Sozialrecht

Tragfähigkeitsprognose für Folge-Gründungszuschuss

Aktenzeichen  L 9 AL 207/14

Datum:
7.7.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB III SGB III § 93, § 94, § 422

 

Leitsatz

1 Für einen Folge-Gründungszuschuss ist die Tragfähigkeitsprognose nicht auf den durchschnittlichen Monatsgewinn der Existenzgründungsphase zu stützen, sondern auf die Gewinndynamik in diesem Zeitraum. (redaktioneller Leitsatz)
2 Die Prognose ist zeitgebunden und selbst dann negativ, wenn wegen hoher Investitionen ein Gewinn erst nach der zweiten Gründnungsphase und damit die Tragfähigkeit erst nach dem Förderzeitraum abzusehen ist. (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 5 AL 949/12 2014-08-26 Urt SGMUENCHEN SG München

Tenor

I.
Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts München vom 26. August 2014 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die Berufung der Klägerin hat keinen Erfolg.
Der Senat war nicht gehindert, trotz des Ausbleibens der Klägerin mündlich zu verhandeln und durch Urteil zu entscheiden. In der ordnungsgemäßen Ladung war ein korrekter Hinweis auf die Folgen des Fernbleibens enthalten. Das rechtliche Gehör der Klägerin ist gewahrt.
Der Senat definiert den Streitgegenstand wie das Sozialgericht dahin, dass die Klägerin lediglich eine Verurteilung der Beklagten zur Neubescheidung begehrt. Eine Verurteilung zur Leistung hat die Klägerin nicht beantragt. Somit liegt keine Kombination von Haupt- und Hilfsantrag vor. Auch vor dem Hintergrund des Grundsatzes der Meistbegünstigung (vgl. dazu Leitherer, in: Meyer-Ladewig/Keller/ders., SGG, 11. Auflage 2014, § 92 Rn. 12 mit weiteren Nachweisen zur Rechtsprechung des Bundessozialgerichts) und einer daraus abgeleiteten „klägerfreundlichen“ Auslegung der relevanten Prozesserklärungen vermag der Senat nicht, die direkte Verurteilung der Beklagten als Klage- und Berufungsziel zu erkennen. Zu eindeutig hat sich die Klägerin darauf beschränkt, die Neubescheidung zu verlangen. In der mündlichen Verhandlung vor dem Sozialgericht hat sie ausschließlich einen Antrag auf Neubescheidung zu Protokoll gegeben. Des Weiteren hat sie in der Berufungsinstanz zu keiner Zeit auch nur angedeutet, das Sozialgericht könnte das Klageziel zu eng gefasst haben. Vor allem hat sie in ihrem umfangreichen schriftlichen und mündlichen Sachvortrag stets nur eine fehlerhafte Ausübung des Ermessens gerügt, nie aber die Position vertreten, sie könnte einen Rechtsanspruch auf Bewilligung des Folge-GZ ohne Ermessensausübung haben.
Die Berufung ist zwar zulässig, jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der angefochtene Bescheid vom 19.07.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 06.11.2012 ist rechtmäßig und verletzt deshalb die Klägerin nicht in ihren Rechten. Nur der Information halber weist der Senat darauf hin, dass die Berufung auch hinsichtlich eines Antrags auf Verurteilung der Beklagten zur Leistung – der wie oben ausgeführt nicht vorliegt – unbegründet wäre.
Schon die Tatbestandsvoraussetzungen für die Gewährung des Folge-GZ sind nicht erfüllt, so dass von vornherein kein behördliches Ermessen eröffnet ist. Einschlägige Rechtsgrundlage sind §§ 93 und 94 SGB III in der ab 01.04.2012 geltenden, auch heute noch aktuellen Fassung.
