Aktenzeichen 3 T 301/21
Verfahrensgang
vorgehend AG Erfurt, 12. Dezember 2020, XIV 551/20 L, Beschluss
Tenor
1. Der auf den 12.12.2020 datierende Beschluss des Amtsgerichts Erfurt, Az.: XIV 551/20 L, erlassen durch den Gemeinsamen Bereitschaftsdienst unter dem Az.: 3 BD 423/20, wird ersatzlos aufgehoben.
2. Die im erstinstanzlichen Verfahren entstandenen Gerichtskosten werden niedergeschlagen.
Gründe
I.
Mit auf den 12.12.2020, 17:55 Uhr, datierenden und dem Betroffenen am 17.06.2021 zugestellten Beschluss hat der zuständige Richter des Gemeinsamen Bereitschaftsdienstes für den Landgerichtsbezirk Erfurt für das Amtsgericht Erfurt eine durch die beteiligte Polizeibehörde angeordnete Freiheitsentziehung des Betroffenen für zulässig erklärt und die Fortdauer der Freiheitsentziehung des Betroffenen bis längstens 12.12.2020, 19:00 Uhr, angeordnet.
Hiergegen richtet sich die am 23.06.2021 beim Ausgangsgericht eingegangene Beschwerde des Betroffenen.
Wegen des weiteren Sachverhaltes und der für die Entscheidung der Vorinstanz maßgebenden Gründe nimmt die Kammer auf den mit der Beschwerde angegriffenen Beschluss Bezug.
II.
Die Beschwerde ist zulässig.
Sie ist insbesondere frist- und formgerecht innerhalb der 2-wöchigen Beschwerdefrist bei dem Ausgangsgericht eingegangen, §§ 63 Nr. 2, 64 FamFG.
Die Beschwerde führt zur ersatzlosen Aufhebung des angegriffenen Beschlusses.
1.
Soweit der erstinstanzlich tätige Richter unter Ziffer 1. die polizeiliche Ingewahrsamnahme rückwirkend für zulässig erklärt hat, ist der angegriffen Beschluss aufzuheben, denn es fehlt an einer wesentlichen Verfahrensvoraussetzung.
Der am 12.12.2020 mit der Gewahrsamsache befasste Eildienst war weder auf den telefonischen Antrag der Polizeibehörde vom 12.12.2020 noch auf deren schriftlichen Antrag vom 21.12.2020 nach § 20 ThürPAG berufen, über die Rechtmäßigkeit des an diesem Tag von 17:15 Uhr bis ca. 18:50 Uhr durchgeführten polizeilichen Gewahrsams zu entscheiden, da sich die Gewahrsamnahme zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Richters bereits erledigt hatte.
a)
Zwar datiert der angegriffene Beschluss auf den 12.12.2020, 17:55 Uhr.
Eine wirksame Entscheidung, die gemäß §§ 38 Abs. 2 Nr. 1, 421 FamFG notwendiger Weise den Betroffenen zu bezeichnen hat, konnte aber bereits aus tatsächlichen Gründen zu diesem Zeitpunkt noch nicht ergangen sein, da zu diesem Zeitpunkt die Identität des Betroffenen noch nicht feststand.
Der entsprechende Datenträger wurde dem Gericht ausweislich des Akteninhaltes vielmehr erstmals mit dem Antragsschreiben vom 21.12.2020 überreicht.
Daraus ergibt sich, dass die/der auf den 12.12.2020 datierende personalisierte Entscheidung/Beschluss in der vorliegenden Form frühestens am 21.12.2020, wohl aber sogar erst zu einem späteren Zeitpunkt, mithin nach Beendigung der polizeilichen Maßnahme, getroffen bzw. erlassen wurde.
b)
§ 428 Abs. 2 FamFG sieht zwar eine nachträgliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer behördlichen, freiheitsbeschränkenden Maßnahme durch die ordentliche Gerichte vor. Dies geschieht jedoch nicht von Amts wegen, sondern nur auf eine entsprechende Anfechtung des Betroffenen hin.
Ein entsprechender Antrag wurde von dem Betroffenen jedoch bis zum Erlass des angegriffenen Beschlusses nicht gestellt.
c)
Das Amtsgericht hatte im Rahmen seiner auf Antrag der Polizei nach § 20 ThürPAG durchzuführenden Prüfung nicht von Amts wegen über die Rechtmäßigkeit des bereits durchgeführten polizeilichen Gewahrsams zu entscheiden.
Wenn – wie vorliegend – die Polizei ohne vorherige richterliche Anordnung eine Person nach § 19 ThürPAG in Gewahrsam genommen hat, ist gemäß § 20 ThürPAG unverzüglich eine richterliche Entscheidung „über die Zulässigkeit und Fortdauer“ herbeizuführen.
Die Frage, worauf sich die richterliche Prüfung der Zulässigkeit und Fortdauer der Freiheitsentziehung im Rahmen der nach Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG unverzüglich nachzuholenden richterlichen Entscheidung zu beziehen hat, ist allerdings umstritten.
