlungen darstelle, wie sie regelmäßig auch von anderen Versammlungsbehörden verfügt werde. Ergänzend wird auf die Bescheidsbegründung verwiesen. Die Seitentransparente seien für die freie Meinungsäußerung nicht notwendig. Sie könnte auch durch die sonstigen – durch Nr. 5 teilweise zugelassenen – Kundgabemittel ausgeübt werden. Gerade in diesem Fall sei ein Missbrauch zu erwarten. Nach bisherigen Erfahrungen, wenn diese Beschränkung nicht verfügt worden sei, hätten sich Störer im Schutze der Transparente aufgehalten. Notwendige polizeiliche Maßnahmen seien dadurch verhindert bzw. erschwert worden. Im Vorfeld zu dieser Versammlung sei bei einem Telefonat mit dem Versammlungsleiter der Eindruck entstanden, dass die Teilnehmer durch Corona-Schutzmasken ihre Identität verschleiern wollen würden. Da die Versammlung eine Gegenveranstaltung zu einer AfD-Wahlkampfkundgebung sei, seien Störaktionen ausgehend von der Versammlung zu erwarten. Schon bei früheren AfD-Versammlungen oder -Infoständen sei es aus dem Teilnehmerkreis, dem der Antragsteller angehöre, mehrfach zu Störaktionen gekommen.
Die angegriffene Beschränkung unter Nr. 6 sei ebenfalls nötig um Störungen zu verhindern. Der Antragsteller gehöre der politisch linken Szene bzw. der Antifa-Bewegung in R. an. Diese habe AfD-Veranstaltungen bereits mehrfach durch Lärm und Musik gestört. Die bei der in nur ca. 15 Meter Entfernung ebenfalls rechtlich zulässigen AfD-Versammlung vorgesehenen Redebeiträge würden durch zu befürchtende übermäßige Musikbeiträge der gegenständlichen Gegenversammlung massiv gestört werden. Zudem sei eine Beschränkung der Musikdarbietungen wegen in der Nähe befindlicher Kliniken und Wohnungen, unter anderem mit Wohngruppen für Menschen mit Behinderung, zwingend erforderlich.
Mit Stellungnahme vom … September 2021 lässt der Antragsteller ausführen, dass es sich bei der Versammlung der AfD um eine stationäre Kundgebung handle. Dort finde eine ebenfalls stationäre Abschlusskundgebung [Anm.: der Versammlung des Antragstellers] statt. Die Darlegung einer Gefährdung durch die Transparente sowie der Nachweis einer Zugehörigkeit des Antragstellers zur gleichen Personengruppe sei unterlassen worden. Wodurch der Eindruck einer Nutzung der Corona-Schutzmasken zur Verhinderung der Identitätsfeststellung komme, sei unbekannt und lediglich ein subjektiver Eindruck. Eine rechtswidrige Praxis in der Vergangenheit sei keine Gefahrenprognose. Der Antragsteller käme aus B. und nicht aus R., die Zugehörigkeit zur „Antifa-Bewegung“ oder „linken Szene“ sei eine bloße Behauptung. Für die Grundrechtsverwirklichung reiche die Lautstärkebeschränkung völlig aus. Es erschließe sich nicht, warum die Musik auch während des Zuges begrenzt werden solle.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren und im Klageverfahren (M 13 K 21.4923) sowie auf die vorgelegte Behördenakte.
II.
Der nach § 80 Abs. 5 VwGO statthafte und auch sonst zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die angegriffenen Beschränkungen des Bescheids vom … September 2021 ist begründet und hat somit Erfolg. Denn der Bescheid ist im angegriffenen Umfang voraussichtlich rechtswidrig und verletzt den Antragssteller in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO)
1. Gem.§ 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage anordnen, wenn diese keine aufschiebende Wirkung hat. Dies ist gem. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO in Verbindung mit Art. 25 Bayerisches Versammlungsgesetz (BayVersG) bei einer Klage gegen Versammlungsbeschränkungen nach Art. 15 Abs. 1 BayVersG der Fall. Die Anordnung sofortiger Vollziehung des Bescheides in dessen Nr. III. ist insoweit überflüssig, gegenstandslos und hat höchstens deklaratorische Wirkung.