Nach § 93 Abs. 1 SGB III können Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die durch Aufnahme einer selbstständigen, hauptberuflichen Tätigkeit die Arbeitslosigkeit beenden, zur Sicherung des Lebensunterhalts und zur sozialen Sicherung in der Zeit nach der Existenzgründung einen GZ erhalten. Aus § 93 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB III geht hervor, dass ein GZ nur dann gewährt werden darf, wenn sich die Existenzgründung als tragfähig erweist; insofern legt das Gesetz eine Nachweisobliegenheit der Arbeitnehmerin oder des Arbeitnehmers fest.
Nach § 94 Abs. 1 SGB III wird für die Dauer von sechs Monaten als GZ der Betrag geleistet, den die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer als Arbeitslosengeld zuletzt bezogen hat, zuzüglich monatlich 300 Euro. Diese Bestimmung betrifft die so genannte erste Phase der Existenzgründung. Für die zweite Phase legt § 94 Abs. 2 SGB III Folgendes fest:
1. Der Gründungszuschuss kann für weitere neun Monate in Höhe von monatlich 300 Euro geleistet werden, wenn die geförderte Person ihre Geschäftstätigkeit anhand geeigneter Unterlagen darlegt. 2Bestehen begründete Zweifel an der Geschäftstätigkeit, kann die Agentur für Arbeit verlangen, dass ihr erneut eine Stellungnahme einer fachkundigen Stelle vorgelegt wird.
Zutreffend hat das Sozialgericht entschieden, dass gemäß § 422 Abs. 2 SGB III auf die Weiterbewilligung das ab 01.04.2012 geltende (neue) Recht Anwendung findet. Damit ist für die Weiterbewilligung nicht mehr § 58 Abs. 2 SGB III in der vor dem 01.04.2012 geltenden Fassung einschlägig, sondern wie ausgeführt § 94 Abs. 2 SGB III in der aktuellen Fassung. Daran vermag nichts zu ändern, dass sich die Bewilligung des GZ für die erste Phase bei der Klägerin noch nach altem Recht richtete. Denn die Bewilligung des Folge-GZ impliziert einen eigenen Entstehungstatbestand im Sinn von § 422 Abs. 1 Nr. 1 SGB III. Das zeigt § 40 Abs. 2 des Sozialgesetzbuchs Erstes Buch; nach dieser Vorschrift wird bei Ermessensleistungen deren Entstehen grundsätzlich dann angenommen, wenn die Entscheidung über die Bewilligung der Leistungen der begünstigten Person bekanntgegeben wird. Wenn aber für den Folge-GZ ein eigener Entstehungstatbestand vorliegt, dann muss insoweit gemäß § 422 Abs. 1 Nr. 1 SGB III gerade das Recht Anwendung finden, das zum Zeitpunkt dieses Entstehens gegolten hat.
Der begehrte Folge-GZ konnte der Klägerin schon deswegen nicht bewilligt werden, weil zum Zeitpunkt der letzten Entscheidung über den Antrag – also zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids – die Tragfähigkeit der Existenzgründung für die zweite Phase bei prognostischer Betrachtung nicht gegeben war. Der Aspekt der weiteren Tragfähigkeit verkörpert kein Element, das lediglich im Rahmen des Ermessens zu berücksichtigen wäre. Denn die Ermächtigung zur Zahlung eines Folge-GZ ist in § 94 SGB III verortet, der die Überschrift „Dauer und Höhe der Förderung“ trägt. Daraus, dass § 94 SGB III ausweislich seiner Überschrift nur Dauer und Höhe regelt, schließt der Senat, dass die Voraussetzungen dem Grunde nach – auch für den Folge-GZ – nicht dort statuiert sind, sondern sich an anderer Stelle, also in § 93 SGB III finden müssen. § 93 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB III gilt demnach auch für die Weiterbewilligung. Es handelt sich um eine Rechtmäßigkeitsvoraussetzung, die das Gericht voll zu prüfen hat.
