Sozialrecht

(Sozialgerichtliches Verfahren – “Widerspruch” als Rechtsmittel gegen einen Rechtsbescheid des SG – Auslegungsmöglichkeit: Berufung oder Nichtzulassungsbeschwerde – Unstatthaftigkeit der Berufung gem § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG – versperrte Auslegung als Nichtzulassungsbeschwerde – Befangenheitsgesuch der Rechtsmittelführerin)

Aktenzeichen  L 6 KR 19/21

Datum:
21.4.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt 6. Senat
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:LSGST:2022:0421.L6KR19.21.00
Normen:
§ 143 SGG
§ 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG
Spruchkörper:
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Leitsatz

1. Ein als “Widerspruch” eingelegter Rechtsbehelf gegen einen Gerichtsbescheid eines Sozialgerichts kann nach den Gesamtumständen sowohl als Berufung als auch als Nichtzulassungsbeschwerde ausgelegt werden. (Rn.17)


2. Die Auslegung als Nichtzulassungsbeschwerde wegen Unstatthaftigkeit einer Berufung ist versperrt, wenn die Rechtsmittelführerin den Hinweis auf diese Auslegung zum Anlass für eine Befangenheitsablehnung nimmt. (Rn.17)

Verfahrensgang

vorgehend SG Magdeburg, 22. Januar 2021, S 25 KR 222/18, Gerichtsbescheid

Tenor

Die Berufung wird verworfen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich mit ihrer Berufung gegen einen Gerichtsbescheid des Sozialgerichts, mit dem dieses eine Erstattungsforderung wegen Medikamentenkosten in Höhe von 237,53 € abgewiesen hat.
Die Klägerin stellte mit Schreiben vom 26. Februar 2017 bei der Beklagten den Antrag auf Zahlung des Betrages, den sie hinsichtlich der Anteile für drei verschiedene augenärztliche Medikamente aufschlüsselte. Beigefügt war ein Beleg über die Medikamenteneinkäufe von einer Apotheke im Jahr 2016, worin die geltend gemachten Kosten enthalten waren.
Mit Bescheid vom 28. März 2017 lehnte die Beklagte die Zahlung auf die Erstattungsforderung wegen der drei Medikamente nach dem vorgelegten Beleg wegen fehlender ärztlicher Verordnungen ab.
Der dagegen noch im selben Monat unter allgemeiner Berufung auf erteilte Zusagen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos; der Widerspruchsausschuss der Beklagten wies ihn mit Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 2018 zurück.
Mit ihrer noch im selben Monat erhobenen Klage hat die Klägerin weiterhin eine Überschreitung der Bearbeitungszeit geltend gemacht und behauptet, eine Übernahme der Kosten sei Inhalt einer einstweiligen Anordnung gewesen.
Das Sozialgericht hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 22. Januar 2021 abgewiesen. Es hat ausgeführt, die Klage sei unbegründet, weil die Klägerin keinen Anspruch auf Erstattung ihrer Kosten von 237,53 € für die selbst beschafften drei Arzneimittel habe. Es handele sich dabei um nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel, die gem. § 34 Abs. 1 S. 1 SGB V von der Versorgung nach § 31 SGB V ausgeschlossen seien. Eine Zusicherung der Kostenübernahme durch die Beklagte habe die Klägerin nicht belegt.
Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin am 2. Februar 2020 „Widerspruch“ erhoben und die Notwendigkeit der Medikamente betont.
Auf den Hinweis des Vorsitzenden und Berichterstatters, wegen Unterschreitung der Statthaftigkeitssumme von 750,- € lege er den Widerspruch als Nichtzulassungsbeschwerde aus, hat die Klägerin ihn (erfolglos) als befangen abgelehnt und dazu ausgeführt, die angebliche Unterschreitung der Berufungssumme sei eine Falschaussage. In der Folge hat das Gericht die Klägerin darauf hingewiesen, es sehe sich nunmehr an einer Auslegung des Widerspruchs als Nichtzulassungsbeschwerde gehindert.
Die Klägerin beantragt (nach ihrem schriftlichen Vortrag sinngemäß),
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 22. Januar 2021 und den Bescheid der Beklagten vom 28. März 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 8. Mai 2018 aufzuheben und ihr die darin näher bezeichneten Kosten zu erstatten.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie schließt sich der Entscheidung des Sozialgerichts an.
In der mündlichen Verhandlung und bei der Entscheidung hat neben der Gerichtsakte ein Ausdruck der elektronischen Akte der Beklagten zu dem Erstattungsvorgang vorgelegen und war Gegenstand der Verhandlung.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.
Sie ist gem. § 143 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG unzulässig, weil der Wert des Beschwerdegegenstandes den Betrag von 750,- € nicht übersteigt.
Der Senat legt das Rechtsmittel der Klägerin als Berufung und nicht als Nichtzulassungsbeschwerde aus, weil nur dies ihrem wirklichen Willen entspricht. Denn die Erklärung der Klägerin, jede Überlegung, wonach die Beschwer durch den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts 750,- € nicht erreiche, stelle eine Falschaussage dar, schließt eine Auslegung ihres „Widerspruchs“ gegen den Gerichtsbescheid als Nichtzulassungsbeschwerde aus. Diese Auslegung setzte nämlich voraus, dass der Erklärende die Unterschreitung der Berufungssumme zumindest als Möglichkeit offen lässt. Eine Nichtzulassungsbeschwerde muss und kann sie nämlich nur einlegen, wenn die Berufung selbst unzulässig ist. Ein solches Verständnis der Verfahrenslage bei der Klägerin ist hier auszuschließen, zumal der Bevollmächtigte der Klägerin den Hinweis auf eine solche Auslegung zum Anlass für ein Befangenheitsgesuch gegen den Vorsitzenden und Berichterstatter genommen hat.
Die Berufung der Klägerin richtet sich gegen einen Gerichtsbescheid, mit dem das Sozialgericht die Klage auf Erstattung der konkreten Forderung von 237,53 € abgewiesen hat. Dieser Gegenstand unterschreitet die nach § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGG maßgebliche Summe von 750,- €. Die Klage konnte sich nicht schon ihrem Gegenstand nach ohne ausdrückliche Klageerweiterung auf später entstandene Kosten ausdehnen, weil solche nicht Gegenstand der angefochtenen Ablehnung waren. Diese umfasste nämlich ausschließlich Kosten aus dem Beleg für das zurückliegende Jahr 2016.
Die Kostenentscheidung richtet sich in Anwendung von § 193 SGG nach dem Unterliegen der Klägerin.
Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 2 SGG liegen nicht vor, weil sich die Lösung unmittelbar aus dem Gesetzeswortlaut ergibt.


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