(1)
Teilweise wird die Ansicht vertreten, das Gericht habe nicht nur über die Fortdauer des Festhaltens, sondern auch über die Zulässigkeit (Rechtmäßigkeit) der bereits seitens der Polizei durchgeführten Maßnahme zu entscheiden (Heidebach in: Haußleiter, FamFG, 2. Auflage, Rdnr. 10 f. zu § 428; Heinze in: Bork, Jacoby, Schwab, FamFG Kommentar, 3. Aufl., Rdnr. 3 zu § 428; OLG Rostock, aaO., Rn. 31; ThürOLG Beschl. Vom 14.10.1998, 6 W 243/98 allerdings noch zur alten Rechtslage).
(2)
Die Gegenansicht geht davon aus, das Gericht entscheide nicht von Amts wegen über die Rechtmäßigkeit der polizeilichen Ingewahrsamnahme, sondern nur darüber, ob dem Betroffenen von dem Zeitpunkt der richterlichen Befassung an, die Freiheit entzogen werden darf. Die richterliche Prüfung zur Zulässigkeit des Gewahrsams betreffe lediglich die Frage, ob die gesetzlichen Voraussetzungen des Gewahrsams zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung vorliegen. Die Beurteilung zur Fortdauer der Freiheitsentziehung beziehe sich dagegen allein auf die in dem konkreten Fall höchstzulässige Dauer des Gewahrsams (Wendtland in: Münchener Kommentar zum FamFG, 3. Aufl., Rdnr. 6 zu § 428; Günter in: BeckOK FamFG, Hahne/Schlögel/Schlünder, 39. Edition, Rnr. 5 zu § 428; Bumiller in: Bumiller/Harders/Schwamb, FamFG, 12. Auflage, Rdnr. 3 zu § 428; Göbel in: Keidel, FamFG – Familienverfahren, Freiwillige Gerichtsbarkeit, 20. Auflage, Rdnr. 9 zu § 428; OLG Hamm, Beschluss vom 2. 12. 2004 – 15 W 435/04, FGPrax 2005, 90).
(3)
Der letztgenannten Sichtweise, wonach das Gericht nicht zugleich von Amts wegen über die Rechtmäßigkeit der vorangegangenen polizeilichen Ingewahrsamnahme zu entscheiden hat, ist aus folgenden Gründen der Vorzug zu geben:
Der Wortlaut von Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG, der eine richterliche Entscheidung über die „Zulässigkeit und Fortdauer“ einer Freiheitsentziehung vorschreibt, ist ebenso wie die einfachgesetzlichen Bestimmungen des § 20 Abs. 1 ThürPAG offen. Aus der klaren systematischen Unterscheidung des Grundgesetzes zwischen der richterlichen Anordnung einer Freiheitsentziehung und der vorläufigen Festnahmeverfügung folgt nur, dass die Zulässigkeit und Rechtswirksamkeit beider Akte unabhängig voneinander zu beurteilen ist (LG Freiburg, Beschl. v. 19.01.2017, juris mit Verweis auf vgl. Dürig in Maunz/Dürig, Grundgesetz, Band VI, Art. 104, Rn. 35). Eine allumfassende Rechtmäßigkeitskontrolle der unverzüglich nachzuholenden richterlichen Entscheidung wird von Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG nicht gefordert.
Wegen der unterschiedlichen Beurteilungsmöglichkeiten in Bezug auf die Rechtmäßigkeit des behördlichen und des richterlichen Freiheitsentzugs ist die Auffassung, das Gericht habe lediglich die gesetzlichen Voraussetzungen der Freiheitsentziehung im konkreten Zeitpunkt der Entscheidung zu prüfen, mit Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich vereinbar (LG Freiburg, aaO.).
Diese Sichtweise wird auch den Besonderheiten und dem Sinn und Zweck einer unverzüglich herbeizuführenden richterlichen Entscheidung über den Polizeigewahrsam gerecht.
Für die zu diesem Zeitpunkt durch den Richter selbständig und konstitutiv zu treffende Entscheidung über den weiteren Gewahrsam ist eine Rechtmäßigkeitskontrolle des bisherigen behördlichen Gewahrsams nicht maßgebend. Selbst im Falle eines vorangegangen rechtswidrigen Polizeigewahrsams ist der weitere Gewahrsam richterlich anzuordnen, wenn bei Befassung des Richters nunmehr sämtliche gesetzlichen Voraussetzungen nach § 19 ThürPAG vorliegen (LG Freiburg, aaO.).
Hinzu kommt, dass in den Fällen des ohne vorherige richterliche Anordnung angeordneten polizeilichen Gewahrsams die richterliche Entscheidung umgehend und ohne vorwerfbare Säumnis in den engen zeitlichen Grenzen des Art. 104 Abs. 2 Satz 3 GG zu treffen ist. Die Möglichkeiten für eine umfassende Rechtmäßigkeitskontrolle des vorangegangen polizeilichen Gewahrsams sind daher von vorneherein begrenzt.
