Patent- und Markenrecht

Patentnichtigkeitsklageverfahren – „Arretiervorrichtung“ – zur Amtsermittlungspflicht – keine Untersuchung unkommentiert vorgelegter Schriften durch den Senat

Aktenzeichen  4 Ni 1/12

Datum:
16.4.2013
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Gerichtsort:
München
Dokumenttyp:
Urteil
Normen:
§ 87 Abs 1 S 1 PatG
Spruchkörper:
4. Senat

Leitsatz

1. Der Senat ist trotz des auch im neu gestalteten Patentnichtigkeitsverfahren nach § 87 Abs. 1 Satz 1 PatG geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes nicht gehalten, unkommentiert vorgelegte Schriften auf ihre Relevanz im Hinblick auf die geltend gemachten Nichtigkeitsgründe zu untersuchen.
2. Die Obliegenheiten der Parteien zu einem konkretisierten Sachvortrag im Nichtigkeitsverfahren korrespondieren mit den Grenzen, die an die Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts von Amts bestehen, wie auch mit den Anforderungen, die unter Berücksichtigung des reformierten Verfahrens an die Anerkennung als Tatsachenvortrag der ersten Instanz in der Beru-fungsinstanz zu setzen sind.

Tenor

In der Patentnichtigkeitssache


betreffend das deutsche Patent 102 62 182
hat der 4. Senat (Nichtigkeitssenat) des Bundespatentgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 16. April 2013 durch den Vorsitzenden Richter Engels, den Richter Dr. agr. Huber, die Richterin Friehe, den Richter Dipl.-Ing. Univ. Rippel und die Richterin Dr.-Ing. Prasch
für Recht erkannt:
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1
Die Beklagte ist eingetragene Inhaberin des deutschen Patents 102 62 182 (Streitpatent), das als Teilanmeldung aus der am 14. September 2002 unter Inanspruchnahme der (inneren) Prioritäten der Patentanmeldungen DE 101 57 774 vom 28. November 2001 und DE 102 01 153 vom 15. Januar 2002 angemeldeten DE 102 42 825 hervorgegangen ist. Die Erteilung des Streitpatents wurde am 19. Oktober 2006 veröffentlicht; es ist in Kraft. Es betrifft eine Arretiervorrichtung einer Längsverstellvorrichtung eines Kraftfahrzeugsitzes mit gerillten Sperrstiften und weist 14 Patentansprüche auf, die sämtlich angegriffen sind.
2
Patentanspruch 1 der geltenden B4-Schrift lautet:
3
nen Patentansprüche 2 bis 14 wird auf die Streitpatentschrift DE 102 62 182 B4 Bezug genommen.
4
Die Klägerin ist der Ansicht, das Streitpatent sei gegenüber den ursprünglichen Anmeldeunterlagen (der Stammanmeldung, K2) unzulässig erweitert, § 21 Abs. 1 Nr. 4 PatG.
5
Der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents sei nicht patentfähig, da er an dessen Prioritätstag nicht mehr neu, sondern bereits vorbekannt gewesen sei aufgrund offenkundiger Vorbenutzung im Mercedes Benz C-Klasse der Baureihe W 202, seit 1993 produziert und verkauft. Hierzu legt sie Unterlagen (K7 bis K15) betreffend ein bestimmtes Auto dieser Baureihe vor (Mercedes-Benz W 202, Fahrgestell-Nr. WDB 202 022 1A 277829), benennt zwei Zeugen und beantragt die Einnahme eines Augenscheins und die Einholung eines Sachverständigengutachtens.
6
Sie ist weiter der Ansicht, der Gegenstand von Anspruch 1 des Streitpatents sei nicht patentfähig, und beruft sich insbesondere auf folgende Schriften:
7
D1 DE 299 10 720 U1
8
D2 DE 297 00 866 U1
9
D7 DE 197 09 149 A1
10
D9 GB 2 355 399 A
11
D11 US 5 918 846 A.
12
In der Patentschrift sind darüber hinaus noch die Druckschriften
13
D3 EP 0 408 932 A2
14
D4 DE 27 29 770 A1
15
D5 DE 42 42 895 C1
16
D6 DE 44 44 075 A1
17
sowie unter den Bezeichnungen D8, D10, D12 bis D21 weitere Druckschriften genannt, hinsichtlich derer die Klägerin keine Ausführungen macht, inwiefern diese für das Streitpatent nichtigkeitsbegründend seien. Dasselbe gilt hinsichtlich der Schriften D3 bis D6.
18
Die Klägerin macht ferner geltend, die nachgeordneten Patentansprüche enthielten nichts die Patentfähigkeit Begründendes.
19
Die Klägerin beantragt,
20
das deutsche Patent für nichtig zu erklären.
21
Die Beklagte beantragt,
22
die Klage abzuweisen,
23
hilfsweise,
24
die Klage abzuweisen, soweit das Patent mit den Hilfsanträgen 1 bis 6 vom 20. Januar 2011 verteidigt wird.
25
Hinsichtlich der Hilfsanträge wird auf die Akten, insbesondere den Schriftsatz vom 20. Januar 2011, Bezug genommen.
26
Die Beklagte ist der Ansicht, dass der Gegenstand des Streitpatents nicht unzulässig erweitert sei; im Übrigen könnten weder die von der Klägerin in Bezug genommenen Druckschriften noch die behauptete offenkundige Vorbenutzung den Gegenstand des Streitpatents vorwegnehmen oder nahelegen.
27
Der Senat hat den Parteien einen qualifizierten Hinweis gemäß § 83 PatG zugeleitet. Auf Bl. 199 ff. der Akten wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.
28
Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet, denn der Senat konnte nicht feststellen, dass dem Gegenstand des Streitpatents der von der Klägerin geltend gemachte Nichtigkeitsgrund der unzulässigen Erweiterung nach §§ 22 Abs. 1, 21 Abs. 1 Nr. 4 PatG oder der fehlenden Patentfähigkeit nach §§ 22 Abs. 1, 21 Abs. 1 Nr. 1 PatG entgegensteht, insbesondere, dass die beanspruchte Lehre gegenüber dem Stand der Technik nicht neu ist oder nicht auf erfinderischer Tätigkeit beruht.
II.
29
1. Nach den Abschnitten [0002] ff. der Beschreibungseinleitung des Streitpatents sind Arretiereinrichtungen nach dem Oberbegriff von Patentanspruch 1 im Stand der Technik bekannt; bei diesen sei jedoch im allgemeinen nur ein Sperrstift für die Arretierung einer Verschieberichtung verantwortlich, auf den und auf den entsprechenden Raststeg bei einer unfallbedingten Belastung die gesamten Arretierungskräfte wirken. Das könne zum Verbiegen des Sperrstiftes, zum Verlust der Selbsthemmung und letztlich zur Freigabe der Arretierung führen.
