Strafrecht

Begehren der Aufhebung einer Ausweisungsverfügung und Erteilung der Aufenthaltserlaubnis

Aktenzeichen  AN 5 K 17.02383

Datum:
15.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 3272
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 3, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a Buchst. b)
ARB 1/80 Art. 7

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet, da der streitgegenständliche Bescheid vom 16. Oktober 2017 nicht rechtswidrig ist und den Kläger nicht in seinen Rechten verletzt (§§ 113 Abs. 1, Abs. 5 VwGO).
Die im streitgegenständlichen Bescheid verfügte Ausweisung des Klägers (Ziffer I), die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf sechs Jahre ab Ausreise bzw. Abschiebung (Ziffer II), die Ablehnung der Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels (Ziffer III) sowie die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung insbesondere in die Türkei (Ziffer IV) sind nicht zu beanstanden.
Die in Ziffer I des streitgegenständlichen Bescheids vom 16. Oktober 2017 verfügte Ausweisung ist rechtmäßig. Maßgeblich für die rechtliche Beurteilung einer Ausweisung ist grundsätzlich die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, U.v. 4.10.2012 – 1 C 13.11 – juris Rn. 16; U.v. 30.7.2013 – 1 C 9.12 – juris Rn. 8; BayVGH, U.v. 25.8.2014 – 10 B 13.715 – juris Rn. 37).
Gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem Verbleib des Ausländers ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Dies ist hier der Fall.
Die Kammer geht – wie auch die Beklagte – zu Gunsten des Klägers davon aus, dass ihm ein assoziationsrechtliches Aufenthaltsrecht nach Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80 des Assoziationsrates vom 19. September 1980 über die Entwicklung der Assoziation zusteht, da er als Kind türkischer Staatsangehöriger im Bundesgebiet geboren wurde und hier aufgewachsen ist.
Ein insoweit privilegierter Ausländer darf gemäß § 53 Abs. 3 AufenthG nur ausgewiesen werden, wenn sein persönliches Verhalten eine gegenwärtig schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt und die Ausweisung für die Wahrung dieses Interesses unerlässlich ist. Dies ist vorliegend der Fall. Sowohl die Gefährdungsprognose, als auch die Abwägungsentscheidung der Beklagten sind rechtlich nicht zu beanstanden.
Die Kammer geht mit der Beklagten davon aus, dass von dem Kläger gegenwärtig eine erhebliche Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen (vgl. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris, Rn. 18). Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts, sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (BayVGH, U.v. 30.10.2012 – 10 B 11.2744 – juris, Rn. 33). An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (BVerwG, U.v.4.10.2012 – 1 C 13.11 – Rn. 18; BayVGH, B.v. 8.3.2016 – 10 B 15.180 – juris Rn. 31).
Gemessen an diesen Grundsätzen geht die Kammer davon aus, dass nach dem persönlichen Verhalten des Klägers mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden muss, dass von ihm auch künftig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Die Gefahrenprognose wird konkret durch das Verhalten des Klägers im Bundesgebiet getragen. Anlass für die streitgegenständliche Ausweisung ist die Verurteilung des Klägers durch das Amtsgericht … vom 10. August 2016 wegen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 7 Monaten (unter Einbeziehung der Verurteilung des Amtsgerichts … vom 12. November 2014), nachdem der Kläger dem Geschädigten durch einen Faustschlag ins Gesicht einen Schneidezahn ausgeschlagen hatte. Das Strafgericht