Strafrecht

Entbindung eines Pflichtverteidigers wegen unterbliebener Besuche beim Beschuldigten in Untersuchungshaft

Aktenzeichen  12 Qs 9/20

Datum:
13.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
StV – 2021, 169
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StPO § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3

 

Leitsatz

1. Eine endgültige Zerstörung des Vertrauensverhältnisses zwischen Pflichtverteidiger und Beschuldigtem i.S.v. § 143a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO kann daraus resultieren, dass der Verteidiger den in Untersuchungshaft befindlichen Beschuldigten über längere Zeit hinweg nicht besucht (vgl. für einen Zeitraum von zwei Monaten: OLG Düsseldorf BeckRS 2010, 28906). (Rn. 10 – 12) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei ausbleibenden Haftbesuchen über mehr als fünf Monate hinweg gilt dies auch unter Berücksichtigung zeitweise erschwerter Besuchsbedingungen infolge der Corona-Pandemie. (Rn. 13 – 14) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

ER VIII Gs 200/20 2020-05-15 Bes AGMUENCHEN AG München

Tenor

1. Auf die Beschwerde des Beschuldigten … gegen den Beschluss des Amtsgerichts München vom 15.05.2020 wird dieser aufgehoben.
2. Die Bestellung von Rechtsanwalt … zum Pflichtverteidiger wird aufgehoben.
3. Rechtsanwalt … wird zum neuen Pflichtverteidiger bestellt.

