Aktenzeichen 3 B 20.2778
Leitsatz
Verfahrensgang
M 5 K 18.2084 2020-03-10 Urt VGMUENCHEN VG München
Tenor
I. Die Berufung wird zurückgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
IV. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
Die zulässige Berufung bleibt ohne Erfolg.
1. Die Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO) ist zulässig. Insbesondere ist das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts nicht wegen der unter dem 26. Juli 2013 verfügten Versetzung in den Ruhestand wegen dauerhafter Dienstunfähigkeit entfallen. Die Feststellung der begrenzten Dienstfähigkeit entfaltet weiterhin Rechtswirkungen. Sie war zum einen Grundlage für die Einbehaltung eines Teils der Dienstbezüge (hier für den Zeitraum vom 27. März 2012 bis 31. August 2013). Zum anderen wirken sich die Zeiten der eingeschränkten Verwendung nach wie vor auf die Höhe der Versorgungsbezüge aus.
2. Die Klage ist jedoch nicht begründet.
2.1 Maßgeblicher Zeitpunkt für die gerichtliche Überprüfung der Feststellung der begrenzten Dienstfähigkeit ist derjenige der letzten Verwaltungsentscheidung, hier also der Sach- und Rechtsstand zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids am 31. Mai 2012 (vgl. BVerwG, B.v. 5.11.2013 – 2 B 60.13 – juris Rn. 8; ausdrücklich zur begrenzten Dienstfähigkeit: OVG NW, U.v. 23.11.2010 – 6 A 2270/07 – juris Rn. 28; BayVGH, B.v. 15.7.2014 – 3 CS 14.436 – juris Rn. 22).
2.2 Nach § 27 Abs. 1 BeamtStG in der Fassung vom 1. April 2009 bis zum 6. Juni 2021 (BeamtStG a.F.) soll von der Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit abgesehen werden, wenn die Beamtin oder der Beamte unter Beibehaltung des übertragenen Amtes die Dienstpflichten noch während mindestens der Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit erfüllen kann (begrenzte Dienstfähigkeit). Indem § 27 Abs. 1 BeamtStG a.F. vorschreibt, dass für den Fall der begrenzten Dienstfähigkeit von der Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit abgesehen werden soll, wird zum Ausdruck gebracht, dass (abgesehen von atypischen Ausnahmefällen) alle übrigen Voraussetzungen für eine Versetzung in den Ruhestand nach § 26 BeamtStG – einschließlich insbesondere einer nicht möglichen anderweitigen (vollständigen) Verwendung – gegeben sein müssen, bevor das Institut der begrenzten Dienstfähigkeit zur Anwendung gebracht werden kann (Schnellenbach/Bodanowitz, Beamtenrecht in der Praxis, 10. Aufl. 2020, § 55 Rn. 58 m.w.N.).
2.2.1 Der Kläger war am 31. Mai 2012 nur begrenzt dienstfähig. Das steht zur Überzeugung des Senats aufgrund des psychiatrisch fachärztlichen Gutachtens des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie, PD Dr. P., vom 6. Januar 2022, das von dem Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung erläutert wurde, fest. Der Sachverständige hat für den Senat schlüssig und überzeugend dargelegt, dass der Kläger bereits deutlich vor dem hier maßgeblichen Zeitpunkt (Mai 2012) krankheitstypische Verhaltensauffälligkeiten entwickelte, die später (2015) zu der Diagnose einer schizoiden Persönlichkeitsstörung nach ICD 10 F60.1 führten.
