Strafrecht

Beschleunigungsgrundsatz in Haftsachen

Aktenzeichen  2 Ws 49/20

Datum:
31.1.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 5357
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StGB § 64, § 67 Abs. 2 S. 2, S. 3
StPO § 112 Abs. 2 Nr. 2, § 116
GVG § 21e Abs. 3

 

Leitsatz

1. Zur Wahrung des Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen ist bei einer bereits eingetretenen Verfahrensverzögerung die Zuweisung der Sache gem. § 21e Abs. 3 GVG an eine andere Kammer zu prüfen. Im Rahmen dieser Entscheidung ist das Recht auf den gesetzlichen Richter mit dem rechtsstaatlichen Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zur Vermeidung einer Belastungssituation der Strafkammern in Haftsachen müssen von Seiten der Justizverwaltung nicht weitere Kammern vorgehalten werden, um auf jedes denkbare Verteidigungsverhalten unmittelbar eingehen zu können. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

400 Ws GStA 22/20 f 2019-12-23 LGMUENCHENII LG München II

Tenor

I. Die Beschwerde des Angeklagten F… M… S… vom 23.12.2019 gegen den Haftbefehl des Landgerichts München II vom 15.10.2019 wird als unbegründet verworfen.
II. Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

I.
1. Der am 03.02.2019 vorläufig festgenommene Angeklagte F. M. S. befindet sich aufgrund eines Haftbefehls des Amtsgerichts München vom 04.02.2019, eröffnet am selben Tag, ersetzt durch Haftbefehl des Landgerichts München II vom 15.10.2019, eröffnet am 23.10.2019, seit 04.02.2019 ununterbrochen in Untersuchungshaft. Der Haftbefehl des Amtsgerichts München vom 04.02.2019 wurde mit Beschluss des Landgerichts München II vom 23.10.2019 aufgehoben. Der Senat hat mit Beschlüssen vom 16.08.2019, Gz. 2 Ws 812/19 H, und vom 27.11.2019, Gz. 2 Ws 1218/19 H, jeweils die Fortdauer der Untersuchungshaft angeordnet.
Dem Angeklagten liegt unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in 2 Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Mittäterschaft, in Tatmehrheit mit räuberischer Erpressung und mit vorsätzlichem unerlaubten und gewerbsmäßigen Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in 3 Fällen zur Last. Insgesamt soll der Angeklagte mit 1,3 kg Marihuana (Ziff. 1. und 3 der Anklageschrift, Tatzeiten: August 2018, Oktober 2018 bis Januar 2019) und 1,9 kg Kokain (Ziff. 4 der Anklageschrift, Tatzeit 03.02.2019) unerlaubt Handel getrieben und einen BtM-Abnehmer zum Zwecke der Eintreibung von Schulden aus einem Betäubungsmittelgeschäft mit gegenwärtiger Gefahr für Leib und Leben bedroht haben (Ziff. 2 der Anklageschrift). Das Kokain, welches Gegenstand des Anklagepunktes Ziff. 4 ist, wurde bei der Durchsuchung beim Angeklagten sichergestellt. Wegen der Einzelheiten hinsichtlich der dem Angeklagten zur Last liegenden Taten wird im Übrigen auf den Haftbefehl vom 15.10.2019 und die Anklageschrift vom 22.07.2019 Bezug genommen.
Die Staatsanwaltschaft hat mit Anklageschrift vom 22.07.2019 gegen den Angeklagten S… und die zur Tatzeit heranwachsende Mitangeklagte L… Anklage zum Landgericht München II – Jugendkammer – erhoben. In der Folgezeit erließ die Kammer diverse Beschlüsse zur Vermögensabschöpfung oder Beschlagnahme und es gingen noch weitere Ermittlungsergebnisse bei Gericht ein, insbesondere das psychiatrische Sachverständigengutachten vom 25.09.2019 betreffend den Angeklagten S. .