30
Die Beschreibung bezeichnet es demgegenüber als Aufgabe der Erfindung, derartige Arretiereinrichtungen so weiterzubilden, dass einem unfallbedingten Hochdrücken der Sperrstifte aus einer Arretierstellung heraus besser entgegen gewirkt wird (Abschnitt [0005]).
31
Zur Lösung dieser Aufgabe schlägt das Streitpatent in Patentanspruch 1 eine Vorrichtung mit folgenden Merkmalen vor:
32
1. Arretiereinrichtung einer Längsverstellvorrichtung eines Kraftfahrzeugsitzes;
33
2. mit einer Rastenleiste;
34
2.1 die periodisch angeordnete Rastöffnungen und Raststege aufweist und
35
2.2 einer Bodenschiene der Längsverstellvorrichtung zugeordnet ist;
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3. mit einer Sperreinheit;
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3.1 die einer Sitzschiene der Längsverstellvorrichtung zugeordnet ist und
38
3.2 die mindestens zwei Sperrstifte aufweist, welche
39
3.2.1 unabhängig voneinander in Rastöffnungen einrastbar sind und
40
3.2.2 gemeinsam ausrastbar sind und
41
3.2.3 eine Einzelrille aufweisen;
42
4. die Sperrstifte sind in einem Führungsteil angeordnet,
43
4.1 das für jeden Sperrstift eine Stiftbohrung aufweist;
44
wobei
45
5. mindestens einer der Sperrstifte einen Rillenbereich aufweist,
46
5.1 mit zwei Einzelrillen;
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6. dieser Rillenbereich sich in der Nähe eines unteren Endes der zugehörigen Stiftbohrung befindet, wenn der Sperrstift in eine der Rastöffnungen eingerastet ist;
48
7. die Einzelrillen beabstandet sind und
49
8. zur Verfügung stehen, mit dem Material des Führungsteiles am unteren Ende der Stiftbohrung in Wechselwirkung zu treten.
50
2. Der maßgebliche Fachmann ist hier ein Ingenieur des allgemeinen Maschinenbaus mit zumindest Fachhochschulausbildung und mehrjähriger Erfahrung in der Entwicklung von Fahrzeug-Inneneinrichtungen, wie z. B. der Verstellmechanik von Fahrzeugsitzen.
51
3. Nach dessen maßgeblichem Verständnis und einer am Gesamtzusammenhang sich orientierenden Betrachtung (st. Rspr., vgl. BGH, Urt. v. 18.11.2010, Xa ZR 149/07 – Rn. 29, GRUR 2011, 129 – Fentanyl-TTS; Urt. v. 3.6.2004, X ZR 82/03, GRUR 2004, 845 – Drehzahlermittlung, m. w. N.) ist zu beurteilen, welche technische Lehre Gegenstand des Patentanspruchs 1 ist und welcher technische Sinngehalt den Merkmalen des Patentanspruchs 1 im Einzelnen und in ihrer Gesamtheit zukommt.
52
Die gattungsbildenden Merkmale der Arretiereinrichtung einer Längsverstellvorrichtung eines Kraftfahrzeugsitzes nach dem erteilten Patentanspruch 1 beschreiben notwendige Merkmale einer derartigen Arretiereinrichtung, nämlich eine Rastenleiste (Merkmalsgruppe 2.) eine Sperreinheit (Merkmalsgruppe 3.) sowie ein Führungsteil für die Sperrstifte (Merkmalsgruppe 4.), während die kennzeichnenden Merkmale auf die Ausgestaltung (Merkmale 5. bis 7.) und Wirkung der Sperrstifte (Merkmal 8.) gerichtet sind. Demnach soll mindestens einer der Sperrstifte einen Rillenbereich aufweisen mit zwei Einzelrillen (Merkmale 5. und 5.1), wobei sich der Rillenbereich im eingerasteten Zustand des Sperrstiftes in der Nähe des unteren Endes der zugehörigen Stiftbohrung befindet (Merkmal 6.) und die (zwei) Einzelrillen beabstandet sind (Merkmal 7.). Dies hat nach Merkmal 8. den Zweck, dass die (beabstandeten) Einzelrillen zur Verfügung stehen – dies bedeutet vor dem Hintergrund der Beschreibung gemäß Abschnitt [0008] der Streitpatentschrift, dass die zwei Einzelrillen im Falle einer unfallbedingten Ausbiegung des Sperrstiftes bereit stehen – mit dem Material des Führungsteils am unteren Ende der Stiftbohrung in Wechselwirkung zu treten, um so eine Aufwärtsbewegung des Sperrstiftes zu blockieren.
53
Diese Wirkung soll nach Anspruch 1, Merkmal 5.1 mit genau zwei Einzelrillen erreicht werden. Eine solche Ausführungsform mit genau zwei Einzelrillen ist in der Beschreibung des Streitpatents in Abschnitt [0039] beschrieben.
54
Die Anspruchsfassung gemäß dem geltenden erteilten Anspruch 1 lässt zunächst offen, auf welche Weise die „Wechselwirkung“ der Einzelrillen des Führungsstiftes mit dem Material des Führungsteils am unteren Ende der Stiftbohrung verläuft, d. h. ob es sich bei dieser Wechselwirkung z. B. um ein rein mechanisches „Verhaken“ (wie in Abschnitt [0036] beschrieben) oder um ein durch Deformation eines weicheren Materials am Führungsteil durch Einwirkung eines härteren Materials der Stifte bedingtes Ineinanderlaufen von Materialien und Strukturen (Rillen) handelt. Der Ort, an dem diese – wie auch immer geartete – Wechselwirkung erfolgen soll, wird indes angegeben, nämlich nahe am unteren Ende der Stiftbohrung (des Führungsteils), wie insbesondere durch die Merkmale 6. und 8. zum Ausdruck kommt. Dies deutet allerdings dann schon darauf hin, dass das in Abschnitt [0036] beschriebene „Verhaken“ und kein anderer Festlegungsmechanismus angestrebt wird, denn ein anderer Festlegungsmechanismus als ein „Verhaken“ oder „Verkrallen“ wäre nicht geeignet, eine Wechselwirkung mit dem unteren Ende der Stiftbohrung (vgl. Merkmal 8.) herbei zu führen. Insoweit ist dem Vertreter der Beklagten darin zuzustimmen, dass eine andere Wechselwirkung als ein Verhaken nicht am unteren Ende der Stiftbohrung entstehen könne, sondern allenfalls an einem unteren Endbereich. Eine derartige Offenbarung findet sich aber in Beschreibung und Anspruchstexten des Streitpatents, das sein eigenes Lexikon darstellt, nicht. Nachdem aber die Gesamtheit der Offenbarung des Streitpatents in Beschreibung und Zeichnung auch keinen anderen oder weiteren Festlegungsmechanismus für die Sperrstifte erkennen lässt, ist daher unter sachgerechter Würdigung des Inhalts der Patentschrift ein anderer Festlegungsmechanismus als das Verhaken oder Verkrallen nicht zu Grunde zu legen. Insoweit unterscheidet sich das Verständnis des Senats hinsichtlich der Auslegung des Begriffs „in Wechselwirkung treten“ von der in der Entscheidung über den Widerruf des Europäischen Patents 1 316 465 (Anlage K6) dargelegten Auffassung der zuständigen Einspruchsabteilung des Europäischen Patentamts.
