Strafrecht

Gesamtfreiheitsstrafe, Tateinheit, Beschwerde, Staatsanwaltschaft, Justizvollzugsanstalt, Handeltreiben, Haftbefehl, Entziehungsanstalt, Vollstreckung, Freiheitsstrafe, Strafe, Strafkammer, Tatmehrheit, Beihilfe, nicht geringer Menge, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, geringer Menge

Aktenzeichen  1 Ws 70/22

Datum:
21.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 15184
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Bamberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:

 

Leitsatz

Tenor

1. Auf die Beschwerde des Verurteilten wird der Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bayreuth vom 08.09.2020 aufgehoben.
2. Die Staatskasse hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens und die dem Beschwerdeführer insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

I.
Am 22.03.2016 verhängte das Landgericht Bayreuth gegen den Verurteilten wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in 3 tatmehrheitlichen Fällen, jeweils in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln eine Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten (Az. 1 KLs … Js …/15). Die Rechtskraft des Urteils trat am 30.03.2016 ein. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Verurteilte seit dem 19.11.2015 in der Justizvollzugsanstalt B. in Untersuchungshaft befunden. Ab dem 20.04.2016 verbüßte er die Strafhaft in der Justizvollzugsanstalt C..
Mit Beschluss vom 23.05.2016 stimmte das Landgericht – Strafkammer – Bayreuth der Zurückstellung der Vollstreckung gemäß § 35 BtMG zu. Die Staatsanwaltschaft Bayreuth stellte daraufhin am 27.05.2016 die weitere Vollstreckung der Strafe gemäß § 35 BtMG für die Behandlung in der Fachklinik D., E., für die Dauer von längstens 2 Jahre zurück. Am 31.05.2016 trat der Verurteilte aus der Justizvollzugsanstalt C. aus und begab sich in die Fachklinik D. in E.. Dort wurde er am 27.07.2016 erstmals disziplinarisch entlassen, setzte aber die Behandlung am 26.09.2016 fort. Am 09.11.2016 erfolgte eine erneute disziplinarische Entlassung. Mit Verfügung vom 16.11.2016 widerrief die Staatsanwaltschaft Bayreuth die bewilligte Zurückstellung der Vollstreckung. Am 08.02.2017 stellte die Staatsanwaltschaft Bayreuth die Vollstreckung der Strafe erneut zurück. Am 08.08.2017 wurde der Verurteilte regulär aus der Fachklinik F. in G. entlassen. Mit Beschluss vom 14.12.2017 setzte das Landgericht Bayreuth die weitere Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe aus dem Urteil des Landgerichts Bayreuth vom 22.03.2016 gemäß § 36 Abs. 1 Satz 3 BtMG zur Bewährung aus und setzte die Bewährungszeit auf 3 Jahre fest. Sie lief bis zum 10.01.2021.
Am 15.07.2020 beantragte die Staatsanwaltschaft Bayreuth beim Landgericht – Strafvollstreckungskammer – Bayreuth, die Bewährungszeit aufgrund einer neuerlichen Verurteilung wegen unerlaubten Besitzes von Betäubungsmitteln zu einer Geldstrafe durch das Amtsgericht Würzburg, Az. … Ds … Js …/19, vom 22.06.2020, rechtskräftig seit dem 30.06.2020, um ein Jahr zu verlängern. Nach schriftlicher Anhörung des Verurteilten verlängerte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bayreuth mit Beschluss vom 08.09.2020 die Bewährungszeit um ein halbes Jahr bis zum 10.07.2021. Dieser Beschluss wurde dem Verurteilten am 11.09.2020 zugestellt.
Das Amtsgericht Bamberg erließ am 23.04.2021 einen Haftbefehl wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tatmehrheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in vier tateinheitlichen Fällen. Die Tatzeit (22.04.2021) lag innerhalb der durch Beschluss des Landgerichts Bayreuth vom 08.09.2020 verlängerten Bewährungszeit .