Anlässlich der Eröffnung des Haftbefehls vom 15.10.2019 fand am 23.10.2019 ein Erörterungsgespräch unter Beteiligung der Kammer, des sachbearbeitenden Staatsanwalts und des Verteidigers Dr. W. statt. Der weitere Verteidiger P. hatte im Vorfeld wegen Terminschwierigkeiten sein Einverständnis mit der Vertretung nur durch einen Verteidiger geäußert. Ausweislich des Vermerks über das Gespräch teilte der Verteidiger Dr. W. mit, dass der Angeklagte hinsichtlich der Ziffern 1, 3 und 4 der Anklageschrift ein Geständnis ablegen würde. Im weiteren Verlauf wurden zwischen den Beteiligten die Strafvorstellungen geäußert. Der Staatsanwalt wies insbesondere darauf hin, dass aufgrund der zu erwartenden Strafe selbst bei Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB ein Vorwegvollzug anzuordnen wäre. Die Kammer nannte schließlich – je nach Verhalten des Angeklagten in der Hauptverhandlung – eine Strafvorstellung zwischen 6 Jahren 6 Monaten und 7 Jahren 6 Monaten. Hiermit erklärten sich Staatsanwaltschaft und Verteidiger einverstanden. Der Verteidiger wies jedoch darauf hin, dass dies nur vorbehaltlich einer Rücksprache mit dem Angeklagten und dem weiteren Verteidiger gelte. Als mögliche Hauptverhandlungstermine stellte die Kammer 6 Termine zur Auswahl (20. /23.12.2019, 20./28.01.2020 oder 16./17.03.2020).
Mit Beschluss vom 20.11.2019 hat die Jugendkammer die Anklage der Staatsanwaltschaft München II vom 22.07.2019 mit kleineren Änderungen im Hinblick auf die rechtliche Würdigung, im Übrigen aber unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet. Mit Verfügung vom gleichen Tag hat die Kammer – wegen verschiedentlicher Verhinderungsmeldungen insbesondere auf Seiten der Verteidigung – Termin zur Hauptverhandlung auf den 20.12.2019 sowie einen Fortsetzungstermin auf den 23.12.2019 bestimmt. Hierzu wurden 9 Zeugen und 5 Sachverständige geladen.
Am 20.12.2019 fand die Hauptverhandlung statt. Ausweislich des Protokolls gab der Verteidiger Rechtsanwalt P… für den Angeklagten zur Sache eine Erklärung ab. Im Vorlagebericht der Staatsanwaltschaft München II vom 07.01.2020 wird hierzu mitgeteilt, dass der Angeklagte entgegen der Ankündigung im Verständigungsgespräch vom 23.10.2019 kein Geständnis ablegen werde, weil der in Aussicht gestellte Strafrahmen auch im Falle eines Geständnisses einen Vorwegvollzug im Falle der Anordnung einer Unterbringung nach § 64 StGB erforderlich machen würde. Der Angeklagte könne den Vorwegvollzug daher auch als Untersuchungshaft vorab „absitzen“, ein Geständnis bringe ihm keinen Vorteil.
Nach dem Vortrag der Verteidigung im Schriftsatz vom 27.01.2020 war mit Verteidigererklärung im Termin vom 20.12.2019 der Tatvorwurf Ziff. 4 der Anklage eingeräumt worden.
Ausweislich des Sitzungsprotokolls fand sodann ein weiteres Rechtsgespräch statt, in dem Staatsanwaltschaft und Gericht an ihren Strafvorstellungen festhielten. Die Jugendkammer hat sodann die Hauptverhandlung ausgesetzt, da im Hinblick auf das angekündigte Geständnis nicht alle Zeugen geladen worden waren und der als Zeuge geladene polizeiliche Sachbearbeiter sich wegen Erkrankung entschuldigt hatte.
Am 20.12.2020 vereinbarte die Vorsitzende der Jugendkammer mit den 3 Verteidigern und dem Sachverständigen neue Termine zur Hauptverhandlung für 16.07., 17.07., 22.07., 23.07. und 24.07.2020.
Mit Schriftsatz vom 23.12.2019, beim Landgericht München II eingegangen am 27.12.2019, legte der Verteidiger Dr. W. namens und im Auftrag des Angeklagten S. gegen den Haftbefehl des Landgerichts München II vom 15.10.2019 Beschwerde ein. Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dass gegen das in Haftsachen zu beachtende Beschleunigungsgebot verstoßen werde. Der Verteidiger schildert sodann den Verfahrensgang und trägt zum Erörterungsgespräch vom 23.10.2019 vor, dass seitens des Verteidigers ein Geständnis hinsichtlich der Anklagepunkte Nummer 1, 3 und 4 der Anklageschrift zwar angekündigt, dies jedoch abhängig von einer Rücksprache mit dem Angeklagten sowie dem weiteren Verteidiger Rechtsanwalt P. gemacht worden sei.