        
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55
Das Führungsteil selbst ist gemäß Streitpatentschrift Abschnitt [0028] sowie den Darstellungen gemäß Figuren 3 und 5 zwar ein eigenständiges Bauteil, das an der Sitzschiene befestigt ist. Dieser Umstand kommt im erteilten Anspruch 1 jedoch nicht hinreichend deutlich zum Ausdruck, denn nach Merkmal 3. und 3.1 soll eine Sperreinheit – diese weist nach Merkmal 3.2 die Sperrstifte auf, welche dann nach Merkmal 4. und 4.1 in einem Führungsteil mit Stiftbohrung angeordnet sind – der Sitzschiene der Längsverstellvorrichtung zugeordnet sein. Der Ausdruck „zugeordnet“ wird im Anspruch 1 des Streitpatents auch in anderem Zusammenhang, nämlich in Merkmal 2.2, wonach eine Rastenleiste einer Bodenschiene der Längsverstellvorrichtung zugeordnet ist, so verstanden, dass das einzelne Bauteil (hier: Rastenleiste) mit dem größeren Bauteil, dem es zugeordnet ist (hier: Bodenschiene) einstückig ausgebildet ist, wie aus dem Ausführungsbeispiel nach Fig. 1 ersichtlich ist. Nach alledem schließt der Text des Anspruchs 1 in erteilter Fassung auch bezüglich der Merkmale 3., 3.1, 4. und 4.1 nicht aus, dass das Führungsteil ein von der Sitzschiene getrenntes und eigenes Bauteil darstellt, jedoch umfasst er auch eine Ausführungsform, bei der Teile der Sitzschiene bzw. diese selbst das Führungsteil bilden.
III.
56
Der Senat konnte nicht feststellen, dass der Gegenstand des Patents über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen hinaus geht (§ 21, Abs. 1, Satz 4 PatG).
57
1. Die Merkmale des erteilten Patentanspruchs 1 sind in den ursprünglichen Unterlagen als zur Erfindung gehörend offenbart. Patentanspruch 1 ist daher zulässig.
58
Soweit die Klägerin die redaktionellen Einfügungen „… mit drei Einzelrillen pro Rillenbereich und daher nicht nach dem Wortlaut des Patentanspruchs 1 …“ in den Kurzbeschreibungen zu Figur 2 und Figur 6 als unzulässige Änderung rügt, weil der Patentanspruch 1 noch die maßgeblichen Beschreibungsteile der Patentschrift einen Anhaltspunkt dafür bieten könnten, dass unter einem Sperrstift „mit genau zwei Einzelrillen“ gerade ein Sperrstift mit „genau zwei Einzelrillen“ verstanden werden könne, teilt der Senat diese Auffassung nicht.
59
Nach dem ursprünglichen Anspruch 2 gemäß Stammanmeldung DE 102 42 825 A1 (Anl. K2) wurde der Rillenbereich des Sperrstiftes derart definiert, dass er mindestens eine Einzelrille, vorzugsweise mehrere Einzelrillen aufweist. Aus dieser ursprünglich offenbarten Bandbreite hat die Patentinhaberin für das vorliegende Streitpatent einen Rillenbereich ausgewählt, der aus zwei Einzelrillen besteht. Damit liegt sie bereits im Bereich dessen, was sie ursprünglich schon offenbart hatte. Hinzu kommt aber noch, dass auch dem im hiesigen Streitpatent weiterverfolgten Gedanken der Ausgestaltung des Rillenbereichs mit zwei Einzelrillen bereits in den ursprünglichen Unterlagen ein eigenes Ausführungsbeispiel gewidmet war (Abs. [0037] der Anl. K2). Damit steht zweifelsfrei fest, dass eine Ausführung eines Rillenbereichs mit genau zwei Einzelrillen in den ursprünglichen Unterlagen (Stammanmeldung) sowohl verbal als auch zeichnerisch dargestellt offenbart war.
60
Nach alledem kann der im Streitpatent gegebene Zusatz in den Kurzbeschreibungen der Figuren 2 und 6, wonach die dort dargestellten Rillenbereiche mit drei Einzelrillen nicht dem Wortlaut des Patentanspruchs 1 entsprechen, nicht zu einer unzulässigen Änderung des Erfindungsgedankens und noch weniger zu einer unzulässigen nachträglichen Verschiebung des Schutzbereichs führen.
61
2. Die Merkmale der ebenfalls angegriffenen erteilten Unteransprüche 2 bis 14 sind in den ursprünglichen Unterlagen als zur Erfindung gehörend offenbart, was von der Klägerin auch nicht bestritten wird.
62
Die Merkmale der Unteransprüche finden ihre Stütze in Textstellen der ursprünglichen Beschreibung gemäß Stammanmeldung (Anl. K2) (Anspruch 2 in Abschnitt [0039]; Anspruch 3 in Abschnitt [0029]; Anspruch 10 in Abschnitt [0039]; Anspruch 11 in Abschnitt [0006]; Anspruch 12 in Abschnitt [0026]; Anspruch 13 in Abschnitt [0034]; Anspruch 14 in Abschnitt [0037]) bzw. beruhen auf den ursprünglichen Ansprüchen (erteilte Ansprüche 4 bis 9 entsprechen den ursprünglichen Ansprüchen 4 bis 9).
IV.
63
Der Senat konnte nicht feststellen, dass der aufgrund seiner Zweckbestimmung ohne Zweifel gewerblich anwendbare Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 durch den im Verfahren befindlichen Stand der Technik vorweggenommen und deshalb nicht neu ist (§ 3 Abs. 1 PatG) oder sich hieraus in naheliegender Weise ergibt (§ 4 PatG).