Im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO ist eine Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Vollzugsinteresse und dem privaten Suspensivinteresse des Antragsstellers am Eintritt der aufschiebenden Wirkung des Rechtsbehelfs vorzunehmen. Dabei prüft das Gericht nicht die Verwaltungsentscheidung, sondern trifft eine eigene, originäre Interessensabwägung, für die in erster Linie die Erfolgsaussichten in der Hauptsache maßgeblich sind. Im Falle einer demnach voraussichtlich aussichtslosen Klage besteht dabei kein überwiegendes Interesse an einer Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage. Wird dagegen der Rechtsbehelf in der Hauptsache voraussichtlich erfolgreich sein, so wird regelmäßig nur die Anordnung der aufschiebenden Wirkung in Betracht kommen. Bei offenen Erfolgsaussichten ist eine Interessensabwägung vorzunehmen, etwa nach den durch § 80 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO getroffenen Grundsatzregeln, nach der Gewichtung und Beeinträchtigungsintensität der betroffenen Rechtsgüter sowie der Reversibilität im Falle von Fehlentscheidungen (Gersdorf in BeckOK VwGO, Stand 1.7.2021, § 80 Rn. 187 f. und 190).
Dem Charakter des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO entspricht dabei grundsätzlich eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage (vgl. Gersdorf in BeckOK VwGO, Stand 1.7.2021, § 80 Rn. 176). Zum Schutz von Versammlungen ist jedoch schon im Eilverfahren durch eine intensivere Prüfung dem Umstand Rechnung zu tragen, dass der Sofortvollzug der umstrittenen Maßnahme in der Regel zur endgültigen Verhinderung der Versammlung in der beabsichtigten Form führt (BVerfG, B.v. 12.5.2010 – 1 BvR 2636/04 – juris Rn. 18 m.w.N.).
2. Art. 8 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) schützt die Freiheit, mit anderen Personen zum Zwecke einer gemeinschaftlichen, auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteten Erörterung oder Kundgebung örtlich zusammenzukommen (hierzu und zum Folgenden BVerfG, B.v. 30.8.2020 – 1 BvQ 94/20 – juris Rn. 14 m.w.N.). Als Freiheit zur kollektiven Meinungskundgabe ist die Versammlungsfreiheit für eine freiheitlich demokratische Staatsordnung konstituierend. In ihrer idealtypischen Ausformung sind Demonstrationen die gemeinsame körperliche Sichtbarmachung von Überzeugungen, bei der die Teilnehmer in der Gemeinschaft mit anderen eine Vergewisserung dieser Überzeugungen erfahren und andererseits nach außen – schon durch die bloße Anwesenheit, die Art des Auftretens und die Wahl des Ortes – im eigentlichen Sinne des Wortes Stellung nehmen und ihren Standpunkt bezeugen. Damit die Bürger selbst entscheiden können, wann, wo und unter welchen Modalitäten sie ihr Anliegen am wirksamsten zur Geltung bringen können, gewährleistet Art. 8 Abs. 1 GG nicht nur die Freiheit, an einer öffentlichen Versammlung teilzunehmen oder ihr fern zu bleiben, sondern umfasst zugleich ein Selbstbestimmungsrecht über die Durchführung der Versammlung als Aufzug, die Auswahl des Ortes und die Bestimmung der sonstigen Modalitäten der Versammlung (stRspr, vgl. etwa BVerfG, B.v. 20.12.2012 – 1 BvR 2794/10 – juris Rn. 16). Unter die Modalität fällt auch die freie Wahl der Kundgebungsmittel und Kommunikationsweisen. Die Form der Meinungskundgabe ist grundsätzlich unerheblich, sodass auch Musik ein zulässiges Kundgebungsmittel für ein politisches Anliegen sein kann, wenn damit eine Meinungskundgabe erfolgt und sie nicht lediglich der Unterhaltung dient (Hettich, Versammlungsrecht in der Praxis, 2. Aufl. 2018, Rn. 8 ff.).