Die Akten wurden dem Senat am 13.01.2020 vorgelegt. Die Verteidiger hatten Gelegenheit, zum Vorlageschreiben der Staatsanwaltschaft München II vom 07.01.2020 und der Generalstaatsanwaltschaft München vom 09.01.2020 Stellung zu nehmen. Der Senat hat bei der Jugendkammer eine Stellungnahme zu der terminlichen Situation eingeholt. Mit Verfügung vom 17.01.2020 teilte die Vorsitzende Richterin am Landgericht mit, dass bei den Verfahrensbeteiligten keine Termine zu finden waren, da das Gericht aufgrund der Auslastung mit anderen Haftsachen nur wenige Termine anbieten konnte. Nachdem in anderer Sache Termine weggefallen seien, habe die Vorsitzende bei der Kanzlei Dr. W… die Termine 17.02., 02.03., 09.03. und 13.03.2020 angefragt, die alle nicht möglich seien. Auch der Verteidiger der Mitangeklagten habe am 17.02.2020 Verhinderung gemeldet. Der Sachverständige Dr. H. habe bis Mai keine Termine frei.
Die Verteidiger nahmen mit Schriftsätzen vom 20.01., 23.01. und 27.01.2020 ergänzend Stellung. Rechtsanwalt P. teilte dem Senat zudem fernmündlich mit, dass er von der Vorsitzenden nicht hinsichtlich der Termine im Februar/März 2020 angefragt worden sei. Er sei jedoch an diesen Terminen nur an 1 bis 2 Tagen verfügbar.
2. Der Angeklagte wurde durch Urteil des Amtsgerichts – Schöffengericht – München vom 05.11.2018, Gz. 1117 Ls 368 Js 170231/18 (Bl. 132/137 d.A.), wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln in Tatmehrheit mit vorsätzlichem unerlaubtem Handeltreiben (mit Betäubungsmitteln) in nicht geringer Menge in Tatmehrheit mit gewerbsmäßigem unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in 7 tatmehrheitlichen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Das Urteil ist wegen der seitens des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft eingelegten Berufungen noch nicht rechtskräftig. Im Termin zur Berufungshauptverhandlung am 10.12.2019 wurde die Hauptverhandlung ausgesetzt, nachdem der in erster Instanz voll geständige Angeklagte im Termin keine Angaben zur Sache mehr gemacht hat und Zeugen nicht geladen waren. Zuvor hatte die Staatsanwaltschaft München I die Anregung der Verteidigung auf Einstellung des Verfahrens nach § 154 Abs. 2 StPO im Hinblick auf das beim Landgericht München II anhängige Verfahren abgelehnt. Neuer Termin ist insoweit vorgesehen für den 12.05.2020.
II.
Die Beschwerde gegen den Haftbefehl vom 15.10.2019 ist gemäß §§ 304 Abs. 1, 306 Abs. 1 StPO zulässig.
Die Beschwerde des Angeklagten hat jedoch in der Sache keinen Erfolg. Gegen den Angeklagten besteht weiterhin dringender Tatverdacht hinsichtlich der im Haftbefehl genannten Taten. Ebenso liegt der Haftgrund der Fluchtgefahr gem. § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO weiterhin vor. Die Untersuchungshaft ist auch vor dem Hintergrund der vorgesehenen Hauptverhandlungstermine im Juli 2020 noch verhältnismäßig. Die Voraussetzungen des § 112 Abs. 1 StPO sind weiterhin gegeben.
1. Für den dringenden Tatverdacht nimmt der Senat Bezug auf den Haftbefehl vom 15.10.2019 sowie auf die in der Anklageschrift vom 22.07.2019 genannten Beweismittel. Nachdem die Beschwerde den dringenden Tatverdacht nicht in Frage stellt, sind insoweit weitere Ausführungen entbehrlich.