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1. Der Beurteilung waren die Druckschriften D3 bis D6, D8, D10, D12 bis D21 nicht zu Grunde zu legen. Denn auf diesen druckschriftlichen Stand der Technik ist die Klägerin weder in ihren schriftlichen Einlassungen noch im Rahmen der mündlichen Verhandlung eingegangen, so dass der Senat keine Veranlassung sah, diese auf ihre Relevanz zu untersuchen.
65
a. Der Senat ist trotz des auch im neu gestalteten Patentnichtigkeitsverfahren nach § 87 Abs. 1 Satz 1 PatG geltenden Amtsermittlungsgrundsatzes, wonach das Patentgericht den Sachverhalt von Amts wegen erforscht, nicht gehalten, unkommentiert vorgelegte Schriften auf ihre Relevanz im Hinblick auf die geltend gemachten Nichtigkeitsgründe zu untersuchen. Denn die im pflichtgemessen Ermessen stehende Amtsermittlungspflicht (Busse/Engels, Patentgesetz, 7. Auflage, Rn. 261, 271 zu § 59) ist nicht unbegrenzt; sie findet ihre Grenze in der Zumutbarkeit zu treffender Ermittlungen, die durch den Aufwand und die Erfolgsaussichten einerseits, aber auch die Erforderlichkeit und Möglichkeit der Mitwirkung der Beteiligten – der Verfahrensförderungspflicht – anderseits bestimmt wird (Busse/Engels, a. a. O., Rn. 266 und 267 zu § 59; zum alten Recht: Benkard/Schäfers, Patentgesetz 10. Aufl. Rn. 9 zu § 87) und im Kontext des jeweiligen Verfahrens zu sehen sind. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass das als kontradiktorisches Streitverfahren ausgeprägte Nichtigkeitsverfahren in besonderem Maße der Disposition der Parteien Rechnung trägt und es dem Kläger obliegt, vorzutragen und geltend zu machen, auf welchen technischen Sachverhalt er sein Vorbringen stützt, und er insoweit seinen Vortrag zu den verfahrensgegenständlichen Nichtigkeitsgründen zu substantiieren hat (Busse/Keukenschrijver, a. a. O., Rn. 61 zu § 82 PatG; vgl. auch Busse/Engels, a. a. O., Rn. 267 zu § 59). Ebenso suspendiert § 82 Abs. 2 PatG die Untersuchungspflicht, wenn der Beklagte der Klage nicht widerspricht, da die vom Kläger behaupteten Tatsachen für erwiesen angenommen werden. Die Obliegenheiten der Parteien im Nichtigkeitsverfahren zur Substantiierung ihres Vorbringens korrespondieren deshalb mit den Grenzen, die an die Pflicht zur Erforschung des Sachverhalts von Amts wegen bestehen (vgl. Busse/Keukenschrijver, a. a. O., Rn. 11 zu § 87 PatG), wie auch mit den Anforderungen, die unter Berücksichtigung des reformierten Verfahrens an die Anerkennung als Tatsachenvortrag der ersten Instanz in der Berufungsinstanz zu setzen sind (hierzu auch Gröning GRUR 2012, 996): dort ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (Urt. v. 28.8.2012, X ZR 99/11, GRUR 2012, 1236 ff., Rn. 36 – Fahrzeugwechselstromgenerator) eine Druckschrift als Angriffsmittel i. S. v. § 117 PatG, § 529 Abs. 1 Nr. 2 ZPO eine neue Tatsache, wenn sie zwar in erster Instanz erwähnt und/oder zu den Akten gereicht wurde, der technische Sachvortrag, für den sich die Partei auf das Dokument stützen will, aber nicht in hinreichend konkreter Form bereits in der ersten Instanz gehalten wurde. Die eine Amtsermittlung erst auslösende Konkretisierung des Tatsachenvortrags ist deshalb auch für das neue Novenrecht im Berufungsverfahren vorausgesetzt.
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b. Den danach bestehenden Grenzen gebotener Amtsermittlung steht nicht entgegen, dass der Nichtigkeitskläger grundsätzlich nicht gehalten ist, den Angriff gegen die Patentfähigkeit des Streitpatents auf alle denkbaren Gesichtspunkte zu stützen, insbesondere mit einer Vielzahl unterschiedlicher Argumentationslinien zu begründen, warum der Gegenstand der Erfindung durch den Stand der Technik vorweggenommen oder nahelegt ist (BGH Fahrzeugwechselstromgenerator a. a. O., Rn. 38). Denn die Frage einer vernünftigen Begrenzung des klägerischen Tatsachenvorbringens im Hinblick auf eine patentrechtlichen Bewertung des Inhalts von Druckschriften und etwaige Risiken verspäteten Vorbringens sind davon zu unterscheiden, dass es insbesondere unter Berücksichtigung des neu gestalteten Nichtigkeitsverfahrens trotz Beibehaltung des Amtsermittlungsgrundsatzes nicht Aufgabe des Senats ist, unkommentierte Druckschriften auf ihre Relevanz als möglichen Stand der Technik hin zu untersuchen.
67
c. Zudem hat der Senat vorliegend in seinem Hinweis nach § 83 PatG darauf hingewiesen, dass er nach dem Vortrag der Klägerin weder eine unzulässige Erweiterung erkennen könne noch die Lehre des Streitpatents als nicht neu und nahegelegt ansehe, und dieses ausführlich begründet. Weiter ist in diesem Bescheid darauf hingewiesen, dass keine Veranlassung bestehe, auf den verbleibenden Stand der Technik einzugehen, da dessen Relevanz für das Streitpatent für den Senat nicht ersichtlich sei und auch die Klägerin keinen Sachvortrag gehalten habe, der den Senat zu einer Untersuchung von Amts wegen veranlassen könnte (2.1.2 des gerichtlichen Hinweises). Hiernach hätte für die Klägerin spätestens aufgrund des Hinweises Veranlassung bestanden, hierzu substantiiert vorzutragen, sofern sie die Relevanz der weiteren kommentarlos vorgelegten Druckschriften für die Nichtigkeit des Streitpatents geltend machen wollte. Das hat sie mit Ausnahme der D1 nicht getan.
68
2. Die Arretiereinrichtung nach dem erteilten Patentanspruch 1 ist gegenüber dem entgegengehaltenen druckschriftlichen Stand der Technik sowie gegenüber dem Gegenstand der behaupteten Benutzungshandlung neu.