Im Hinblick auf ihre Prüfungs- und Entscheidungsstruktur weist die Bewilligung eines GZ – auch eines Folge-GZ – Besonderheiten auf: Einige Tatbestandsmerkmale von § 93 Abs. 1, 2 SGB III sind zukunftsbezogen. Insoweit enthält die Entscheidung zwangsläufig Prognoseelemente (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.02.2015 – L 14 AL 7/11, RdNr. 43). Dazu gehört auch die Beurteilung der Tragfähigkeit. Das Erfordernis der Tragfähigkeit bringt nicht lediglich eine formelle Obliegenheit des Existenzgründers zum Ausdruck, die er damit erfüllen kann, dass er schlicht eine positive Stellungnahme einer fachkundigen Stelle beschafft und einreicht. Vielmehr müssen die materiellen Voraussetzungen objektiv erfüllt sein, sprich die Tragfähigkeit der Existenzgründung muss tatsächlich vorliegen. Letztlich kommt es darauf an, ob die Tragfähigkeit ex ante betrachtet, also prognostisch, objektiv vorliegt oder fehlt. Dabei billigt der Senat der Beklagten keinen prognosebedingten Beurteilungsspielraum (auf der „Tatbestandsseite“) zu.
Wegen der vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit der Tragfähigkeitsprognose spielt es keine Rolle, ob die Beklagte die Tragfähigkeit fehlerhaft ermittelt hat. Ausschlaggebend ist vielmehr, welche Prognose objektiv getroffen werden musste. Daher kann es sich nicht zugunsten der Klägerin auswirken, dass die Beklagte im vorliegenden Fall tatsächlich einen Fehler beging, der potenziell geeignet war, sich zu Ungunsten der Klägerin auszuwirken. So hält es der Senat für methodisch falsch, dass die Beklagte ihre negative Prognose auf der Basis des durchschnittlichen monatlichen Gewinns seit Beginn der Existenzgründung getroffen hat. Denn anzustellen war die Prognose, ob die Klägerin ab dem zehnten Monat ihrer Existenzgründung in der Lage war, ihren Lebensunterhalt mit Ausnahme der Beiträge für die soziale Sicherung aus ihrem Gewinn zu bestreiten. Dabei hätte die Beklagte angesichts dessen, dass erfahrungsgemäß und regelmäßig die Erträge am Beginn der selbstständigen Tätigkeit am geringsten sind und dann steigen, auf die Gewinndynamik innerhalb der ersten Phase abstellen müssen. Die bloße Bildung eines Durchschnittsgewinns ohne Rücksicht darauf, wann welche Gewinne zugeflossen sind, erscheint nicht aussagekräftig.
Wenn die Beklagte auch methodisch falsch vorgegangen ist, so trifft ihr Prognoseergebnis dennoch zu. In der Tat liegt eine Tragfähigkeit im Sinn von § 93 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 SGB III nicht vor. Zu diesem Ergebnis kommt der Senat, wenn er, wie es der Prognosecharakter der Entscheidung erfordert, eine Ex-ante-Perspektive einnimmt; er darf in die Beurteilung keine Umstände berücksichtigen, die erst nachträglich eingetreten sind. Zum danach maßgeblichen Zeitpunkt im Juli 2012 (Erlass des Ablehnungsbescheids) beziehungsweise im November 2012 (Erlass des Widerspruchsbescheids) war eine Tragfähigkeit für die ab 24.08.2012 beginnende zweite Phase nicht zu erkennen.
Angesichts der dargestellten zeitlichen Gebundenheit der Prognose muss außer Betracht bleiben, dass sich das Unternehmen der Klägerin im Jahr 2013 ausweislich des entsprechenden Einkommensteuerbescheids (festgestellter Jahresgewinn ca. 18.200 EUR) offenbar stabilisiert hatte. Die bis November 2012 eingetretenen Fakten – darauf kommt es an – ließen eine positive Prognose nicht zu. Dabei kann der Senat dahin stehen lassen, welcher zu erwartende monatliche Gewinn zur Bejahung der Tragfähigkeit geführt hätte. Jedenfalls war prognostisch deutlich abzusehen, dass die Klägerin nicht einmal einen Gewinn erzielen würde, der dem von der Beklagten zugrunde gelegten Betrag von 950 EUR monatlich entsprach. Der Senat macht kein Hehl daraus, dass er den Maßstab der Beklagten, 950 EUR als Bruttoeinkommen zu verlangen, für zu großzügig hält. Doch selbst davon war die Klägerin ex ante betrachtet weit entfernt.