2.1 Der Haftbefehl vom 15.10.2019 wird nur noch auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gestützt. Dieser liegt unzweifelhaft vor. Insoweit wird auf die Ausführungen des Senats in seinem Beschluss vom 16.08.2019 Bezug genommen. Der Angeklagte hat mit einer langjährigen Freiheitsstrafe zu rechnen. Die im Erörterungsgespräch mitgeteilte Straferwartung seitens des Gerichts liegt bei mindestens 6 Jahren 6 Monaten. Zudem kommt nach derzeitiger Aktenlage eine teilweise Gesamtstrafenbildung jedenfalls mit den Strafen für die Taten Ziff. 1. und 2. des Haftbefehls, der vom Amtsgericht Tiergarten (Gz. 274 Cs3031 Js 14371/18) verhängten Geldstrafe von 50 Tagessätzen wegen Diebstahls und den im Verfahren der Staatsanwaltschaft München I (oben I.2.) zu verhängenden Einzelstrafen in Betracht, so dass dem Angeklagten insgesamt ein noch längerer Freiheitsentzug droht.
2.2 Obgleich nicht mehr Gegenstand des Haftbefehls, jedoch im Rahmen der Verhältnismäßigkeit dort angesprochen, liegt beim Angeklagten auch der Haftgrund der Verdunkelungsgefahr vor, § 112 Abs. 2 Nr. 3b StPO. Auch insoweit wird auf den Beschluss des Senats vom 16.08.2019 Bezug genommen. Der Angeklagte hat Zeugen dieses Verfahrens massiv bedroht. Diese Bedrohungssituation ist weiterhin zu erwarten. Zuletzt hat die bereits vom Angeklagten bedrohte Zeugin A… berichtet, am 07.11.2019 von der Mitangeklagten L… wegen ihrer Aussage gegen den Angeklagten und die Mitangeklagte L… zur Rede gestellt und bedroht worden zu sein. Die Zeugin A. bestätigte erneut, im Dezember 2018 vom Angeklagten S. wegen ihrer Zeugenaussage bedroht worden zu sein und weiterhin Angst vor ihm zu haben (Bl. 760 f d.A.).
3. Die Untersuchungshaft ist – trotz der voraussichtlich erst im Juli 2020 stattfindenden Hauptverhandlung – weiterhin verhältnismäßig. Insbesondere wurde das in Haftsachen zu beachtende Beschleunigungsgebot nicht verletzt, weil die zuletzt eingetretene Verzögerung auf der Verteidigungsstrategie des Angeklagten beruht.
3.1 Bis zur Hauptverhandlung am 20.12.2019 wurde das Verfahren sehr beschleunigt geführt. Die Staatsanwaltschaft München II hatte noch vor vollständigem Abschluss der Ermittlungen Anklage erhoben. Es waren insoweit die Erholung einer Vielzahl von Gutachten – Blutalkoholgutachten, Haargutachten, Wirkstoffgutachten, toxikologische, molekulargenetische und daktyloskopische Gutachten – und die (teils mehrfache) Vernehmung zahlreicher Zeugen sowie Kontoauswertungen erforderlich. Aufgrund der Kontoauswertungen wurde am 12.09.2019 ein (erweiterter) Arrestbeschluss erlassen. Soweit die Verteidigung mit Schriftsatz vom 27.01.2020 darauf abstellt, dass aufgrund der Anklageerhebung bereits im Juli 2019 zu einem früheren Zeitpunkt Eröffnungsreife bestanden hätte, wird verkannt, dass die nach Anklageerhebung eingehenden Ermittlungsergebnisse zwingend abzuwarten waren.
Dies betrifft insbesondere auch das Sachverständigengutachten vom 25.09.2019. Die von der Verteidigung am 15.04.2019 beantragte psychiatrische Begutachtung auf die Voraussetzungen des § 64 StGB wurde am 29.04.2019 in Auftrag gegeben, obwohl das Haargutachten vom 14.04.2019 insoweit nur eine niedrige THC- bzw. Nor-Cocain-Konzentration belegen konnte. Der von der Verteidigung benannte Gutachter Prof. St… konnte von der Staatsanwaltschaft nicht erreicht werden, daher wurde der Sachverständige Dr. H… beauftragt, der die Begutachtung zusagte und am 25.09.2019 abschloss. Die Bearbeitungszeit des Sachverständigen hält sich dabei im Rahmen des Üblichen. Es ist nämlich gerichtsbekannt, dass aufgrund der erheblichen Zunahme gesetzlich angeordneter oder obergerichtlich verlangter psychiatrischer Begutachtungen eine längere Bearbeitungszeit bei den erfahrenen psychiatrischen Sachverständigen unvermeidlich ist.