69
2.1. Vom druckschriftlichen Stand der Technik der D2 (DE 297 00 866 U1) der D7 (DE 197 09 149 A1) und der D9 (GB 2 355 399 A) unterscheidet sich die Arretiereinrichtung nach Patentanspruch 1 jeweils zumindest durch seinen aus zwei beabstandeten Rillen bestehenden Rillenbereich (Merkmal 5.1 und 7.; vgl. Merkmalsgliederung gemäß Punkt II.1) sowie dadurch, dass die zwei Rillen zur Verfügung stehen, mit dem Material des Führungsteils am unteren Ende der Stiftbohrung in Wechselwirkung zu treten (Merkmal 8.).
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Die Sperrstifte der Arretiereinrichtung nach der D11 (US 5 918 846 A) lassen keinerlei Rillen erkennen, so dass sich der Patentgegenstand hiervon in den Merkmalen 3.2.3 und 5. bis 8. des Patentanspruchs 1 unterscheidet.
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2.2. Auch der Gegenstand der behaupteten Benutzungshandlung, wie er in den fotografischen Darstellungen gemäß Anlagenkonvolut K13 sowie aus den mit Maßangaben versehenen Zeichnungen und Bilddarstellungen gemäß Anlage K14 ersichtlich ist, kann – anders als die Klägerin vorträgt – eine neuheitsschädliche Wirkung nicht entfalten. Wenn nämlich als wahr unterstellt wird, dass eine derartige Arretiervorrichtung in dem Fahrzeug Mercedes-Benz W 202, welches sich im Zeitraum vom 12. Oktober 1995 bis 26. Mai 2010 im Besitz von Herrn R… befunden hatte, verbaut war, ist bei vergleichender Betrachtung mit dem Patentgegenstand bereits festzustellen, dass die untere Kante der oberen Rille des Sperrstiftes des Benutzungsgegenstandes unter Zugrundelegung der in Anlage K14 angegebenen Maße bei vollständig eingerastetem Sperrstift zumindest um 0,1 mm innerhalb der Stiftbohrung des Führungsteils liegt. Bei zusätzlicher Berücksichtigung der Tatsache, dass die Verriegelungsbolzen häufig nicht um das weitest mögliche Maß in die Rastöffnungen der Rastenleiste einrasten, sondern aufgrund ihrer konischen Anformung an der Spitze, individuell unterschiedlich tief einrasten, liegt die untere Kante der oberen Rille noch wesentlich weiter innerhalb der Stiftbohrung des Führungsteils. Somit weist eine derartige Arretiereinrichtung nicht einen Rillenbereich aus zwei Einzelrillen auf, bei dem die Einzelrillen zur Verfügung stehen, mit dem Material des Führungsteils am unteren Ende der Stiftbohrung in Wechselwirkung zu treten, denn die obere Rille ist in jedem Falle so tief innerhalb der Stiftbohrung, dass sie aus diesen Positionen heraus keinesfalls mit dem Material des Führungsteils am unteren Ende der Stiftbohrung zusammenwirken kann. Somit unterscheidet sich die patentgemäße Arretiereinrichtung nach Patentanspruch 1 von dem Gegenstand der behaupteten Benutzungshandlung, wie aus Anlage 13 und 14 ersichtlich, zumindest in Merkmal 8. des Patentanspruchs 1.
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Das im Rahmen der mündlichen Verhandlung informationshalber noch in Augenschein genommene Modell eines Führungsteils mit Sperrelementen, beschriftet mit „Mercedes Benz W 202/BJ 1995“, lässt einen Sperrbolzen mit lediglich einer Rille erkennen, wobei die Rille in vollständig eingerastetem Zustand des Sperrstiftes nicht mehr aus dem Führungsteil herausragt. Von einem derartigen Gegenstand unterscheidet sich der Patentgegenstand nicht nur in Merkmal 8. sondern auch in den Merkmalen 5.1 und 7., die auf das Vorhandensein von zwei Einzelrillen gerichtet sind. Auch wenn die (einzige) Rille (in Anl. K15 mit „R1“ gekennzeichnet) bei diesem Modell mit dem Führungsteil bündig abschließt, wie die Klägerin hierzu vorträgt, würde dies im Crash-Fall nicht zu einer Wechselwirkung i. S. v. Merkmal 8. führen. Jedenfalls kann auch ein Gegenstand gemäß dem vorgelegten Modell die Neuheit der patentgemäßen Arretiereinrichtung nicht in Frage stellen.
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3. Die Arretiereinrichtung nach dem erteilten Patentanspruch 1 war dem Fachmann durch den entgegengehaltenen druckschriftlichen Stand der Technik und den Gegenstand der behaupteten offenkundigen Vorbenutzung auch nicht nahe gelegt.
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74
3.1. Die D9 offenbart eine Arretiervorrichtung einer Längsverstellvorrichtung eines Kraftfahrzeugsitzes (vgl. Beschreibung, Seite 1, 1. Abs. und Fig. 1) (Merkmal 1., vgl. Merkmalsgliederung gemäß Punkt 1.). Die Bodenschiene (1) (vgl. Fig. 1) weist ebenfalls wie beim Patentgegenstand eine Rastenleiste (4) mit periodisch angeordneten Rastöffnungen (84, 85, 86, 87, 88) und (dazwischen liegenden) Raststegen auf (vgl. Fig. 2) und ist der Längsverstellvorrichtung zugeordnet (Merkmale 2., 2.1 und 2.2). Die entgegengehaltene Arretiervorrichtung nach D9 weist auch eine Sperreinheit auf (Fig. 1, 2), die einer Sitzschiene (carriage 10) der Längsverstellvorrichtung zugeordnet ist und mindestens zwei Sperrstifte (plunger 24, 25, 26, 27) aufweist (Fig. 1, 2) (Merkmale 3., 3.1 und 3.2). Die Sperrstifte (24 bis 27) sind dabei unabhängig voneinander in Rastöffnungen einrastbar (vgl. Fig. 2; Seite 8, 1. Abs.) und gemeinsam ausrastbar (vgl. Seite 8, 2. Abs. bis S. 9, 1. Abs.) und weisen eine Einzelrille (annular groove or recess 31) (Fig. 2 bis 4) auf (Merkmale 3.2.1, 3.2.2 und 3.2.3).