Der Sachverständige verweist zunächst auf sein Gutachten vom 4. November 2015, wonach bei dem Kläger zum Zeitpunkt der Begutachtung 2015 und in Bezug auf die damalige Fragestellung der Dienstfähigkeit auf psychiatrischem Fachgebiet die Diagnose einer schizoiden Persönlichkeitsstörung nach ICD 10 F60.1 vorlag. Daran anknüpfend verweist er darauf, dass es sich bei Persönlichkeitsstörungen um schwere Störungen der charakterlichen Konstitution und des Verhaltens handelt, die meist in der Kindheit oder in der Adoleszenz in Erscheinung treten und während des Erwachsenenalters weiterbestehen. Daraus zieht er den Schluss, dass allein schon deshalb davon auszugehen sei, dass die entsprechenden störungstypischen Erfahrungs- und Verhaltensmuster bereits weit vor der Diagnosestellung im Rahmen der Begutachtung 2015 in erheblicher Ausprägung vorgelegen haben müssen. Der Sachverständige beschränkt sich jedoch nicht auf diesen Erfahrungssatz, sondern begründet seine Auffassung zusätzlich aus der Gesamtschau der vorliegenden medizinischen Untersuchungsbefunde sowie der Beschreibungen des Verhaltens des Klägers durch Vorgesetzte. So werde bereits in einer Verhaltensbeschreibung im Jahr 2010 eine erhebliche Störungssymptomatik festgestellt. Dort sei davon die Rede, dass der Kläger seit sechs Monaten sein Verhalten zunehmend weniger unter Kontrolle habe, was die Zusammenarbeit mit ihm deutlich erschwere. Das Verhalten sei bereits seit Jahren durch stetige Unruhe, das wiederholte grundlose Verlassen des Arbeitsplatzes bzw. reglose Starren auf seinen Bildschirm oder aus dem Fenster sowie aggressiven Unmut geprägt. Im Oktober 2010 habe er während eines Kritikgesprächs mit dem Referatsleiter unvermittelt den Platz verlassen, sei ungehalten in sein Team zurückgekommen und sofort schimpfend und fluchend nach Hause gegangen; außerhalb des Großraumbüros habe er dann seinen Rucksack gegen die Wand geschleudert. Auffallend sei ein dauerhaftes lautes Schimpfen und Fluchen am Arbeitsplatz. Im Jahr 2011 sei eine weitere Verstärkung der störungsbedingten Verhaltensmuster beschrieben worden; nunmehr sei auch von Nachstellungen und Annäherungsversuchen gegenüber Kolleginnen die Rede. Der Entlassbrief des P. H. Klinik Bad G. aus dem Jahr 2011 stelle eine ausgeprägte schwer beeinträchtigende Störung fest. Der Kläger werde als für den jetzigen Arbeitsplatz nicht mehr ausreichend belastbar beschrieben. Ein Arbeitsplatzwechsel und eine langsame und vorsichtige Wiedereingliederung seien empfohlen worden. Es werde eine „längerfristig als vorsichtig“ zu stellende Prognose gestellt. Auch wiesen die regelmäßigen Untersuchungen beim Gesundheitsamt N. (8.12.2010, 11.1.2012, 4.10.2012, 9.4.2013) auf eine seit mindestens 2010 bestehende Verstärkung der langjährig bereits vorbestehenden bizarren Verhaltensmuster bei dem Kläger hin. Im Jahr 2010 werde eine verminderte Anpassungsfähigkeit an normative Gegebenheiten gepaart mit einer herabgesetzten Empathie für Menschen beschrieben. Im Januar 2012 sei davon die Rede, dass beim Einsatz am bisherigen Einsatzort in absehbarer Zeit allenfalls mit der Wiederherstellung einer begrenzten Dienstfähigkeit zu rechnen sei, wobei eine angemessene Eingliederungsphase bis zu einem halben Jahr nicht unwahrscheinlich sei. Im Oktober 2012 habe sich der Amtsarzt auf ein Gutachten des Landgerichtsarztes Dr. H. vom 10. Juli 2012 in einer Strafsache gegen den Kläger wegen Belästigung berufen. Der Gutachter gehe beim Kläger vom Vorliegen einer gravierenden Störung aus. Dies decke sich auch mit seinen durch die dritte amtsärztliche Untersuchung innerhalb von zwei Jahren gesammelten Informationen. Beim Kläger bestehe eine tiefgreifende chronische Störung mit Auswirkungen auf sämtliche Lebensbereiche, insbesondere der sozialen Interaktion. Eine Wiederherstellung der vollen diensttätigkeitsbezogenen Dienstfähigkeit in Zukunft sei unwahrscheinlich.