Mit Beschluss vom 20.11.2019 wurde das Hauptverfahren eröffnet und Termin zur Hauptverhandlung bereits auf den 20.12.2019 bestimmt. Zwischen Anklageerhebung und Hauptverhandlungstermin lagen damit gerade 5 Monate. Trotz der überdurchschnittlichen Komplexität des Verfahrens, das auch dadurch gekennzeichnet ist, dass die Staatsanwaltschaft gegen zahlreiche weitere Personen aus dem Komplex ermittelte, so dass immer wieder Nachfragen und Abgleiche der Aussagen erforderlich wurden, hält sich damit die Dauer im Rahmen dessen, was vom Bundesverfassungsgericht als für den „Regelfall“ zulässig erachtet wird (vgl. z.B. BVerfG BeckRS 2014, 54605). Dass möglicherweise früher Eröffnungsreife bestanden hätte, wirkte sich daher im Ergebnis nicht aus. Offensichtlich hatte die Kammer das Erörterungsgespräch am 23.10.2019 abgewartet, um die Hauptverhandlung besser planen zu können, und hat sodann – nach Absprache der Termine – zugleich mit dem Eröffnungsbeschluss die Termine bestimmt.
Die Aussetzung der Hauptverhandlung am 20.12.2019 war allein dem Verteidigungsverhalten des Angeklagten geschuldet. Durch seinen Verteidiger hatte der Angeklagte im Erörterungstermin eine geständige Einlassung hinsichtlich der Anklagepunkte 1, 3 und 4 angekündigt. Entgegen den Ausführungen im Schriftsatz des Verteidigers Dr. W. vom 23.12.2019 und 20.01.2020 ist dem Vermerk über das Erörterungsgespräch am 23.10.2019 nicht zu entnehmen, dass das angekündigte Geständnis unter dem Vorbehalt der Rücksprache mit dem Angeklagten und des weiteren Verteidigers stand, der Vorbehalt bezieht sich ersichtlich auf die angesprochenen Strafrahmen. Der Vermerk ging im unmittelbaren Anschluss beiden Verteidigern zu. In den folgenden zwei Monaten bis zur Hauptverhandlung haben die Verteidiger weder dem im Vermerk niedergelegten Inhalt des Gesprächs widersprochen noch angekündigt, dass entgegen der Zusage eine geständige Einlassung nicht erfolgen werde. Den Verteidigern war dabei bekannt, dass nicht nur die Kammer terminlich ausgelastet ist, wie diese bereits am 23.10.2019 mitgeteilt hatte, sondern auch die Verteidiger selbst zeitlich derart ausgelastet sind, dass die Vereinbarung allerseits passender Termine äußerst schwierig werden würde. Bereits im Vorfeld wurden vielfach Verhinderungen auf Seiten der Verteidiger mitgeteilt. Es ist daher davon auszugehen, dass den Verteidigern bewusst war und es ihnen sogar darauf ankam, dass durch dieses Verteidigungsverhalten eine zeitnahe neue Terminierung nicht möglich sein würde. Denn dies entspricht der im Vorlagebericht der Staatsanwaltschaft vom 07.01.2020 mitgeteilten Aussage, dass der Angeklagte den aufgrund der Straferwartung der Kammer unvermeidlichen Vorwegvollzug (§ 67 Abs. 2 S. 2, S. 3 StGB) im Falle der Anordnung einer Maßregel nach § 64 StGB als Untersuchungshaft absitzen wolle. Es entspricht auch dem Verteidigungsverhalten des Angeklagten im Rahmen des vor dem Landgericht München I geführten Parallelverfahrens (21 Ns 369 Js 170231/18). Dieses Verteidigerverhalten ist dem Angeklagten zuzurechnen, da er es sich ersichtlich zu eigen gemacht hat.