Am 03.08.2021 beantragte die Staatsanwaltschaft infolgedessen beim Landgericht – Strafvollstreckungskammer – Bayreuth, die Strafe zu widerrufen und erklärte sich einverstanden, den Ausgang des Bezugsverfahrens abzuwarten. Der Antrag der Staatsanwaltschaft wurde dem Verurteilten aufgrund der Verfügung der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bayreuth vom 06.08.2021 mit dem Hinweis, dass auch noch nach Ablauf der Bewährungszeit ein Widerruf möglich sei, zunächst unter seiner Anschrift in T. am 20.08.2021 zugestellt sowie noch einmal am 24.09.2021 in der Justizvollzugsanstalt A., in der er sich seit dem 23.04.2021 aufgrund des obengenannten Haftbefehls in Untersuchungshaft befunden hatte.
Am 13.10.2021 wurde der Verurteilte durch das Landgericht Bamberg, rechtskräftig seit dem 25.11.2021, wegen Beihilfe zum vorsätzlichen unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte in drei tateinheitlichen Fällen in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 4 Jahren und 4 Monaten verurteilt; zudem wurde die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB angeordnet, (Az. xx KLs … Js …/21).
Mit Verteidigerschriftsatz vom 10.01.2022 legte der Verurteilte gegen den Beschluss des Landgerichts Bayreuth vom 08.09.2020 Beschwerde ein und trug vor, dass das Landgericht Amberg für diese Entscheidung zuständig gewesen wäre.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat mit Zuleitungsschrift vom 01.02.2022 beantragt, die Beschwerde des Verurteilten kostenfällig als unzulässig zu verwerfen.
Der Verurteilte hatte Gelegenheit zur Stellungnahme und äußerte sich mit Verteidigerschriftsatz vom 16.02.2022, auf den inhaltlich verwiesen wird.
II.
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Landgerichts Bayreuth vom 08.09.2020 ist als einfache Beschwerde gemäß §§ 453 Abs. 1 und 2 StPO statthaft und auch sonst zulässig (§§ 304, 306 Abs. 1 StPO).
Die Beschwerde ist nicht deshalb unzulässig, weil der Verurteilte sie erst ca. 1 Jahr 4 Monate nach Kenntnisnahme des Beschlusses vom 08.09.2020 erhoben hat.
Das Rechtsschutzbedürfnis für die Einlegung eines unbefristeten Rechtsmittels kann zwar verwirkt werden und dadurch zu dessen Unzulässigkeit führen (vgl. MüKoStPO/Allgayer, 1 Aufl., StPO, § 296 Rz. 40). Die Tatsache, dass der Berechtigte sich verspätet auf sein Recht beruft, der Zeitablauf allein also, führt noch nicht zur Verwirkung. Hinzukommen muss vielmehr, dass der Berechtigte unter Verhältnissen untätig bleibt, unter den vernünftigerweise etwas zur Wahrung des Rechts unternommen zu werden pflegt. Erst dadurch wird eine Situation geschaffen, auf die der jeweilige Gegner vertrauen, sich einstellen und einrichten darf. Bei der Verwirkung prozessualer Befugnisse im öffentlichen Recht ist auch zu berücksichtigen, dass nicht nur ein schutzwürdiges Vertrauen der Gegenpartei auf das Untätigbleiben des Berechtigten, sondern auch ein öffentliches Interesse an der Erhaltung des Rechtsfriedens es rechtfertigen können, die Anrufung eines Gerichts nach längerer Zeit als unzulässig anzusehen. Ein an sich unbefristeter Antrag kann nicht nach Belieben hinausgezogen oder verspätet gestellt werden, ohne unzulässig zu werden. Im Strafrecht gilt nichts anderes. Hier gibt es zwar fast keine unbefristeten Rechtsmittel, Verfahrensrügen können aber verwirkt werden. Der Weg zu den Gerichten darf durch die Annahme einer Verwirkung jedoch nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigenden Weise, erschwert