führte zum Werdegang des Klägers insbesondere aus, dass das Amtsgericht … im Urteil vom 12. November 2014 bereits mit Bedenken die Jugendstrafe zur Bewährung ausgesetzt hatte. Die Bewährung scheiterte ziemlich schnell, bereits am 17. März 2015 wurde die Jugendstrafe widerrufen, weil der Kläger die Schadenswiedergutmachung verweigerte und an der auferlegten Weisung, an einer stationären Jugendhilfemaßnahme mitzuwirken und diese anzutreten, nicht mitwirkte. Nach Teilverbüßung wurde der Kläger am 9. Dezember 2015 mit einer Reststrafe entlassen. Auch diese erneute Chance konnte der Kläger nicht für sich nutzen. Bereits mit Beschluss vom 16. März 2016 musste die Reststrafe widerrufen werden, weil der Kläger gegen Weisungen gröblich und beharrlich verstieß sowie sich der Aufsicht und Leitung des Bewährungshelfers entzogen hat. Dem neuen Haftantritt stellte sich der Kläger nicht, sondern tauchte unter und konnte schließlich aufgrund Vollstreckungshaftbefehls festgenommen werden. Im Vordergrund stand die bedenkliche Aggressionsbereitschaft des Klägers. Auch in einem Führungsbericht der JVA ist das hohe Aggressionspotential besonders erwähnt, weshalb es schon mehrfach zu Ausschreitungen gekommen war. Das Strafgericht berücksichtigte im Rahmen der Strafzumessung zunächst die Sanktionszumessungsgesichtspunkte des einbezogenen Urteils des Amtsgerichts … vom 12. November 2014 (gemeinschaftliche räuberische Erpressung, Diebstahl und versuchte Nötigung). Dort wurde unter anderem einbezogen, dass die Straftaten des Klägers immer massiver geworden sind (Verbrechenstatbestand der räuberischen Erpressung), dass die Bedrohung schwerwiegende Auswirkungen psychischer Art auf eine Zeugin gehabt hat, dass der Kläger obwohl er erst zu einem dreiwöchigen Jugendarrest verurteilt worden ist, eine neue Tat begangen hat und dass eine Tat kurze Zeit nach der Arrestverbüßung begangen worden ist. Bei den eigenen Strafzumessungspunkten sah das Strafgericht zu Lasten des Klägers, dessen Werdegang, den Umstand, dass er die Tat kurze Zeit nach Haftentlassung während einer Reststrafenaussetzung zur Bewährung begangen hat, dass er einschlägig vorbestraft ist, dass er sich auch im Übrigen an Auflagen und Weisungen nicht gehalten hat und die Folgen für den Geschädigten.
Ausgehend davon, dass gerade bei Fallgruppen besonders schwerer und schädlicher Delikte wie Gewaltdelikten an den Grad der Wiederholungswahrscheinlichkeit regelmäßig nur geringe Anforderungen zu stellen sind, geht die Beklagte daher in dem streitgegenständlichen Bescheid zutreffend von einer erheblichen Wiederholungsgefahr beim Kläger aus. Insbesondere nach der Höhe der gegen ihn verhängten Freiheitsstrafen handelt es sich bei den abgeurteilten Gewaltdelikten um schwerwiegende Straftaten, die typischerweise mit einem hohen Wiederholungsrisiko verknüpft sind.
Die beim Kläger weiterhin bestehende Wiederholungsgefahr zeichnete sich auch bereits vor der Anlassverurteilung ab. Der Beschluss des Amtsgerichts … vom 17. März 2015 (Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung) enthielt, dass der Kläger über kurz oder lang wieder Gefahr laufen wird, Straftaten zu begehen, nachdem er offensichtlich durch die Untersuchungshaft nichts gelernt hat. Auch im Beschluss des Amtsgerichts … vom 16. März 2016 (Widerruf der Aussetzung der Reststrafe) ist die Rede davon, dass bei dem sozial nicht integrierten Kläger die Gefahr erneuter Straftaten besteht. Laut Führungsbericht der JVA … vom 7. Juni 2017 musste sich der Kläger zudem viermal disziplinarisch verantworten, unter anderem wegen einem tätlichen Angriff.