Nach Art. 8 Abs. 2 GG kann dieses Recht für Versammlungen unter freiem Himmel durch oder aufgrund eines Gesetzes eingeschränkt werden, wobei solche Beschränkungen im Lichte der grundlegenden Bedeutung des Versammlungsgrundrechts auszulegen sind. Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind daher nur zum Schutz gleichrangiger anderer Rechtsgüter und unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig (vgl. BVerfG, B.v. 21.11.2020 – 1 BvQ 135/20 – juris Rn. 6). Rechtsgüterkollisionen ist im Rahmen versammlungsrechtlicher Verfügungen durch Auflagen oder Modifikationen der Durchführung der Versammlung Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, B.v. 24.10.2001 − 1 BvR 1190/90 − BVerfGE 104, 92 – juris Rn. 54, 63).
Dem entsprechend kann die zuständige Behörde gem. Art. 15 Abs. 1 BayVersG eine Versammlung verbieten oder beschränken, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung unmittelbar gefährdet ist.
Die öffentliche Sicherheit umfasst dabei die Unverletzlichkeit und den Schutz zentraler Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen und Ehre des Einzelnen sowie die Unversehrtheit der Rechtsordnung und den Bestand der staatlichen Einrichtungen (BVerfG B. v. 14.5.1985 – 1 BvR 233/81, 1 BvR 341/81 – BVerfGE 69, 315).
Eine unmittelbare Gefahr im Sinne des Art. 15 Abs. 1 BayVersG setzt eine konkrete Sachlage voraus, die bei ungehindertem Geschehensablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Rechtsgüter führt. Es bedarf eines hinreichend bestimmten Kausalzusammenhangs zwischen der Rechtsgutsgefährdung und der Durchführung der Versammlung (BVerfG, B. v. 21.04.1998 – 1 BvR 2311/94 – juris Rn. 27).
Bei der Ermittlung des Vorliegens einer solchen Sachlage dürfen im Hinblick auf die Bedeutung der Versammlungsfreiheit keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose gestellt werden (vgl hierzu und zu Folgendem stRspr des BVerfG, z.B. B.v. 20.12.2012 – 1 BvR 2794/10 – juris Rn. 17; B. v. 12.5.2010 – 1 BvR 2636/04 – juris Rn. 17; B. v. 4.9.2009 – 1 BvR 2147/09 – juris Rn. 9; B.v. 19.12.2007 – 1 BvR 2793/04 – juris Rn. 20 jeweils mwN). Sie ist auf konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte zu stützen, die bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben. Bloße Verdachtsmomente und Vermutungen reichen für sich allein nicht aus. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für ein Verbot oder eine Auflage liegt grundsätzlich bei der Behörde.
Das gilt auch im Hinblick auf eine Untersagung des Mitführens von Seitentransparenten, Bannern und Schildern parallel zur Zugrichtung. Eine allgemeine Möglichkeit eines Missbrauchs zur Verhinderung der Identifizierung von Störern genügt nicht; vielmehr bedarf es nachvollziehbarer tatsächlicher Anhaltspunkte dafür, dass das Mitführen von Seitentransparenten die öffentliche Sicherheit und Ordnung unmittelbar gefährdet (BayVGH, B. v. 12.04.2013 – 10 CS 13.787 – Rn. 4, juris; B. v. 3.10.2014 – 10 CS 14.2156 – Rn. 5 juris jeweils mwN).
