Medizinrecht

Zur Anerkennung einer Berufskrankheit als Dienstunfall

Aktenzeichen  AN 1 K 17.00803

Datum:
21.11.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BeamtVG BeamtVG § 31 Abs. 3 S. 1
BayBeamtVG BayBeamtVG Art. 46 Abs. 3 S. 1

 

Leitsatz

1 Nach Art. 46 Abs. 3 S. 1 BayBeamtVG gilt auch die Erkrankung an einer in der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) genannten Krankheit als Dienstunfall, wenn der Beamte nach der Art seiner dienstlichen Verrichtung der Gefahr der Erkrankung an bestimmten Krankheiten besonders ausgesetzt war. Dabei genügt es, wenn die eintretende Gefährdung der konkreten dienstlichen Verrichtung ihrer Art nach eigentümlich ist, allerdings nur dann, wenn sich die Erkrankung als typische Folge des Dienstes darstellt. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
2 Das sogenannte Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) stellt aufgrund des gegenwärtigen Standes der Wissenschaft eine hinreichend bestimmte, wissenschaftlich gesicherte Grundlage für die Auslegung des Begriffs des „langjährigen Hebens oder Tragens schwerer Lasten“ in Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO dar. (Rn. 39 – 41) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die berufliche Tätigkeit des Klägers als Justizsicherheitsbeamter erfüllt selbst unter Berücksichtigung der von ihm geschilderten zusätzlichen „Hausmeisteraufgaben“ bei weitem nicht die nach dem MDD erforderliche Mindestbelastungsdauer von sieben Jahren. (Rn. 43 – 45) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
3. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet.
Der angefochtene Bescheid des Landesamts für Finanzen -Dienststelle … – Bezügestelle Dienstunfall – vom 22. März 2017 ist nicht rechtswidrig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Anerkennung der im Schreiben der Radiologin Dr. med. …, vom 21. Januar 2014 diagnostizierten Schäden (breitbasige Extrusion in Höhe L 2/3 mit leicht linksseitiger Betonung und Einengung der Neuroforamina beidseits; verstärkt durch Facettengelenksarthrosen mit Wassereinlagerung der Facettengelenke, ausgedehnte Facettengelenksarthrosen auch in Höhe L 4/5 mit Hypertrophie der Ligamente flava beidseits, rechts stärker links und dadurch bedingt dorsaler Einengung des Spinalkanals, weniger stark ausgeprägt in Höhe L 5/S1) als Berufserkrankung im Sinne des Art. 46 Abs. 3 BayBeamtVG.
Nach Art. 46 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG gilt als Dienstunfall auch die Erkrankung an einer in der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) vom 31. Oktober 1997 (BGBl I S. 2623) in der jeweils geltenden Fassung genannten Krankheit, wenn der Beamte nach der Art seiner dienstlichen Verrichtung der Gefahr der Erkrankung an bestimmten Krankheiten besonders ausgesetzt war, es sei denn, dass der Beamte sich diese Krankheit außerhalb des Dienstes zugezogen hat. Der Gefahr der Erkrankung ist ein Beamter besonders ausgesetzt, dessen konkrete dienstliche Tätigkeit ihrer Art nach erfahrungsgemäß eine hohe Wahrscheinlichkeit gerade dieser Erkrankung in sich birgt. Art. 46 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG setzt nicht voraus, dass die durch die Art der dienstlichen Verrichtung hervorgerufene Gefährdung generell den Dienstobliegenheiten anhaftet. Es genügt vielmehr, wenn die eintretende Gefährdung der konkreten dienstlichen Verrichtung ihrer Art nach eigentümlich ist, allerdings nur dann, wenn sich die Erkrankung als typische Folge des Dienstes darstellt. Maßgebend kommt es dabei darauf an, ob die von dem Beamten zum Zeitpunkt der Erkrankung ausgeübte dienstliche Tätigkeit erfahrungsgemäß eine hohe Wahrscheinlichkeit der Erkrankung gerade dieser Krankheit in sich birgt (st. Rspr. vgl. BVerwG, B v. 15.5.1996 – 2 B 106/95 – m.w.N.). Die besondere Gefährdung muss für die dienstliche Verrichtung typisch und in erheblich höherem Maße als bei der übrigen Bevölkerung vorhanden sein (OVG Münster, U.v. 24.5.2002 – 1 A 6168/96 –; OVG Koblenz, U.v. 16.2.1996 – 2 A 11573/95 -, NVwZ-RR 1997 S. 45; Schütz/Maiwald, Beamtenrecht des Bundes und der Länder, Kommentar, Stand Dezember 2004, § 31 BeamtVG Rn. 169).