Wäre der Angeklagte bei seinem angekündigten Verteidigungsverhalten geblieben, hätte die Hauptverhandlung am 20. und 23.12.2019 voraussichtlich durchgeführt und zu einem Abschluss gebracht werden können. Das Geständnis zu den Taten Ziff. 1, 3 und 4 hätte durch die geladenen Zeugen und Sachverständigen validiert werden können. Die Tat unter Ziff. 2 hätte durch die geladenen Zeugen S…-H… und K… aufgeklärt werden können, die Beteiligung der nicht geständigen Mitangeklagten L… durch Einvernahme der ebenfalls geladenen Zeugen A… und POK W. sowie durch die Telefonüberwachungsprotokolle.
Entgegen den Ausführungen in der Beschwerde und im Schriftsatz vom 27.01.2020 beruht die nunmehr erst für Juli 2020 vorgesehene Terminierung daher nur zu einem geringen Teil auf der Belastungssituation der Jugendkammer, die in der Gesamtbetrachtung nicht ins Gewicht fällt. Denn es ist von Seiten der Justizverwaltung nicht zu leisten, dass Richter und Kammern vorgehalten werden, um auf jedes denkbare Verteidigungsverhalten unmittelbar eingehen zu können. Dies würde zu Leerläufen führen und wäre dem Steuerzahler nicht vermittelbar. Es kann auch von den Strafkammern nicht verlangt werden, ihre Terminkalender für einen solchen Fall frei zu halten, da es andernfalls in anderen Verfahren zu erheblichen Verzögerungen kommen würde.
Die Kammer hatte bei der weiteren Terminplanung die Verhinderungen der Verfahrensbeteiligten zu berücksichtigen. Sie hat bei ihr frei gewordene Termine im Februar und März 2020 bei einigen Verfahrensbeteiligten – dem Verteidiger Dr. W. und dem Verteidiger der Mitangeklagten – angefragt und dort keine entsprechenden zeitlichen Kapazitäten finden können. Eine weitere Abfrage der Vorsitzenden bei dem Verteidiger Rechtsanwalt P. – der nach seiner Mitteilung ohnehin überwiegend verhindert gewesen wäre – war entbehrlich, weil auch der Sachverständige bis Mai 2020 keine freien Termine melden konnte. Die Ausführungen im Schriftsatz des Verteidigers Dr. W. vom 27.01.2020 zur Person des Sachverständigen sind unbehelflich, denn es wird nicht mitgeteilt, dass der ursprünglich von der Verteidigung vorgeschlagene Sachverständige zu einem früheren Termin verfügbar und die Begutachtung bis2 Ws 49/20 – Seite 8 – dahin nachzuholen imstande wäre. Die Beauftragung des Sachverständigen Dr. H…, der zum Termin am 20.12.2019 geladen wurde und erschienen ist, ist aus den oben genannten Gründen nicht zu beanstanden.
Aus den dargestellten Gründen ergibt sich, dass die eingetretene Verfahrensverzögerung nicht auf vermeidbaren, dem Staat zuzurechnenden Umständen beruht.
3.2 Es ist gegenwärtig auch nicht zu beanstanden, dass die Kammer keine anderen Maßnahmen zur Verfahrensförderung ergriffen hat. Insbesondere war die Bestellung eines Pflichtverteidigers zur Verfahrenssicherung wegen der zeitlichen Beanspruchung der gewählten Verteidiger bislang nicht geboten, weil dies wegen der fehlenden zeitlichen Kapazitäten auf Seiten des Sachverständigen keine Verfahrensförderung bedeutet hätte und daher das Recht des Angeklagten auf Vertretung durch die von ihm gewählten Verteidiger noch überwiegt.
Die jetzige Beauftragung eines anderen Sachverständigen würde nach forensischer Erfahrung ebenfalls keine relevante Beschleunigung zur Folge haben, weil eine erneute Begutachtung ebenfalls erhebliche zeitliche Verzögerungen mit sich bringen würde.