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Auch sind die Sperrstifte der Arretiervorrichtung nach D9 in einem Führungsteil angeordnet (Merkmal 4.), welches gemäß Merkmal 4.1 für jeden Sperrstift eine Stiftbohrung bereithält, wie aus Figur 2 ersichtlich ist. Das Führungsteil wird dabei sowohl durch die Wandteile einer hohlen aufrechten Kammer (38) als auch durch den horizontalen unteren Teil (11) der Sitzschiene (10) gebildet, jedenfalls bei der Auslegung des Anspruchstextes wie in Punkt I. 3. dargelegt, wobei diese Strukturen, wie in Fig. 2 ersichtlich, jeweils fluchtende Bohrungen für jeden Sperrstift aufweisen. Jeder dieser Sperrstifte (24, 25, 26, 27) weist auch einen Rillenbereich (um 31) auf (Merkmal 5.). Dieser Rillenbereich befindet sich aber nicht – wie in Merkmal 6. gefordert – in der Nähe eines unteren Endes der zugehörigen Stiftbohrung (z. B. Öffnung (80) des unteren Teils (11) der Sitzschiene (10)), wenn der Sperrstift (29) in eine der Rastöffnungen (z. B. 84) (der Rastenleiste 4) eingerastet ist (vgl. hierzu Fig. 3 und 4). Die lediglich eine einzige Rille (31) steht zwar auch zur Verfügung, mit dem Material des Führungsteils in der Stiftbohrung in Wechselwirkung zu treten (im Crashfall) (vgl. Fig. 4; Seite 9, 4. Abs. bis Seite 10, 1. Abs.). Anders als in Merkmal 8. zum Ausdruck gebracht wird, bedeutet diese Wechselwirkung bei der Arretiereinrichtung nach D9 aber eine Deformation des Materials der unteren Bereiche der Sitzschiene (11) durch den Eingriff der Rille (31) (Seite 9, 4. Abs.). Daher ist die Rille (31) auch nicht am unteren Ende der Stiftbohrung (80) angeordnet, sondern – bezogen auf die Materialstärke des unteren Teils (11) der Sitzschiene (10) – in der Mitte dieser Bohrung (vgl. Fig. 2, 3, 4).
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Nach alledem konnte der Stand der Technik nach D9 den maßgeblichen Fachmann (vgl. Punkt II. 2.) nicht dazu anregen, im Rillenbereich zwei Einzelrillen vorzusehen (Merkmal 5.1), wobei diese (zwei) Einzelrillen beabstandet sind (Merkmal 7.) und zur Verfügung stehen, mit dem Material des Führungsteils am unteren Ende der Stiftbohrung in Wechselwirkung zu treten (Merkmal 8.). Vielmehr wird durch D9 ein anderes als das patentgemäße Konstruktions- und Wirkprinzip dargestellt und beschrieben, welches den Fachmann nicht zu der patentgemäßen Lösung führen konnte.
77
3.2. Eine Arretiereinrichtung einer Längsverstellvorrichtung eines Kraftfahrzeugsitzes gemäß Merkmal 1. ist auch durch die von der Klägerin noch maßgeblich herangezogene DE 197 09 149 A1 (D7) bekannt geworden (vgl. Anspruch 7). Diese weist ebenfalls eine Rastenleiste (20) mit periodisch angeordneten Rastöffnungen (22) und Raststegen (24) auf, wobei die Rastenleiste (20) einer Bodenschiene (26) der Längsverstellvorrichtung zugeordnet ist (Fig. 1, 2) (Merkmale 2., 2.1, 2.2). Eine Sperreinheit (Stifte 32), die einer Sitzschiene (30) der Längsverstellvorrichtung zugeordnet ist und mindestens zwei Sperrstifte (32) aufweist, ist ebenfalls vorgesehen (Fig. 1, 2) (Merkmale 3., 3.1 und 3.2). Die Sperrstifte (32) sind ferner unabhängig voneinander in Rastöffnungen einrastbar (Fig. 1, 2; Anspruch 1) und gemeinsam ausrastbar (Anspruch 1), wie in den Merkmalen 3.2.1 und 3.2.2 des erteilten Patentanspruchs 1 beschrieben. Ferner ist auch denkbar, dass die Stifte (32) eine Einzelrille i. S. v. Merkmal 3.2.3 aufweisen, denn in Spalte 5, Zeilen 49 bis 56 der D7 wird beschrieben, dass die in Kontakt kommenden Flächen der Sperrstifte (32) bzw. Raststege (24) gegen ein Gleiten bei unfallbedingter Belastung aufgeraut sein können, wobei für das Aufrauen nur pauschal und beispielhaft beliebige Maßnahmen wie Mikrorillen, kleine Rippen oder dergleichen genannt werden. Die plurale Nennung der Strukturen „Mikrorillen“ bzw. kleine Rippen“, insbesondere in der hier vorgenommenen pauschalen Beschreibung, kann dem Vorhandensein einer Einzelrille auch deshalb nicht entgegen stehen, weil die „Rillen“ an zwei unterschiedlichen Bauteilen, nämlich den Sperrstiften und den Raststegen (der Rastenleiste), angebracht sein sollen, was für den maßgeblichen Fachmann u. a. auch eine dahingehende Deutung erlaubt, dass an jedem dieser Bauteile (Sperrstift, Raststeg) lediglich eine Rille vorhanden sein kann.
78
Wie aus Figuren 1 bis 5 ferner ersichtlich ist, sind die Sperrstifte (32) entsprechend den Merkmalen 4. und 4.1 des erteilten Patentanspruchs 1 in einem (hier blockartig ausgestalteten) Führungsteil (34) angeordnet, welches für jeden Sperrstift eine Führungsbohrung aufweist.
79
Aus der genannten Beschreibungsstelle gemäß Spalte 5, Zeilen 49 bis 56 der D7 ist auch herzuleiten, dass mindestens einer der Sperrstifte einen Rillenbereich (z. B. versehen mit Mikrorillen) aufweist (Merkmal 5.), wobei im Falle des Vorhandenseins mehrerer Rillen, diese auch beabstandet sein müssen (Merkmal 7.).
80
Im Unterschied zum Patentgegenstand nach dem erteilten Anspruch 1 sind hier allerdings nicht Stifte mit (genau) zwei Einzelrillen direkt oder implizit offenbart. Ferner befindet sich dieser Rillenbereich auch nicht in der Nähe eines unteren Endes der zugehörigen Stiftbohrung (gemeint: des Führungsteils), wenn der Stift in eine der Rastöffnungen eingerastet ist, sondern die gemäß Spalte 5, Zeilen 49 bis 56 der D7 beschriebene Aufrauhung durch Rillen o. ä. befindet sich im Bereich der Rastenleiste der Bodenschiene. Durch beidseitiges Aufrauen von Raststegen und unterem Ende der Sperrstifte soll letztendlich der Kontakt zwischen Rastenleiste und Sperrstift bei unfallbedingter Deformation des Sperrstiftes in der Rastenleiste verbessert werden, wie dies auch in dem Ausführungsbeispiel nach Figur 2 prinzipiell ersichtlich ist. Jedenfalls sollen die Rillen in den Sperrstiften nach diesem Ausführungsbeispiel der D7, also gemäß Spalte 5, Zeilen 49 bis 56, nicht dafür zur Verfügung stehen, mit dem Material des Führungsteiles am unteren Ende der Stiftbohrung in Wechselwirkung zu treten. Von der in der D7 offenbarten Ausführungsform einer Arretiervorrichtung unterscheidet sich der Gegenstand nach dem erteilten Patentanspruch 1 daher in den Merkmalen 5.1, 6. und 8. Insoweit ist auch der Hinweis der Klägerin auf ihre veränderte Darstellung der Figur 1 der D7 gemäß ihrem Schriftsatz vom 10. Oktober 2011 nicht hilfreich, denn die dort von der Klägerin eingezeichneten Rillenbereiche sind in ihrer Ausdehnung so in der D7 nicht beschrieben und dargestellt. Ferner beschreibt die D7 ein anderes Konstruktions- und Wirkprinzip, nämlich eine Wechselwirkung der gerillten Sperrstifte mit der Rastenleiste.