Die Vorschrift des Art. 46 Abs. 3 BayBeamtVG entspricht der bis zum Inkrafttreten des Neuen Dienstrechts in Bayern (am 1.1.2011) anzuwendenden Regelung des § 31 Abs. 3 Satz 1 BeamtVG, so dass die zu dieser Rechtsnorm ergangene Rechtsprechung herangezogen werden kann (vgl. LTDrs. 16/3200, S. 482).
Nach der im Falle des Klägers allenfalls in Betracht kommenden Regelung in Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO zählen zu den Berufskrankheiten bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben und Tragen schwerer Lasten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können. Danach ist Voraussetzung, dass ein langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung (sog. arbeitstechnische Voraussetzungen) zu einer bandscheibenbedingten Erkrankung der Lendenwirbelsäule (Gesundheitsschaden) geführt haben, und ein Kausalzusammenhang zwischen der Tätigkeit und der Erkrankung besteht, sowie ein Zwang zur Unterlassung aller Tätigkeiten, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können. Während die arbeitstechnischen Voraussetzungen und der Gesundheitsschaden voll bewiesen sein müssen, reicht zur Bejahung des Kausalzusammenhangs zwischen der schädigenden Einwirkung und dem Gesundheitsschaden die hinreichende Wahrscheinlichkeit aus (vgl. Schütz/Maiwald, Beamtenrecht des Bundes und der Länder, Kommentar, Stand Dezember 2004, § 31 BeamtVG Rdn. 161).
Wann die Voraussetzungen eines „langjährigen Hebens oder Tragens schwerer Lasten“ gemäß Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO jeweils vorliegen, ist dem Wortlaut der Vorschrift nicht zu entnehmen. Der Verordnungsgeber hat mit den von ihm verwandten Begriffen auslegungsbedürftige unbestimmte Rechtsbegriffe gewählt, um die schädigende Exposition zu kennzeichnen. Ein Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot ergibt sich daraus nicht. Gerade bei schwierigen, insbesondere wissenschaftlich-technischen Zusammenhängen muss wegen der Komplexität der Materie unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten keine bis ins Detail gehende Regelung im Gesetz oder in der Verordnung erfolgen (BVerfG, B v. 9.11.1988, – 1 BvR 243/86 -, BVerfGE 79 S. 106, 120; B.v. 8.1.1981 – 2 BvL 3/77, 2 BvL 9/77 – BVerfGE 56 S. 1, 12). Bei der notwendigen Konkretisierung der unbestimmten Rechtsbegriffe ist unter Zuhilfenahme medizinischer Sachkunde zu prüfen, welche Einwirkungen nach den neuesten gesicherten medizinischen Erkenntnissen geeignet sind, bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule herbeizuführen.
Die Kammer orientiert sich bei der Beurteilung der Frage, ob die genannten Voraussetzungen der in Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO bezeichneten Berufskrankheit beim Kläger vorliegen, an der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts Hamburg (U.v. 7.7.2005 – 1 Bf 82/02) und nachfolgend am Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 14. Juli 2016 – 5 A 109/13. Nach den dort näher dargelegten Anforderungen des sogenannten Mainz-Dortmunder-Dosismodells (MDD), dessen Anwendung aufgrund des gegenwärtigen Standes der Wissenschaft schon jetzt eine hinreichend bestimmte, wissenschaftlich gesicherte Grundlage für die Auslegung der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO bietet, erfüllt der Kläger zur Überzeugung der Kammer bereits nicht die arbeitstechnischen Voraussetzungen für die Anerkennung seiner Krankheit als Berufskrankheit, da in seinem Fall nicht von einem langjährigen Heben oder Tragen schwerer Lasten i.S.d. Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO auszugehen ist.
Das MDD berücksichtigt, dass es einer bestimmten Mindestbelastung bedarf, um eine körperliche Belastung als schädigend für die Bandscheiben der Wirbelsäule einzustufen. Zur Beurteilung der arbeitstechnischen Voraussetzungen wird ein zweistufiges Verfahren durchgeführt, nach dem in einem ersten Schritt die Vorprüfung und in einem zweiten Schritt die Hauptprüfung erfolgt. Die Vorprüfung umfasst als Mindestanforderungen, dass die Lastgewichte bei Männern 15 kg erreichen oder überschreiten müssen, pro Arbeitsschicht mindestens 50 Lastenmanipulationen von maximal 5 m oder 30 Lastenmanipulationen mit Trageentfernungen von deutlich über 5 m vorgelegen haben oder in extremer Rumpfbeugehaltung durchgeführt worden sein müssen. Des Weiteren muss die belastende Tätigkeit an mindestens 60 Arbeitsschichten pro Jahr zu verrichten gewesen sein und die gesamte berufliche Belastungsdauer mindestens 7 Jahre betragen haben (vgl. OVG Hamburg U.v. 7.7.2005 – a.a.O. – juris Rn. 39).