Auch die Versammlungsfreiheit Dritter stellt ein von der öffentlichen Sicherheit umfasstes Rechtsgut dar. Bei friedlichen, örtlich kollidierenden Versammlungen sind diese gleichwertig und ohne Ansehen einer „Ernsthaftigkeit“ oder „Gewichtigkeit“ zu behandeln. Die Versammlungen sind mit dem Ziel eines jeweils größtmöglichen Schutzes durch die strikt sachlich neutrale Anwendung des Grundsatzes der praktischen Konkordanz sowie des Prioritätsprinzips in Ausgleich zu bringen (BVerfG, B. v. 6.5.2005 – 1 BvR 961/05 – juris Rn. 24 f.).
Demnach obliegt es der Versammlungsbehörde, die Grundrechtsausübung einer Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG – grundsätzlich unabhängig von der politischen Richtung der Teilhabe an der kollektiven Meinungsbildung – möglichst vor Störungen und Ausschreitungen Dritter zu schützen (BVerfG, B. v. 10.52006 – 1 BvQ 14/06 – Rn. 9, juris). Es darf nicht hingenommen werden, dass eine friedliche Versammlung durch eine Gegendemonstration verhindert (BVerfG, aaO Rn. 10) oder unverhältnismäßig beschränkt wird. Insoweit müssen die von einer friedlichen Gegendemonstration zu erwartenden, eine andere Versammlung beeinträchtigende Auswirkungen – unter strenger Beachtung sowohl des Grundrechtsschutzes der Versammlung als auch der Gegenversammlung – durch verhältnismäßige Beschränkungen minimiert und muss dadurch beiden Versammlungen in unparteiischer Weise zu einer möglichst effektiven Verwirklichung ihres Anliegens an der Teilhabe der kollektiven Meinungsbildung verholfen werden.
3. Daran gemessen sind die angegriffenen Beschränkungen des Bescheides nach Art. 15 Abs. 1 BayVersG voraussichtlich rechtswidrig.
a. Für die Beschränkung nach Nr. 5 über die Untersagung von Seitentransparenten liegt nach summarischer Prüfung zur Überzeugung der Kammer keine den Anforderungen des Art. 15 Abs. 1 BayVersG genügende Gefahrenprognose vor.
Die Gefahrenprognose der Antragsgegnerin erschöpft sich in unkonkreten, nicht weiter belegten oder aufgeklärten Vermutungen, ohne diese Beschränkung bestünde generell eine Missbrauchsanfälligkeit. Weder zur Person des Antragstellers noch zur konkreten Versammlungssituation sind seitens der Antragsgegnerin individuelle Verdachtsmomente dargelegt worden, die Anhaltspunkte für eine Missbrauchswahrscheinlichkeit im Fall der gegenständlichen Versammlung schaffen könnten. Insbesondere findet sich in der Behördenakte keine personalisierte Stellungnahme der Polizei zum Antragsteller und zu genauen, früher festgestellten Verdachtsmomenten. Dadurch sind die von Art. 8 Abs. 1 GG gestellten Anforderungen an einen Nachweis einer konkreten Einzelfall-Gefahr nicht erfüllt.
Der – insoweit nach obigen Ausführungen nicht über allgemeine Vermutungen hinausgehenden – Verdacht aus dem Kooperationsgespräch, dass eine polizeiliche Identifikation der Teilnehmer mittels Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes oder anderer „Accessoires“ verhindert werden soll, weist überdies keinerlei unmittelbaren Zusammenhang zum Mitführen von Seitentransparenten auf. Ein für die Unmittelbarkeit der Gefahr erforderlicher Kausalzusammenhang zwischen Transparentmitführen und Identifikationsverhinderung besteht dann nicht, weil die Identifikation dann nicht durch ein Verdecken durch die Seitentransparente verhindert wird. Im Übrigen wird bzgl. der erwarteten Mund-Nasen-Bedeckungen auf die Empfehlung nach § 1 Satz 3 14. Bayerische Infektionsschutzmaßnahmenverordnung hingewiesen. Ein beabsichtigtes Tragen von Infektionsschutzmasken durch die Teilnehmer rein aus Erwägungen des zusätzlichen Selbst- oder Fremdschutzes wird gerichtlich keineswegs beanstandet.