Damit bestünde – wie auch der vorliegende Fall anschaulich zeigt – die konkrete Gefahr, dass das Gericht bei der unverzüglich nach der Festnahme zu treffenden Entscheidung über die Fortdauer des Gewahrsams zugleich aufwendige Feststellungen zur Rechtmäßigkeit (oder Rechtswidrigkeit) der bereits durchgeführten behördlichen Maßnahme trifft, ohne deren Umstände durch eine Stellungnahme des Betroffenen etwa im Rahmen seiner zwingend vorgeschriebenen persönlichen Anhörung oder Anhörung eines Verfahrenspflegers hinreichend aufklären zu können.
Eine von Amts wegen durchzuführende Rechtmäßigkeitskontrolle der vorangegangenen behördlichen Maßnahme fügt sich auch nicht in das in der VwGO und dem FamFG angelegte System des Rechtsschutzes gegen bereits erledigte staatliche Maßnahmen ein. Diese aus Art. 19 Abs. 4 GG resultierende Rechtsschutzgarantie setzt vielmehr grundsätzlich einen Antrag des in seinen Grundrechten Betroffenen voraus.
Entsprechend findet eine Rechtmäßigkeitskontrolle von erledigten behördlichen Freiheitsentziehungen, auf die die Vorschriften der §§ 415 ff. FamFG anwendbar sind, gemäß § 428 Abs. 2 FamFG nur auf Antrag statt.
Entsprechendes gilt, wenn das Amtsgericht die Fortdauer des Gewahrsams anordnet. Auch in diesem Fall kann ein Betroffener nach Entlassung die gerichtliche Fortdauerentscheidung nur nach vorheriger Antragsstellung im Rahmen eines Feststellungsverfahrens nach § 62 FamFG überprüfen lassen.
Da der Betroffene im erstinstanzlichen Verfahren keinen Antrag auf Überprüfung der behördlichen Maßnahme gestellt hat, war das Amtsgericht folglich unter keinen Umständen zu einer Entscheidung berufen.
2.
Auch die unter Ziffer 2. des angegriffenen Beschlusses angeordnete Fortdauer der Freiheitsentziehung bis längstens 12.12.2020, 19:00 Uhr, ist aufzuheben.
Abgesehen davon, dass die Freiheitsentziehung zum maßgebenden Zeitpunkt des Beschlusserlasses bereits beendet war (s.o.) und ein entsprechender Beschluss daher nicht (mehr) veranlasst war, lagen weder am 12.12.2020 noch zu einem späteren Zeitpunkt die Voraussetzungen für eine entsprechende einstweilige Anordnung vor.
Gem. § 417 FamFG, der über § 20 Abs. 2 S. 2 ThürPAG auf die einzuholende richterliche Entscheidung Anwendung findet, darf eine Freiheitsentziehung durch das Gericht nur auf Antrag angeordnet werden. Gem. § 51 Abs. 1 S. 2 FamFG hat der Antragsteller in Verfahren der einstweiligen Anordnung den Antrag zu begründen und die Voraussetzungen für die Anordnung glaubhaft zu machen. Die Regelung weicht ab von der bloßen Soll-Vorschrift des § 23 Abs. 1 S. 1 und 2 FamFG.
Dies war vorliegend nicht der Fall.
Dem gesamten Akteninhalt sind keine geeignete Mittel der Glaubhaftmachung zu entnehmen. Insbesondere erschöpft sich das Schreiben der beteiligten Polizeibehörde in der reinen Sachverhaltsdarstellung.
3.
Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahren waren gem. § 21 GNotKG niederzuschlagen, denn sie wären bei einer richtigen Sachbehandlung nicht entstanden.
Eine Niederschlagung der Kosten ist insbesondere dann veranlasst, wenn sie durch eine überflüssige Maßnahmen des Gerichts entstanden sind. Eine Maßnahme ist überflüssig, wenn sie den angestrebten Erfolg nicht fördert, herbeiführt oder sichert etc.. Das trifft auf die angegriffene Entscheidung zu, denn die richterliche Anordnung der Freiheitsentziehung konnte aufgrund des Zeitablaufes keine Wirkung mehr entfalten und eine Entscheidung über die Zulässigkeit der polizeilichen Gewahrsamnahme war – zum damaligen Zeitpunkt – nicht mehr veranlasst.
Eine Auferlegung der außergerichtlich entstanden Kosten des Betroffen auf die Staatskasse konnte hingegen nicht ausgesprochen werden, da es das Kostenrecht nicht ermöglicht, die Staatskasse zur Übernahme der einem Beteiligten infolge unrichtiger Sachbehandlung entstandenen außergerichtlichen Kosten zu verpflichten (Rahm/Künkel, Handbuch Familien- und Familienverfahrensrecht, 81. Lieferung 09.2020, Gerichtskosten, Rn. 299).
4.
Eine Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens nach §§ 81 ff. FamFG war nicht veranlasst.