Auch das Bundessozialgericht hat mit Urteil vom 30. Oktober 2007 (B 2 U4/06) das MDD als Maßstab zur Ermittlung der kritischen Belastungsdosis beim Heben und Tragen schwerer Lasten sowie beim Arbeiten in extremer Rumpfbeugehaltung i.S.d. Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO bestätigt, da derzeit kein den Vorgaben dieser Vorschrift gerecht werdendes Alternativmodell zur Verfügung steht. Die Rechtsprechung, dass bei Beurteilung der haftungsbegründenden Kausalität im Falle der Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO das MDD als aktueller Stand der medizinischen Wissenschaft anzusehen ist, hat das Bundessozialgericht mit weiterem Urteil vom 23. April 2015 (B 2 U 10/14 R) fortgesetzt und auf die sich aus dem MDD rechnerisch bei maximaler Exposition ergebende Mindestdauer von sieben Jahren verwiesen. (vgl. auch VG Magdeburg, U. v. 14.7.2016 – a.a.O – unter Hinweis auf BayLSG, U.v. 25.11.2015 – L 2 U 120/13 – juris Rn.44).
Hiervon ausgehend erreicht die berufliche Tätigkeit des Klägers als Justizsicherheitsbeamter selbst unter Berücksichtigung der von ihm geschilderten zusätzlichen „Hausmeisteraufgaben“ bei weitem nicht die nach dem MDD erforderliche Mindestbelastungsdauer von sieben Jahren.
Zwar lässt der Kläger zur Klagebegründung vortragen, er habe neben seiner normalen dienstlichen Tätigkeit als Justizsicherheitssekretär für den Beklagten erhebliche Hausmeister-, Winterdienst-, Umbau- und Möbelträgertätigkeiten sowie weitere schwere körperlichen Arbeiten ausgeführt. Nach dem Schreiben der Direktorin des Amtsgerichts … vom 14. März 2017 hat der Kläger jedoch nach dem 30. November 2000 Hausmeistertätigkeiten grundsätzlich nur in Vertretung des neuen nebenamtlichen Hausmeisters zusammen mit den übrigen Bediensteten der Wachtmeisterei ausgeführt, wobei der zeitliche Aufwand des Einzelnen dabei weniger als 5% der Gesamtarbeitszeit betragen habe. Lediglich im Jahre 2007 habe der Kläger wegen einer Langzeiterkrankung des Hausmeisters mehrere Monate gegen besondere Bezahlung die Hausmeistertätigkeit allein übernommen. Für die Kammer besteht keinerlei Veranlassung an diesen Angaben zu zweifeln, da die Direktorin des Amtsgerichts … auch für vor ihrer Amtszeit liegende Zeiträume auf die Angaben weiterer Bediensteter des Amtsgerichts zurückgreifen konnte.
Somit kann nicht die Rede davon sein, dass die Tätigkeit des Klägers im Justizdienst mit der z.B. im Urteil des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 14. Juli 2016 (a.a.O. – Rn. 38, juris) geschilderten beruflichen Betätigung eines Maurers, der pro Tag und in 220 Schichten im Jahr ca. 4 m³ großformatige Steine verarbeitet, oder mit den in der einschlägigen Kommentarliteratur (vgl. Mehrtens-Valentin-Schönberger, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. völlig neu bearbeitete Auflage 2010, S. 491/492) genannten Tätigkeiten mit Wirbelsäulenbelastung i.S.d. Nr. 2108 der Anlage 1 zur BKVO (z.B. Möbelträger im Umzugsgewerbe, Kohlen- und andere Lastenträgerträger) auch unter Berücksichtigung der vom Kläger geschilderten zusätzlichen Nebenaufgaben vergleichbar ist. Es ist davon auszugehen, dass der Kläger bei weitem nicht die bei den oben genannten hauptberuflichen Tätigkeiten vorliegende schädigende Exposition erreicht hat, da er weder die belastende Tätigkeit an mindestens 60 Arbeitsschichten pro Jahr zu verrichten hatte noch die gesamte berufliche Belastungsdauer bei maximaler Exposition mindestens 7 Jahre betrug (vgl. OVG Hamburg U.v. 7.7.2005 – a.a.O.).
Nach alledem war die Klage daher abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 1 VwGO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Gründe, die Berufung nach § 124 a Abs. 1 VwGO zuzulassen, liegen nicht vor.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen


Nach oben