Da schon demnach die Beschränkung voraussichtlich rechtswidrig ist, kann dahinstehen, ob die Ausnahme nach Nr. 5 Satz 3 im Hinblick auf die Beschränkung nach Nr. 4 den Anforderungen an die Bestimmtheit genügt und inwieweit eine Beschränkung der Länge von Haltestangen auf höchstens zwei Meter mit der Gewährung einer lichten Aufstellhöhe von mindestens zwei Metern in Einklang zu bringen ist.
b. Die Beschränkung in Nr. 6 letzter Satz über die Dauer der maximalen Musikeinspielzeit ist zur Überzeugung der Kammer voraussichtlich rechtswidrig, da sie im weiteren Sinne unverhältnismäßig ist. Denn sie ist zum beabsichtigten Schutz der Versammlungsfreiheit der AfD-Kundgebung in der konkreten Ausgestaltung nicht geeignet.
Ob es sich bei der AfD-Kundgebung tatsächlich um eine Versammlung im Sinne des Art. 8 Abs. 1 GG handelt, kann anhand der von der Antragsgegnerin vorgelegten Akten nicht überprüft werden und wird von den Beteiligten auch nicht in Abrede gestellt, sodass für die summarische Prüfung davon auszugehen ist.
Unterstellt einer für Art. 15 Abs. 1 BayVersG hinreichend dargelegten unmittelbaren Gefahr auf Tatbestandsseite genügt die Beschränkung der Musikeinspielzeit jedenfalls auf Rechtsfolgenseite in der konkreten Ausgestaltung nicht den Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit einer versammlungsrechtlichen Beschränkung. Die Anordnung, dass zwischen einzelnen Redebeiträgen maximal fünf Minuten am Stück Musik eingespielt werden darf, fördert nicht den legitimen Zweck, die Versammlungsfreiheit der AfD-Kundgebung zu einer verhältnismäßigen Geltung zu bringen. Denn die Zeitdauer zwischen den einzelnen Musikeinspielstücken ihrerseits ist zeitlich nicht bestimmt. Für die Kammer erschließt es sich auch nicht, inwieweit es für den kommunikativen Geltungsschutz der AfD-Kundgebung einen Unterschied machen soll, ob in 15 Metern Entfernung mit einer – unbeanstandeten – Lautstärkenbegrenzung von höchstens 85 dB(A) Musik abgespielt oder in Redebeiträgen gesprochen wird.
Die Beschränkung der Musikspieldauer stellt somit zur Überzeugung der Kammer einen voraussichtlich nicht durch die Versammlungsfreiheit der anderen Kundgebung gerechtfertigten Eingriff in das versammlungsrechtliche Selbstbestimmungsrecht des Antragstellers dar. Die Einordnung des in der Klage- und Antragsschrift bespielhaft aufgezeigten Liedes als reines Unterhaltungsmittel drängt sich nach dessen Inhalt weder auf, noch wird von der Antragsgegnerin solches geltend gemacht.
Ob die Beschränkung damit nur für den Zeitraum, in dem sich die sich fortbewegende Versammlung in der unmittelbaren Nähe der stationären AfD-Kundgebung befindet, sinnvoll ist, kann somit dahinstehen.
4. Für eine reine, isolierte Interessensabwägung ist aufgrund der klaren Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage nach summarischer Prüfung kein Raum.
5. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
6. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG. Da die Entscheidung die Hauptsache im Wesentlichen vorwegnimmt, besteht kein Anlass, den Streitwert gemäß Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit zu mindern.


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