Auch Maßnahmen der Justizverwaltung, namentlich die Zuweisung der Sache gem. § 21e Abs. 3 GVG an eine andere Kammer, sind nach Abwägung des im Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 GG) verankerten Beschleunigungsgrundsatzes in Haftsachen und dem Recht auf den gesetzlichen Richter vorliegend nicht zwingend geboten. Denn das Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG tritt im Falle der Verfahrensverzögerung nicht vollständig zurück; es besteht vielmehr ein Anspruch auf eine zügige Entscheidung gerade durch den gesetzlichen Richter. Das Recht auf den gesetzlichen Richter ist daher mit dem rechtsstaatlichen Gebot einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege und dem verfassungsrechtlichen Beschleunigungsgrundsatz zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen (BeckOK GVG/Valerius, 5. Ed. 1.11.2019, GVG § 21e Rn. 27). Vorliegend würde eine merkbare Beschleunigung angesichts der zeitlich eingeschränkten Verfügbarkeit von Verteidigern und Sachverständigen sowie der notwendigen Einarbeitung einer anderen Kammer durch eine Umverteilung gem. § 21e Abs. 3 GVG voraussichtlich nicht bewirkt werden können.
Gleichwohl wird die Kammer im weiteren Verlauf jede Möglichkeit der Beschleunigung – insbesondere im Falle weiter frei werdender Termine – wahrzunehmen haben. Der Senat wird bei den weiteren Haftprüfungen die Beachtung dieser Verpflichtung überprüfen.
3.3 Der Senat hat auch erwogen, ob im Hinblick auf die Dauer der Untersuchungshaft andere Maßnahmen gem. § 116 StPO ergriffen werden können, um die Zwecke der Untersuchungshaft zu erreichen. Dies kam jedoch aufgrund der in der Person des Angeklagten liegenden Unzuverlässigkeit nicht in Betracht. Der Angeklagten hat im Vorfeld massiv auf Zeugen eingewirkt. Er hat sich auch in der Untersuchungshaft nicht an Regeln halten wollen und unerlaubt Tabletten und ein Mobiltelefon in Besitz gehabt. Der Angeklagte hat sich auch nicht durch eine (nicht rechtskräftige) Verurteilung durch das Amtsgericht München zu rechtstreuemVerhalten anhalten lassen. Die vom Amtsgericht für seine Entscheidung über die Bewährungsaussetzung angenommene Erwartung, dass der Anklagte sich durch die Verhängung einer Bewährungsstrafe von der Begehung zukünftiger – auch einschlägiger – Straftaten abhalten lassen würde, hat der Angeklagte durch die verfahrensgegenständliche Tatserie nicht nur eindrucksvoll widerlegt, er hat die Intensität seiner Taten sogar gesteigert.
Angesichts der erheblichen Straferwartung, die durch – dann einbeziehungsfähige – Einzelstrafen aus dem Verfahren vor dem Landgericht München I noch gesteigert werden könnte, und angesichts der gezeigten Skrupellosigkeit des Angeklagten sieht der Senat keine naheliegende Chance, dass der Angeklagte sich durch Auflagen nach § 116 StPO von einer Flucht abhalten lassen würde. Dabei erscheint auch die Erwartung des Angeklagten, dass eine Anordnung einer Unterbringung gemäß § 64 StGB gegen ihn ergehen wird, nicht ausreichend, um eine Flucht oder ein Untertauchen ausschließen zu können. Zwar besteht – bei erfolgreichem Abschluss der Maßregel – die Möglichkeit der Halbstrafenaussetzung, die anders bei den im Raum stehenden langjährigen Haftstrafen eher nicht gegeben wäre. Andererseits ist diese Anordnung – trotz der großzügigen Handhabung aufgrund der BGH-Rechtsprechung – keineswegs sicher zu erwarten. Denn beim Angeklagten besteht ausweislich der gutachterlichen Feststellungen lediglich die Diagnose eines polyvalenten schädlichen Gebrauchs von Drogen und Medikamenten, die aufgrund des vorliegenden Haargutachtens jedoch zu den Tatzeitpunkten noch nicht einmal gesichert ist. Gegenüber dem Amtsgericht München gab der Angeklagte an, seit langer Zeit keine Betäubungsmittel mehr zu konsumieren (Urteil vom 05.11.2018, S. 3). Ein Abhängigkeitssyndrom mit Krankheitswert, das in einer Maßregeleinrichtung erfolgreich behandelt werden könnte, liegt beim Angeklagten ersichtlich nicht vor. Der Sachverständige hat die medizinischen Voraussetzungen des § 64 StGB nicht abschließend bejahen können.
Nach Abwägung sämtlicher Umstände sind keine Auflagen ersichtlich, die geeignet wären, den Zweck der Untersuchungshaft in gleicher Weise sicherzustellen.
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 473 Abs. 1 StPO.


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