Obwohl der Kläger durch den Beschluss des Amtsgerichts … vom 16. August 2017 unter laufender Bewährung stand („bei Scheitern der Therapie hat er mit dem Widerruf der Bewährung zu rechnen“) und bereits die streitgegenständliche Ausweisungsverfügung ergangen war, ist der Kläger erneut straffällig geworden und wurde durch das Landgericht … vom 5. Oktober 2018 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Einheitsjugendstrafe von 4 Jahren 9 Monaten (unter Einbeziehung der Verurteilungen durch das Amtsgericht … vom 10.08.2016, vom 12.11.2014 und 9.04.2014) verurteilt, wodurch der Kläger die von ihm ausgehende Wiederholungsgefahr bestätigt hat. Das Strafgericht sah im Rahmen der Strafzumessung zu Lasten des Klägers, dass er vielfach sowie einschlägig vorbestraft ist, zur Tatzeit einschlägig unter Bewährung stand, eine erhebliche Rückfallgeschwindigkeit aufweist und der Geschädigte gravierend verletzt wurde.
Im Rahmen der Gefahrenprognose ist zudem zu berücksichtigen, dass bei dem Kläger – auch gegenwärtig – ein erhebliches Suchtmittelproblem besteht. Das Landgericht … hat mit Urteil vom 5. Oktober 2018 die Unterbringung des Klägers in einer Entziehungsanstalt angeordnet, nachdem der im Strafverfahren zugezogene Sachverständige beim Kläger das Vorliegen eines Hangs, berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, bejaht hatte. Bei dem Kläger hätten zur Vorfallszeit als überdauernde psychiatrische Erkrankungen eine Persönlichkeitsstörung und eine Abhängigkeitserkrankung von Alkohol vorgelegen. Der jahrelange Alkoholkonsum habe zu erheblichen Auswirkungen in der beruflichen und sozialen Entwicklung des Klägers geführt. Eine Maßregelbehandlung im Sinne des § 64 StGB würde mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent erfolgreich verlaufen. Die erste Behandlung sei aus disziplinarischen Gründen abgebrochen worden, die zweite Behandlung wahrscheinlich aufgrund des noch bestehenden Suchtdrucks.
Zwar befindet sich der Kläger seit 8. Januar 2019 im Maßregelvollzug. Allein die Tatsache, dass der Kläger eine stationäre Therapie in einer Entziehungsanstalt begonnen hat, lässt das Vorliegen einer Wiederholungsgefahr jedoch nicht entfallen. Bei Straftaten, die auch auf der Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat. Angesichts der erheblichen Rückfallquoten während einer andauernden Drogentherapie und auch noch in der ersten Zeit nach dem erfolgreichen Abschluss einer Drogentherapie kann allein aus der begonnenen Therapie noch nicht auf ein künftiges straffreies Leben geschlossen werden (BayVGH, B.v. 26.11.2015 – 10 ZB 14.1800 – juris Rn. 7; B. v. 13.5.2015 – 10 C 14.2795 – juris Rn. 4; B.v. 21.2.2014 – 10 ZB 13.1861 – juris Rn. 6). Diesen Erkenntnissen trägt vorliegend auch der Therapiebericht des Bezirkskrankenhauses … vom 29. Oktober 2019 Rechnung: Demnach gab es einen phasenweise kritischen Therapieverlauf (unter anderem ein Suchtmittelrückfall verbunden mit einer Lockerungsrücknahme). Die Tendenz zu impulsiven Verhaltensweisen, die sich in verbalen Entgleisungen gegenüber Personal und Mitpatienten zeigte, führte wiederholt zu abrupten Störungen der Kooperation und machte mehrfache Deeskalationen und Kriseninterventionsgespräche notwendig. Vor dem Hintergrund der Anlasstat und anderer aktenkundiger Körperverletzungsdelikte nahm der Kläger verpflichtend an einem Behandlungsprogramm für inhaftierte Gewaltstraftäter teil. Aus Sicht des Behandlungsteams stellen das Erlernen von Selbstregulationsstrategien zur Impulskontrolle sowie der Aufbau von Eigenverantwortung die nächsten therapeutischen Ziele dar. Zur Aufrechterhaltung der Suchtmittelabstinenz bedürfe es zudem der Erarbeitung von Rückfallvermeidungsstrategien unter Berücksichtigung potentieller Risikosituationen abseits des beschützenden Rahmens. Vor dem Erreichen dieser Therapieziele sei noch von einer erhöhten Rückfallgefahr in Suchtmittelmissbrauch und damit assoziierte Straftaten auszugehen.