In ihrem Weiterbewilligungsantrag lieferte die Klägerin keine Informationen, die ihr hätten helfen können: Sie habe im ersten Halbjahr einen Umsatz von 6.000 EUR erzielt und Betriebsausgaben in Höhe von 3.000 EUR gehabt. Daraus lässt sich nur ersehen, dass sie im Durchschnitt 500 EUR an Gewinn zu verzeichnen hatte. Die Verteilung auf die Monate teilte sie indes nicht mit. Auch der Widerspruch der Klägerin ließ nicht den Schluss zu, die Unternehmung sei in der zweiten Phase tragfähig. Die Klägerin gab in diesem Zusammenhang bekannt, sie habe 2012 bis Ende Juli 9.500 EUR umgesetzt, woraus sie – bei erneut 3.000 EUR Betriebskosten – einen Gewinn von 6.500 EUR errechnete. Dazu schrieb sie, in der Anfangsphase der Selbstständigkeit hätte man mit erhöhten Anlaufkosten zu kämpfen. Für die Monate September und Oktober habe sie Auftragszusagen in Höhe von 5.000 EUR.
Damals (im August 2012) zeichnete sich jedoch bereits deutlich ab, dass weitere hohe Betriebsausgaben auf die Klägerin zukommen würden, die sich keineswegs als von vornherein einmalige Aufwendungen darstellten. Denn die Klägerin musste umfangreiche Requisiten beschaffen, woran sie bei der Erstellung des Geschäftsplans noch nicht gedacht hatte. Im Erörterungstermin hat sie dazu vorgetragen, PR-Agenturen hätten ihr entgegen ihrer ursprünglichen Erwartung keine Accessoires mehr zur Verfügung gestellt; so habe sie sich selbst einen Fundus zulegen müssen. Die hohen Ausgaben für Requisiten wurden in der Einkommensteuererklärung 2012 unter der Rubrik „übrige unbeschränkt abziehbare Betriebsausgaben“ manifest; dort waren Ausgaben in Höhe von 8.576,14 EUR angegeben. Mit der Notwendigkeit dieser Ausgaben war die ursprüngliche Rentabilitätsvorschau Makulatur. Das bis November 2012 zu Tage getretene Überschreiten der tatsächlichen gegenüber den in der ursprünglichen Planung kalkulierten Umsätze war aus damaliger Sicht nicht geeignet, sich angesichts der eingetretenen oder konkret drohenden „Kostenlawine“ zugunsten der Klägerin auszuwirken. Denn maßgebend für die Tragfähigkeit ist der betriebliche Gewinn, der das Bruttoeinkommen darstellt. Zum für die Prognose maßgeblichen Zeitpunkt war klar oder zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass die Klägerin keineswegs in der Lage sein würde, mit ihrer selbstständigen Tätigkeit während der zweiten Phase ihren Lebensunterhalt – mit Ausnahme der Sozialversicherungsbeiträge – zu bestreiten.
Die sehr hohen Betriebsausgaben im Jahr 2012 sind bei der Prognoseentscheidung zu berücksichtigen, auch wenn die Klägerin sie nicht gegenüber der Beklagten geoffenbart hatte. Ein Existenzgründer darf sich nicht dadurch einen Vorteil verschaffen können, dass er ungünstige Umstände einfach verschweigt. Maßgeblich sind daher die zum Zeitpunkt der Prognose objektiv vorliegenden relevanten Umstände. Hier waren zu diesem Zeitpunkt die hohen Ausgaben für die Anschaffung von Requisiten entweder bereits getätigt oder aus der Sicht des vernünftigen Unternehmers zumindest konkret absehbar. Der anfänglich für das zweite Geschäftsjahr kalkulierte Gewinn von 14.180 EUR war damals in weite Ferne gerückt (und wurde dann ja auch tatsächlich bzw. retrospektiv weit verfehlt).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht ersichtlich.


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