81
Eine weitere Ausführungsform in der D7 sieht gemäß Figur 3 bis 5 und zugehöriger Beschreibung, Spalte 4, Zeile 68 bis Spalte 5, Zeile 48, vor, ein als blockartiges Bauteil ausgestaltetes Führungsteil (34) im unteren Bereich verformbar zu gestalten, damit nicht nur der Sperrstift, sondern mit ihm auch der untere Teil des Führungsteils durch unfallbedingte Krafteinwirkung so verformt werden, dass der verformte Sperrstift in Anlage zu einem weiteren sperrenden Stift kommt und den Sitz so stabilisiert (vgl. Fig. 3,4 und Spalte 5, Zeilen 15 bis 28). Bei dieser Ausführungsform sind jedoch keinerlei Rillen beschrieben oder dargestellt, die in die Sperrstifte eingebracht sind und mit weiteren Strukturen (z. B. des Führungsteils) in Wechselwirkung treten. Daher unterscheidet sich der Gegenstand des erteilten Patentanspruchs 1 von dieser in der D7 offenbarten zweiten Ausführungsform einer Arretiervorrichtung in allen seinen auf Sperrstifte mit Rillen gerichteten Merkmalen, nämlich den Merkmalen 3.2.3 sowie 5. bis 8., weshalb diese Ausführungsform vom Patentgegenstand noch erheblich weiter ab liegt als die vorher abgehandelte Ausführungsform.
82
Nach alledem kann die D7, auch im Hinblick auf ihre dem Patentgegenstand näher kommende Ausführungsform bezüglich mit Rillen versehener Sperrstifte und Raststege, eine Arretiervorrichtung mit den Merkmalen des erteilten Anspruchs 1 nicht nahe legen.
83
Auch in einer Zusammenschau mit dem Stand der Technik nach D9 vermag die D7 die auf zwei beabstandete Einzelrillen gerichteten Merkmale 5.1 und 7. sowie das auf eine Wechselwirkung der Rillen im Sperrstift mit dem Material des Führungsteils am unteren Ende der Stiftbohrung gerichtete Merkmal 8. sowie die technische Voraussetzung hierzu gemäß Merkmal 6. nicht zu erbringen.
84
3.3. Die von der Klägerin hierzu noch genannte DE 297 00 866 U1 (D2) zeigt in einer Schnittdarstellung gemäß Figur 3 einen Sperrstift (17) in einem Führungsteil (14), der in die Rastöffnung (12) der Rastenleiste eingreift und mittels einer Feder (16) in Richtung auf die Rastöffnung (12) vorgespannt ist (vgl. hierzu Seite 6, Zeilen 27 bis 29 der D2). Der in Figur 3 dargestellte Sperrstift (17) lässt zwar eine einzige Rille erkennen, die sich ihrerseits aber, selbst in dem nach unten vorgespannten und damit in die Rastöffnung (12) eingerasteten Zustand des Sperrstiftes (17), bei weitem nicht in der Nähe des unteren Endes der zugehörigen Stiftbohrung befindet. Daher kann sie auch nicht zur Verfügung stehen, mit dem Material des Führungsteils am unteren Ende der Stiftbohrung in Wechselwirkung zu treten.
85
Daher kann die D2 einem Fachmann die Merkmale 5.1, 6., 7. und 8. des erteilten Patentanspruchs 1 weder vermitteln noch nahe legen.
86
Somit kann eine Zusammenschau des Standes der Technik nach D2 mit den Gegenständen gemäß D7 und D9 ebenfalls nicht zu einer Arretiereinrichtung mit den Merkmalen des erteilten Patentanspruchs 1 führen.
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87
3.4. Die im Rahmen der mündlichen Verhandlung von der Klägerin noch ausführlich behandelte DE 299 10 720 U1 (D1) zeigt eine gattungsgemäße Arretiereinrichtung (vgl. Fig.1), deren Sperrstifte (2 bis 5) jeweils lediglich eine einzige Rille erkennen lassen, so dass die Merkmale 5.1 und 7. dort nicht verwirklicht sind und auch nicht nahegelegt werden können. In dieser Entgegenhaltung wird die Sitzsicherung in einem Crash-Fall in zwei Varianten beschrieben. Gemäß Seite 12, 3. Absatz bis Seite 13, 1. Absatz der D1 wird hierzu lediglich ausgeführt, dass zur Sicherung des Sitzes in einem Crash-Fall die auf den Sitz wirkenden Kräfte entweder durch einen vollständig in die Rastöffnung eingeschobenen Sperrstift oder durch zwei teilweise mit ihrer Flanke ganz in der Rastöffnung befindliche Sperrstifte abgefangen werden sollen. Über eine Sicherung der Sperrstifte gegen ein Hinausdrücken nach oben werden an dieser Stelle keine Angaben gemacht.
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Die Sicherung der Sperrstifte selbst gegen unfallbedingtes Hochdrücken wird als weitere Variante der Herstellung einer erhöhten Crash-Festigkeit der beschriebenen Arretiereinrichtung auf Seite 15, 2. Absatz der D1 dargestellt. Dort wird eine bevorzugte Weiterbildung der in D1 offenbarten Arretiereinrichtung dahingehend beschrieben, dass sich der Absatz 25a der Rille des Sperrzahnes (z. B. 2; vgl. Fig. 2, 3) in einem Crash-Fall an einer Raste (11) der Rastschiene (10) verhaken soll. Somit wird hier textlich ein anderes Konstruktions- und Wirkprinzip als beim Patentgegenstand beschrieben, denn der Rillenbereich sollte sich gemäß Merkmal 6. in der Nähe des unteren Endes der Stiftbohrung befinden, wenn der Sperrstift in eine der Rastöffnung eingerastet ist. Dann sollte er gemäß Merkmal 8. mit dem Material des Führungsteils am unteren Ende der Stiftbohrung in Wechselwirkung treten. Dazu gibt aber die textliche Offenbarung der D1 weder Hinweise noch Anregungen.