Für die Wiederholungsgefahr spricht im Übrigen, dass der Kläger seit seiner Jugend immer wieder in erheblichem Maße, insbesondere wegen Gewaltdelikten, strafrechtlich in Erscheinung getreten ist. Weder Bewährungswiderrufe, Haftverbüßungen und Suchtmitteltherapien haben dazu geführt, dass der Kläger sich rechtstreu verhält. Trotz des laufenden Ausweisungsverfahrens und unter Bewährung stehend ist der Kläger erneut straffällig geworden, was verdeutlicht, dass er sich von nichts abschrecken lässt. Nicht einmal während des aktuellen Klinikaufenthaltes ist es dem Kläger gelungen keine Regelverstöße zu begehen. Zwar trägt der Kläger vor, dass er an einem Behandlungsprogramm für Gewalttäter teilgenommen hat, seine Aggressionen im Griff hat, sich auf den qualifizierten Hauptschulabschluss vorbereitet sowie eine Ausbildung als Fliesenleger beabsichtigt und mit seiner Verlobten – mit der er nach eigenen Angaben im Januar 2019 zusammengekommen ist – einen Neuanfang plant. Gleichwohl muss nach dem persönlichen Verhalten des Klägers, der Schwere der Taten sowie der gefährdeten höchsten Rechtsgüter – Leib und Leben – und der noch nicht erfolgreich therapierten Suchtmittelabhängigkeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass von ihm auch künftig eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.
Die bei Vorliegen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage nach § 53 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 AufenthG unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise des Antragstellers mit den Interessen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet ergibt, dass die Ausweisung für die Wahrung des bereits dargestellten Grundinteresses der Gesellschaft unerlässlich ist. Dabei ist im Rahmen der Prüfung der Unerlässlichkeit zu beachten, dass die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, sowie der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein müssen, wobei sämtliche konkreten Umstände, die für die Situation des Betroffenen kennzeichnend sind, zu berücksichtigen sind (BayVGH, U.v. 28.6.2016 – 10 B 13.1982 – juris Rn. 44).
Im Fall des Klägers besteht sowohl ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG als auch nach § 54 Abs. 1 Nr. 1a lit. b) AufenthG, denn der Kläger wurde mit Urteil des Landgerichts … vom 5. Oktober 2018 wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Einheitsjugendstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten verurteilt.
Dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse steht im vorliegenden Fall kein vertyptes besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse entgegen. Der Kläger erfüllt keine der in § 55 Abs. 1 und 2 AufenthG genannten Voraussetzungen. Insbesondere die nach § 81 Abs. 4 AufenthG erteilte Fiktionsbescheinigung stellt nach Ablehnung der Erteilung bzw. Verlängerung des Aufenthaltstitels keine Aufenthaltserlaubnis i.S.d § 55 AufenthG dar (vgl. § 55 Abs. 3 AufenthG). Ob allein der zu Gunsten des Klägers angenommene ARB-Status auch ein vertyptes Bleibeinteresse i.S.d § 55 AufenthG darstellt, kann vorliegend letztlich dahinstehen, da das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse im Rahmen der Interessenabwägung jedenfalls überwiegt.