Aus gutachterlicher Sicht sei damit ein sehr typischer Verlauf der durch die beim Kläger vorliegenden Störungsbilder verursachten Funktionseinschränkungen widerspruchsfrei von verschiedenen Seiten dargestellt und könne stringent nachvollzogen werden. Die Entwicklung der Störungsmuster und der Funktionseinschränkungen könnten als typisch bezeichnet werden. Bei langjährig andauernden zugrundliegenden Störungsbildern komme es zunehmend zu Funktionseinschränkungen, die mit der Zeit immer weniger z.B. durch kognitive Prozesse und Anstrengungen der Verhaltenskontrolle kompensiert werden könnten. In der Zusammenschau entstehe ein schlüssiges und auch retrospektiv sehr gut nachvollziehbares Gesamtbild eines typischen Verlaufs der Erkrankung und ihrer Folgen für die intellektuelle, soziale und emotionale Leistungsfähigkeit des Klägers mit daraus resultierenden entsprechenden Funktionseinschränkungen im beruflichen und privaten Umfeld. Die krankheitsbedingten Funktionsstörungen und Einschränkungen, hier insbesondere die deutlich verringerte psychische Belastbarkeit, die deutliche Einschränkung der Emotionalität, die massive Verringerung der Frustrationstoleranz bei ausgeprägter Externalisierung von Konflikten und deutlicher Einschränkung der Kritikfähigkeit im Hinblick auf eigene Verhaltensmuster, die deutlich reduzierte soziale Anpassungsfähigkeit und die daraus resultierenden Beeinträchtigungen im Umgang mit Publikum, Mitarbeitern und Kollegen hätten seit mindestens 31. Mai 2012 in einem Ausmaß bestanden, das eine erhebliche Einschränkung der Dienstfähigkeit begründet habe.
Die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen sind auch aus der Laiensphäre ohne weiteres einsichtig und ergebend ein stimmiges Bild, sodass sich der Senat diesen anschließt. Aus der sehr gut dokumentierten Krankheitsgeschichte bestehen keine Zweifel, dass erhebliche und gravierende Einschränkungen sowohl zeitlicher wie inhaltlicher Natur schon zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids (31.5.2012) vorgelegen haben. Das bestätigt letztlich auch Dr. H. in seinem Gutachten vom 10. Juli 2012, der – bezogen auf den für das Strafverfahren maßgeblichen Zeitraum vom 18. Mai bis 18. August 2011 – vom „Wetterleuchten“ einer heranziehenden schweren psychischen Erkrankung spricht.
2.2.2 Gegen die Richtigkeit des Sachverständigengutachtens hat der Kläger keine durchgreifenden Bedenken erhoben. Er wendet ein, das sowohl das gerichtliche Sachverständigengutachten vom 6. Januar 2022 und die dort in Bezug genommenen ärztlichen Stellungnahmen, insbesondere die Gesundheitszeugnisse vom Gesundheitsamt N. als auch das im Verfahren vor dem Verwaltungsgerichts München (Az.: M 5 K 14.642) vom Sachverständigen erstattete Gutachten vom 4. November 2015 unvollständig und nicht nachvollziehbar seien. Eine Begründung für diese Auffassung gibt er indes nicht. Er merkt lediglich an, dass der Befund, wonach beim Kläger „eine intellektuelle Leistungsfähigkeit (…) im unteren Durchschnittsbereich, möglicherweise auch im unterdurchschnittlichen Bereich“ (vgl. Gutachten vom 4.11.2015, Bl. 65) festgestellt worden sei, nicht in Einklang mit dem Vermerk in der dienstlichen Beurteilung des Klägers aus dem Jahr 2012 zu bringen sei, wonach er über eine schnelle Auffassungsgabe und einen überdurchschnittlichen IQ verfüge. Gemeint ist damit wohl das Gutachten, das im Rahmen des Strafverfahrens eingeholt worden war. Bei den dort eingesetzten intelligenztestpsychologischen Untersuchungen wurden Hinweise auf eine überdurchschnittliche Intelligenz abgeleitet. Der Kläger berücksichtigt indes nicht, dass der gerichtliche Sachverständige die intelligenztestpsychologischen Untersuchungen im Rahmen des strafrechtlichen Gutachtens ausdrücklich als fehlerhaft und veraltet (vgl. Gutachten vom 4.11.2015 a.a.O.) bezeichnet hat. Eine Auseinandersetzung mit dieser Aussage liefert die Berufungsbegründung nicht.
Der Kläger vermag schließlich auch nicht mit dem Einwand durchzudringen, in einer anderen Abteilung der Beklagten wäre er vollständig dienstfähig gewesen. Hierzu hat der Sachverständige in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar ausgeführt, dass er eine alternative Verwendung des Klägers zum damaligen Zeitpunkt aufgrund seiner Erkrankung nicht ansatzweise sehe. Die vom Kläger vorgeschlagenen Einsatzgebiete (Personalverwaltung und -entwicklung; Öffentlichkeitsarbeit) seien mit besonders viel sozialer Interaktion verbunden und deshalb für ihn in keiner Weise geeignet.
Die Berufung des Klägers war daher zurückzuweisen.
3. Der Kostenausspruch beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 10, § 711 ZPO.
4. Die Revision war mangels Vorliegen der Voraussetzungen des § 132 Abs. 2, § 191 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 127 BRRG nicht zuzulassen.