Gründe

I.
Das Amtsgericht München erließ am 21.01.2020 gegen den Beschuldigten Haftbefehl wegen des dringenden Verdachts des schweren Bandendiebstahls in sechs tatmehrheitlichen Fällen. Dieser Haftbefehl wurde dem Beschuldigten am selben Tag eröffnet und der im Termin anwesende Rechtsanwalt … als Pflichtverteidiger beigeordnet.
Am 21.01.2020 beantragte Rechtsanwalt … Akteneinsicht, die ihm mit Verfügung vom 30.01.2020 mittels Übersendung eines Datenträgers gewährt wurde.
Mit Schreiben vom 04.05.2020 zeigte Rechtsanwalt … seine Verteidigung an, die er mittels Vollmacht nachwies. Dieser beantragte mit weiterem Schreiben vom 04.05.2020, den bisherigen Pflichtverteidiger Rechtsanwalt … zu entpflichten und ihn selbst als Pflichtverteidiger zu bestellen. Zur Begründung bringt er vor, Rechtsanwalt … habe den Beschuldigten noch nie in der Justizvollzugsanstalt besucht, was trotz der Corona-Pandemie problemlos möglich gewesen sei. Dies begründe einen unwiederbringlichen Vertrauensverlust.
Mit Beschluss vom 15.05.2020 lehnte das Amtsgericht München den Antrag des Wahlverteidigers Rechtsanwalt … auf Entpflichtung des Pflichtverteidigers Rechtsanwalt … und Bestellung von Rechtsanwalt … als neuen Pflichtverteidiger ab. Das Gericht führte im Wesentlichen an, eine Zerstörung des Vertrauensverhältnisses lasse sich nicht allein daraus schließen, dass 2 Monate lang kein Verteidigerbesuch erfolgt sei, zumal Rechtsanwalt …icht vorgetragen habe, ob ein konkreter Beratungsbedarf bestanden habe.
Gegen diesen Beschluss legte Rechtsanwalt … im Auftrag seines Mandanten am 25.05.2020 Beschwerde mit der Begründung ein, das Rechtsinstitut der Pflichtverteidigung laufe leer und es drohe der Verlust wichtiger Verteidigungsrechte, wenn der Beschuldigte nicht von seinem Pflichtverteidiger besucht und umfassend beraten werde.
Mit Verfügung vom 02.06.2020 beantragte die Staatsanwaltschaft München I, der Beschwerde nicht abzuhelfen. Insbesondere sei weder im Antrag vom 04.05.2020 noch in der Beschwerde eine Begründung angeführt, welcher konkrete Beratungsbedarf bestanden und einen Besuch erforderlich gemacht habe.
Das Amtsgericht München half der Beschwerde mit Beschluss vom 15.05.2020 nicht ab. Die Staatsanwaltschaft legte mit Verfügung vom 12.06.2020 die Akten zur Entscheidung über die Beschwerde dem Landgericht München I vor, das mit Verfügung vom 18.06.2020 dem Pflichtverteidiger Rechtsanwalt … rechtliches Gehör mit Stellungnahmefrist von 6 Tagen gewährte.
Eine Stellungnahme durch Rechtsanwalt … erfolgte am 23.06.2020. Es sei richtig, dass er seinen Mandanten bislang in der JVA nicht besucht habe. Dies sei allerdings auf das Andauern des Ermittlungsverfahrens und die Corona-Pandemie zurückzuführen. Er habe sich im Rahmen der Haftbefehlseröffnung am 21.01.2020 mit dem Beschuldigten besprochen und vereinbart, dass ein Besuch in der JVA München erst nach Akteneinsicht erfolgen solle. Anfang Februar 2020 habe er dann zwar Akteneinsicht erhalten, jedoch sei das Ermittlungsverfahren noch nicht abgeschlossen und der Akteninhalt nicht vollständig gewesen. Außerdem habe er nach Verhängung der Ausgangsbeschränkungen durch die bayerische Staatsregierung seine in Haft befindlichen Mandaten angeschrieben und um Verständnis dafür gebeten, dass nur in „äußerst dringenden Fällen“ ein Besuch in der JVA stattfinden könne. In solchen äußerst dringlichen Fällen habe er um entsprechende Mitteilung gebeten, die durch den Beschuldigten aber nicht erfolgt sei.
II.
Die Beschwerde des Beschuldigten ist statthaft und auch sonst zulässig, § 306 Abs. 1 StPO.
Die Bestellung eines Pflichtverteidigers ist gem. § 143 a Abs. 2 S. 1 Nr. 3 StPO aufzuheben und ein neuer Pflichtverteidiger zu bestellen, weil das Vertrauensverhältnis zwischen Verteidiger und Beschuldigtem endgültig zerstört ist. Endgültig zerstört ist das Vertrauensverhältnis, wenn zu besorgen ist, dass die Verteidigung objektiv nicht mehr sachgerecht geführt werden kann (BVerfG NJW 2001, 3695, 3697). Das ist vom Standpunkt eines vernünftigen und verständigen Beschuldigten zu beurteilen (BGH NStZ 2004, 632, 633).
Als eine grobe Pflichtverletzung, die nicht bloß ein unzweckmäßiges oder prozessordnungswidriges Verhalten darstellt, wird insbesondere die Unwilligkeit oder Untätigkeit des Pflichtverteidigers gezählt (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. 2020, Rn. 26 f. m.w.N.). Ein solcher Fall des erschütterten Vertrauensverhältnisses liegt nach ständiger Rspr. auch vor, wenn ein inhaftierter Beschuldigter längere Zeit nicht von seinem Verteidiger besucht wird (vgl. für ausbleibenden Besuch über 2 Monate hin OLG Düsseldorf NStZ-RR 2011, 48; BeckOK StPO/Krawczyk, 36. Ed. 1.1.2020, StPO § 143a Rn. 19 m.w.N.).
Vorliegend sind Verteidigerbesuche seit über 5 Monaten nicht erfolgt. Rechtsanwalt A sprach zuletzt am 21.01.2020 bei der Haftbefehlseröffnung mit dem Beschuldigten und vereinbarte mit diesem, dass ein Besuch nach Akteinsicht erfolgen solle. Bereits Anfang Februar 2020 wurde Rechtsanwalt … jedoch Akteneinsicht gewährt. Selbst wenn die Akte unvollständig oder das Ermittlungsverfahren noch nicht weit vorangeschritten sein sollte, wie Rechtsanwalt … vorbringt, machte dies dennoch den angekündigten Besuch in der JVA nicht entbehrlich.
Des Weiteren traten die von Rechtsanwalt … angeführten Kontaktbeschränkung der bayerischen Landesregierung bekanntlich erst am 21.03.2020 in Kraft, also rund 7 Wochen nach Akteneinsicht und 2 Monate nach dem letzten Treffen zwischen Pflichtverteidiger und Beschuldigten. Warum ein Besuch in der Zwischenzeit nicht erfolgte, legt Rechtsanwalt … nicht dar. Ferner erscheint auch das Rundschreiben von Rechtsanwalt … an seinen Mandaten, dass nur in „äußerst dringenden Fällen“ ein Besuch erfolgen könne, im Hinblick auf das Recht auf einen Pflichtverteidiger als Konkretisierung des verfassungsrechtlich gewährleisteten Rechtsstaatsprinzips nicht unbedenklich, zumal ersatzweise auch Telefonate hätten geführt werden können.
Bei ausbleibenden Besuchen über einen derart langen Zeitraum von nunmehr 5 Monaten ist die Sorge des Beschuldigten auch trotz der Corona-Pandemie berechtigt, dass Rechtsanwalt … der Aufgabe, sich für ihn und seine Belange einzusetzen, nicht mehr gerecht werde. Auch ein konkreter Beratungsbedarf, wie die Staatsanwaltschaft verlangt, ist hierfür nicht erforderlich, zumal ein solcher Vortrag mit Blick auf die Schweigepflicht des Verteidigers nicht unproblematisch ist.
Die Strafkammer gewährte auch dem Beschuldigten rechtliches Gehör. Mit Schreiben vom 07.07.2020 teilte dieser mit, er wolle Rechtsanwalt … als Pflichtverteidiger haben.


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