In der nach § 53 Abs. 1 AufenthG anzustellenden Gesamtabwägung unter besonderer Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erweist sich die Ausweisung des Klägers auch bei Annahme eines besonders schwerwiegenden Bleibeinteresses als rechtmäßig. Die streitgegenständliche Ausweisung des Klägers ist weder unter Berücksichtigung der in § 53 Abs. 2 AufenthG – allerdings nicht abschließend – aufgeführten Umstände noch mit Blick auf die Anforderungen der wertentscheidenden Grundsatznormen des Art. 6 Abs. 1 GG und des Art. 8 EMRK unverhältnismäßig. Die Beklagte hat im Rahmen des streitgegenständlichen Bescheids zutreffend berücksichtigt, dass der Kläger im Bundesgebiet geboren und hier aufgewachsen ist. Auch hat sie gesehen, dass die Familie des Klägers im Bundesgebiet lebt. Die Beklagte hat aber auch beanstandungsfrei berücksichtigt, dass es dem Kläger nicht gelungen ist, sich so weit sozial zu integrieren, um einen ordnungsgemäßen, rechtschaffenen und sozialverträglichen Lebenswandel zu führen. Stattdessen ist der Kläger regelmäßig strafrechtlich in Erscheinung getreten und hat eine Vielzahl von Strafdelikten begangen. Von einer Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse kann daher nicht ausgegangen werden, auch wenn der Kläger einen Mittelschulabschluss in der JVA nachgeholt hat, sich auf den qualifizierenden Hauptschulabschluss vorbereitet und eine Fliesenlegerausbildung beabsichtigt. Die Ausweisung verstößt auch nicht gegen Art. 6 GG und Art. 8 EMRK und erscheint angesichts der Gesamtumstände nicht unverhältnismäßig. Zu berücksichtigen ist, dass Art. 6 GG und Art. 8 EMRK keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt gewähren, sondern lediglich eine Verpflichtung begründen, die familiären Bindungen entsprechend ihrem Gewicht angemessen in die Abwägung einzustellen (BVerfG, B.v. 5.6.2013 – 2 BvR 586/13 – juris Rn. 12). Die Trennung von seiner Familie und Verlobten (und deren Kindern) ist dem Kläger jedenfalls zuzumuten, da sie ausschließlich Konsequenz seines kriminellen Verhaltens ist. Zudem hat ihn auch seine Familie nicht von der Begehung von Straftaten abgehalten. Mit seiner Verlobten ist der Kläger nach eigenen Angaben erst 2019 zusammengekommen, sodass die Verlobung schon in Kenntnis des Ausweisungsverfahrens erfolgte. Im Übrigen besteht seit der Inhaftierung und dem anschließenden Maßregelvollzug nur ein eingeschränkter Kontakt zur Familie und Verlobten. Dem Kläger ist es insofern zuzumuten, den Kontakt zu diesen mittels Telefon und sonstiger elektronischer Kommunikationsmedien aufrechtzuerhalten. Die Kammer ist der Überzeugung, dass es dem Kläger möglich und zumutbar ist, sich sprachlich und kulturell in der Türkei zu integrieren. Es ist insoweit zu berücksichtigen, dass der Kläger in einer türkischen Familie aufgewachsen ist und nach eigenen Angaben die türkische Sprache zu 40 Prozent bzw. zumindest mit Mängeln beherrscht, so dass davon auszugehen, dass er mit der türkischen Sprache, Kultur und Tradition vertraut ist. Er wird sich, wenn auch nach anfänglichen Schwierigkeiten, in der Türkei zurechtfinden. Im Rahmen einer Gesamtabwägung kommt die Kammer damit unter Berücksichtigung des verfassungsmäßigen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und unter Berücksichtigung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK zu dem Ergebnis, dass vorliegend das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Es ergibt sich auch aktuell eine Unerlässlichkeit der Ausweisung für die Wahrung des vom Kläger bedrohten Grundinteresses der Gesellschaft.
Ist die Ausweisung nicht zu beanstanden, so ist auch die in Ziffer IV des streitgegenständlichen Bescheids gemäß §§ 58, 59 AufenthG verfügte ausländerrechtliche Annexentscheidung rechtlich nicht zu beanstanden.
Das auf die Dauer von sechs Jahren ab Ausreise bzw. Abschiebung befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer II des streitgegenständlichen Bescheids ist nicht zu beanstanden.