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89
Nachdem die zeichnerische Darstellung gemäß Figuren 2 und 3 der D1 im Widerspruch zu der einzigen Textstelle der Beschreibung steht, die die Bedeutung des Absatzes (25a) der einzigen Rille des Sperrstiftes (2, 3) erläutert, wird der unvoreingenommene Fachmann die Zeichnung nach Figuren 2 und 3 lediglich als Durchgangsstellung der Stifte bzw. als zur Verriegelung des Sitzes in einer bestimmten Position notwendige Konstellation auffassen, bei der die eigentliche Sicherung für den Crash-Fall, wie auf Seite 15, 2. Abs. beschrieben, ein anderer und weiterer, hier nicht dargestellter Sperrstift übernimmt. Insoweit kann auch die Darstellung gemäß Figuren 2 und 3 dem Fachmann vor dem Hintergrund der Gesamtoffenbarung der D1 nicht eine Wechselwirkung der Rille der Sperrstifte mit dem unteren Ende der Stiftbohrung des Führungsteils i. S. v. Merkmal 8 nahe legen. Eine derartige Betrachtungsweise, wie sie die Klägerin bezüglich der Figuren 2 und 3 der D1 anstellt, wäre lediglich das Ergebnis einer rückschauenden Betrachtung in Kenntnis der Funktion und Wirkung des Patentgegenstandes.
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So kann auch die D1 einem Fachmann die Merkmale 5.1, 6., 7. und 8. des erteilten Patentanspruchs 1 nicht nahe legen.
91
Auch eine Zusammenschau des Standes der Technik nach D1 mit den Gegenständen gemäß D2, D7 und D9 kann nicht zu einer Arretiereinrichtung mit den Merkmalen des erteilten Patentanspruchs 1 führen.
92
3.5. Die von der Klägerin zu den Unteransprüchen noch genannte US 5 918 846 A (D11) liegt weiter ab, weil sie bereits keine mit Rillen versehenen Sperrstifte zum Gegenstand hat.
93
3.6. Die Frage der Vorbenutzung einer Arretiereinrichtung aus einem bestimmten Fahrzeug (Mercedes-Benz W 202, Fahrgestell-Nr. WDB 202 022 1A 277829) kann schon aus tatsächlichen Gründen nicht zum Erfolg führen, da es an ausreichender Darlegung samt Beweisangebot zur Situation zur Zeit der Erstzulassung des Fahrzeugs am 12. Mai 1995 und zum Zeitpunkt der Besitzübernahme durch Herrn R… am 12. Oktober 1995 (vgl. hierzu Fahrzeugbrief gemäß Anl. K8b) fehlt, während die Entnahme der Sitzeinrichtung und der entsprechenden Sperrstifte weit nach dem Zeitrang des Streitpatents erfolgte. Da die Klägerin für den Zeitraum vor der Besitzübernahme des maßgeblichen Fahrzeugs durch Herrn R… weder einen Sachvortrag hält noch Beweis anbietet, kann eine vor dem Zeitrang des Streitpatents erfolgte Benutzungshandlung, die einem uneingeschränkten Personenkreis zugänglich und kundbar gemacht wurde, nicht nachgewiesen werden. Ferner bestreitet die Klägerin nicht die Ausführungen der Beklagten, wonach der Fahrzeugtyp W 202 serienmäßig mit Sperrstiften mit nur einer einzigen Rille ausgestattet war. Die Klägerin trägt hierzu lediglich vor, dass nur die „vorbenutzten“ Stifte maßgeblich seien (Schriftsatz vom 10.10.2011), was nicht als relevantes Bestreiten des Beklagtenvorbringens gewertet werden kann. Nach alledem ist selbst bei unterstellter Richtigkeit des Vorbringens der Klägerin durch eine nicht serienmäßige Ausstattung eines PKW’s Öffentlichkeit nicht hergestellt worden. Dies muss zu Lasten der Klägerin gehen.
94
Im Übrigen könnte eine Arretiereinrichtung gemäß der behaupteten Benutzungshandlung, die hinsichtlich ihrer technischen Einzelheiten in den Anlagen K13 und 14 charakterisiert ist, einem Fachmann zumindest die Wechselwirkung der beiden Rillen mit dem Material des Führungsteils am unteren Ende der Stiftbohrung nach Merkmal 8. nicht nahe legen, denn die von der Klägerin hierzu in Anlage K14 vorgelegte Bemaßung lässt eine derartige Wirkung nicht zu, wie bereits zum Neuheitsvergleich ausführlich dargelegt wurde (vgl. Punkt IV. 2.).
95
Somit hätte eine Zusammenschau eines Gegenstandes nach der behaupteten Benutzungshandlung mit dem im Verfahren befindlichen druckschriftlichen Stand der Technik ebenfalls nicht zu einer Arretiereinrichtung mit den Merkmalen des erteilten Patentanspruchs 1 führen können.
96
Dies würde umso mehr noch für den Vortrag der Klägerin gelten, wonach die Rille R1 gemäß Anlage K15 allein die Funktion gemäß Merkmal 8. erfüllen könne, da diese Rille allenfalls bündig mit dem Ende des Führungsteils abschließt und damit innerhalb des Führungsteils liegen würde, wie auch an dem vorgelegten Modell zu erkennen war.
97
Die beanspruchte Lehre war auch nicht durch fachübliche Erwägungen ohne weiteres auffindbar, sondern bedurfte darüber hinausgehender Gedanken und Überlegungen, die auf erfinderische Tätigkeit schließen lassen.
98
Der Patentanspruch 1 in der erteilten Fassung (Hauptantrag) hat daher Bestand.
99
4. Die ebenfalls angegriffenen Unteransprüche 2 bis 14, die Ausgestaltungen der Erfindung nach Patentanspruch 1 enthalten, werden vom bestandsfähigen Hauptanspruch getragen, ohne dass es hierzu weiterer Feststellungen bedarf (BPatGE 34, 215).
100
5. Nachdem der Senat bereits die Patentfähigkeit des erteilten Patentanspruchs 1 bejaht und eine unzulässige Erweiterung dort und in den erteilten Unteransprüchen nicht sieht, bedurfte es keines weiteren Eingehens mehr auf die von der Beklagten eingereichten Hilfsanträge.
V.
101
Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 Abs. 2 PatG i. V. m. § 91 Abs. 1 ZPO; die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 99 Abs. 1 PatG i. V. m. § 709 ZPO.


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