werden. Davon kann jedenfalls dann nicht die Rede sein, wenn der Zeitraum, auf den dabei abgestellt wird, nicht zu kurz bemessen ist und wenn dabei vorausgesetzt wird, dass die rechtzeitige Anrufung des Gerichts dem Betroffenen möglich, zumutbar und von ihm zu erwarten war (vgl. BVerfG, Beschluss vom 26.01.1972 – 2 BrR 255/67 m.w.N.). Ab wann ein Untätigsein als vertrauensbildend und damit als für eine Verwirkung relevant gewertet werden kann, lässt sich letztlich nur bei einzelfallbezogener Abwägung der Umstände ermitteln (BVerfG, Beschluss vom 04.03.2008 – 2 BvR 2111 und 2112/07; in diesem Verfahren hatte das Bundesverfassungsgericht bei Einlegung einer Beschwerde innerhalb von einem Jahr nach Bekanntwerden der Ermittlungsmaßnahmen und innerhalb von 9 Monaten nach Einstellung des Verfahrens nach § 170 Abs. 2 StPO noch keine Verwirkung angenommen).
Gemessen hieran ist die Beschwerde des Verurteilten gegen die Verlängerung der Bewährungszeit, die grundsätzlich nicht fristgebunden ist, noch als zulässig zu betrachten.
Der Verurteilte erlangte bereits am 11.09.2020 Kenntnis von dem Beschluss und hat erst ca. 1 Jahr und 4 Monate später Beschwerde hiergegen eingelegt. Dies rechtfertigt jedoch, ebenso wenig wie die Tatsache, dass das (unzuständige) Landgericht Bayreuth im August 2021 die Zustellung des Antrags an den Verurteilten unter Hinweis auf die Möglichkeit des Widerrufs auch noch nach Ablauf der Bewährungszeit veranlasst hatte, die Annahme einer Verwirkung des Rechtsmittels.
Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass der vorliegende Vollstreckungsfall noch nicht abgeschlossen und die Strafe, die der Bewährung zugrunde liegt, noch nicht erlassen ist. Es müssen und können noch Entscheidungen in Bezug darauf getroffen werden.
Zum anderen hätte im Rahmen eines eventuell vorzunehmenden Widerrufs wegen der erneuten Verurteilung das Gericht inzident auch zu prüfen, ob die Bewährungszeit zu Recht verlängert worden ist (vgl. PfzOLG Zweibrücken, Beschluss vom 12.02.1993 – 1 Ws 73-75/93; KG, Beschluss vom 31.03.2011 – 4 Ws 29/11). Dann kann aber auch dem Verurteilten derzeit nicht verwehrt werden – isoliert – eine Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Verlängerung der Bewährungszeit herbeizuführen. Die Frage der fehlenden Zuständigkeit des Landgerichts Bayreuth dürfte für den Verurteilten zum damaligen Zeitpunkt zudem nicht offensichtlich gewesen sein, sodass er gehalten gewesen wäre, deswegen unverzüglich Beschwerde einzulegen.
Das gemäß § 306 Abs. 2 StPO vorgeschriebene Abhilfeverfahren durch das Gericht, welches die angefochtene Entscheidung erlassen hat, hat stattgefunden.
Das Rechtsmittel hat auch in der Sache Erfolg. Der Beschluss vom 08.09.2020 ist aufzuheben, da die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Bayreuth für die Verlängerung der Bewährungszeit örtlich nicht zuständig war.
Die Freiheitsstrafe gegen den Verurteilten wurde ab dem 20.04.2016 in der Justizvollzugsanstalt C. vollstreckt. Damit wurde die örtliche Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Amberg begründet (§ 462a Abs. 1 Satz 1 StPO). Sie blieb auch zuständig nach Zurückstellung der Strafvollstreckung und Entlassung (§ 462a Abs. 1 Satz 2 StPO).
Eine eigene Sachentscheidung ist dem Senat nicht möglich, da das (jedenfalls damals) örtlich zuständige Gericht nicht im hiesigen Zuständigkeitsbereich liegt (KK-StPO/Zabeck, 8. A., StPO, § 309, Rz. 8 m.w.N.).
III.
Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 467 Abs. 1 StPO.


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