Nach § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG in der Fassung vom 15. August 2019 ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot hat nach § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG zur Folge, dass der Kläger nicht erneut in das Bundesgebiet einreisen und sich darin aufhalten darf. Ihm darf selbst im Falle eines Anspruchs nach dem Aufenthaltsgesetz kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Das Einreise- und Aufenthaltsverbot ist gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 und Satz 4 AufenthG von Amts wegen zu befristen, wobei die Frist mit der Ausreise zu laufen beginnt. Über die Länge der Frist, die nach § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG außer in den Fällen der Absätze 5 bis 5b fünf Jahre nicht überschreiten darf, wird nach § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nach Ermessen entschieden. Die in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannte Höchstfrist von fünf Jahren ist dabei fallbezogen ohne Bedeutung, da der Kläger aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist (vgl. § 11 Abs. 5 Satz 1 AufenthG). Es bedarf der prognostischen Einschätzung im Einzelfall, wie lange das Verhalten des Betroffenen, das der zu spezialpräventiven Zwecken verfügten Ausweisung zu Grunde liegt, das öffentlichen Interesse an der Gefahrenabwehr zu tragen vermag (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2014 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56). Die sich an der Erreichung des Ausweisungszwecks orientierende Sperrwirkung muss sich dabei an höherrangigem Recht, d.h. verfassungsrechtlichen Wertentscheidungen und den Vorgaben aus Art. 8 EMRK messen und gegebenenfalls relativieren lassen (vgl. BayVGH, U.v. 25.8.2014 – 10 B 13.715 – juris Rn. 56). Gemessen an diesen Vorgaben kann der Kläger auch nicht hilfsweise die Verpflichtung der Beklagten beanspruchen, über die Befristung der Wirkung der Ausweisung und Abschiebung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Ermessensfehler sind insoweit nicht ersichtlich. Die Beklagte sah zunächst aufgrund der Schwere der begangenen Straftaten, dem Gewicht der durch die Straftaten gefährdeten Rechtsgüter und der vom Kläger ausgehenden Wiederholungsgefahr eine Befristung von acht Jahren vor. Wegen der persönlichen Bindungen des Klägers und dessen langjähriger Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland wurde die Befristung auf sechs Jahre reduziert. Die Beklagte hat letztlich die persönlichen und familiären Bindungen des Klägers im Bundesgebiet berücksichtigt und den mit der Ausweisung verfolgten Zweck herausgearbeitet und ist beanstandungsfrei zu dem Ergebnis gekommen, dass eine Befristung von sechs Jahren angemessen ist. Dass nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG ein Einreise- und Aufenthaltsverbot gesondert angeordnet werden muss, macht den Bescheid vom 16. Oktober 2017 nicht fehlerhaft, denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur früheren Rechtslage war in der behördlichen Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG a.F. regelmäßig auch die Verhängung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots von bestimmter Dauer enthalten (BVerwG, U.v. 25.7.2017 – 1 C 13.17 – juris Rn. 23).
Auch die Ablehnung der Erteilung bzw. Verlängerung eines Aufenthaltstitels unter Ziffer III begegnet keinen Bedenken. Der Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis steht mit der streitgegenständlichen, rechtmäßigen Ausweisung jedenfalls schon die gemäß § 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG erlassene Titelerteilungssperre entgegen. Dabei ist die fehlende ausdrückliche Anordnung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots vorliegend unschädlich. Zwar ist nach der seit dem 21. August 2019 geltenden Fassung des § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG (Zweites Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, BGBl. 2019 I S. 1294) gegen einen Ausländer, der ausgewiesen, zurückgeschoben oder abgeschoben worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich die Kammer anschließt, kann in einer behördlichen Befristungsentscheidung jedoch regelmäßig der konstitutive Erlass eines befristeten Einreiseverbots gesehen werden (vgl. BVerwG, U.v. 27.7.2017 – 1 C 28.16 – DVBl 2017, 1430 Rn. 42).
Im Übrigen folgt das Gericht den ausführlichen und zutreffenden Gründen des Bescheides der Beklagten 16. Oktober 2017 und sieht zur Vermeidung von Wiederholungen von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 117 Abs. 5 VwGO).
Die Klage war somit vollumfänglich abzuweisen.
Die Kostenfolge beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.


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