Strafrecht

Keine Verurteilung wegen unerlaubten Aufenthalts während laufendem Rückführungsverfahren

Aktenzeichen  1 Qs 49/20

Datum:
30.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 31393
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Schweinfurt
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
RL 2008/115 Art. 8 Abs. 1, Abs. 4
AufenthG § 95 Abs. 1 Nr. 2

 

Leitsatz

1. Wenn mit den zulässigen Maßnahmen das angestrebte Ziel der Abschiebung des Drittstaatsangehörigen nicht erreicht werden kann, steht es den Mitgliedsstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH frei, Maßnahmen – auch strafrechtlicher Art – zu ergreifen, die es insbesondere ermöglichen, Drittstaatsangehörige vom illegalen Verbleib in ihrem Hoheitsgebiet abzuhalten. (Rn. 9) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nach der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ist eine Bestrafung nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG unter der Rückführungsrichtlinie während des laufenden Rückführungsverfahrens nicht möglich. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Schweinfurt gegen den Beschluss des Amtsgerichts Schweinfurt vom 28.04.2020 wird dieser aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung – auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens – an das Amtsgericht zurück verwiesen.
1.

Gründe

I.
Unter dem 23.03.2020 beantragte die Staatsanwaltschaft Schweinfurt gegen den Angeschuldigten den Erlass eines Strafbefehls, weil er sich am 05.11.2019 in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten habe, obwohl er – wie er gewusst habe – den erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besessen habe. Obwohl seine Abschiebung am 28.05.2019 angeordnet und ihm am 21.10.2019 die Rücküberstellung nach Frankreich angekündigt worden sei, habe der Angeschuldigte sich am 05.11.2019 geweigert, das bereitstehende Flugzeug nach Frankreich zu besteigen und seine Flugunwilligkeit erklärt. Die Rücküberstellungsfrist des Dublin-Verfahrens habe am 28.11.2019 geendet. Aufgrund des Verhaltens des Angeschuldigten sei seine Rückführung innerhalb der Frist nicht möglich gewesen und es habe das nationale Verfahren eingeleitet werden müssen. Am 03.01.2020 sei dem Angeschuldigten daraufhin durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge eine neue Aufenthaltsgestattung ausgestellt worden. Dieses Verhalten erfülle den Tatbestand des unerlaubten Aufenthalts gemäß § 95 Abs. 1 Nr. 2 Aufenthaltsgesetz.
Mit Beschluss vom 28.04.2020 hat das Amtsgericht Schweinfurt den Erlass des beantragten Strafbefehls abgelehnt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass einer Strafbarkeit des Angeschuldigten vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EuGH die Rückführungsrichtlinie (RL 2008/115/EG) entgegen stehe.
Gegen den Beschluss, der der Staatsanwaltschaft Schweinfurt am 14.05.2020 zugestellt worden ist, hat die Staatsanwaltschaft am 15.05.2020 sofortige Beschwerde eingelegt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass die Rückführungsrichtlinie es nicht verbiete, ein Verhalten unter Strafe zu stellen, mit dem der Betroffene sich selbst außerhalb der Rückführungsrichtlinie stelle. Das bereits nahezu abgeschlossene Rückführungsverfahren sei in dem Moment gescheitert, in dem der Rückflug des Drittstaatsangehörigen aufgrund seiner Weigerung nicht statt finde. In einem Fall wie dem vorliegenden sei darüber hinaus eine Abschiebehaft nach Art. 15 Rückführungsrichtlinie unverhältnismäßig, weil keine Fluchtgefahr bestehe.
Das Amtsgericht Schweinfurt hat der Beschwerde nicht abgeholfen und zur Begründung ausgeführt, dass durch die Weigerung des Angeschuldigten, das Flugzeug zu besteigen, die Rückführung nicht gescheitert sei. Vielmehr sei die Rückführung innerhalb von 6 Monaten daran gescheitert, dass die Behörden das Verfahren sehr zögerlich betrieben hätten. Daher ließe sich keine Strafbarkeit des Angeschuldigten begründen.
In seiner Stellungnahme zur Beschwerdebegründung der Staatsanwaltschaft hat der Angeschuldigte geltend gemacht, dass er sich der Situation gestellt habe und nicht er, sondern die Polizei die Rückführung abgebrochen habe. Die Überstellung habe mit unmittelbarem Zwang vollzogen werden können.
II.
Die zulässige sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft ist begründet.
1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur Rückführungsrichtlinie 2008/115/E hat diese Richtlinie nicht zum Ziel, die nationalen Rechtsvorschriften über den Aufenthalt von Ausländern insgesamt zu harmonisieren. Sie steht daher dem Recht eines Mitgliedstaats nicht entgegen, das den illegalen Aufenthalt als Straftat einstuft und strafrechtliche Sanktionen vorsieht, um von der Begehung derartiger Verstöße abzuschrecken und sie zu ahnden. Ein Mitgliedsstaat darf danach aber keine strafrechtliche Regelung anwenden, die die Normen und Verfahren beeinträchtigen würde, die mit der Rückführungsrichtlinie eingeführt wurden. Durch die Anwendung des Strafrechts dürfen die Normen und Verfahren der Rückführungsrichtlinie nicht in ihrer praktischen Wirksamkeit beeinträchtigt werden.
Eine solche Beeinträchtigung sieht der Europäische Gerichtshof insbesondere dann gegeben, wenn ein Mitgliedsstaat, der den illegalen Aufenthalt eines Drittstaatsangehörigen festgestellt hat, vor der Vollstreckung der Rückkehrentscheidung oder gar vor dem Erlass der Rückkehrentscheidung ein Strafverfahren durchführen würde, das zu einer Freiheitsstrafe während des Rückkehrverfahrens führen könnte (EuGH, Urteil vom 06.12.2011 – C-329/11 – Achughbabian).
Die Mitgliedsstaaten sind nach der Richtlinie vielmehr verpflichtet gegen einen Drittstaatsangehörigen, der sich unerlaubt in ihrem Staatsgebiet aufhält, das Rückführungsverfahren nach der RL 2008/115/E durchzuführen und sich dabei an das durch die Richtlinie vorgegebene Verfahren zu halten. Danach hat zunächst eine Rückkehrentscheidung zu ergehen und dem Drittstaatsangehörigen soll grundsätzlich eine Frist zur freiwilligen Ausreise innerhalb von 7 bis 30 Tagen eingeräumt werden. Reist er innerhalb der gesetzten Frist nicht freiwillig aus, ist der Mitgliedsstaat nach Art. 8 Abs. 1 und 4 der RL 2008/115 verpflichtet, die zwangsweise Abschiebung unter Einsatz möglichst wenig intensiver Zwangsmaßnahmen vorzunehmen. „Abschiebehaft“ ist nach der Richtlinie nur dann zulässig, wenn die Gefahr besteht, dass die Abschiebung durch das Verhalten des Drittstaatsangehörigen vereitelt wird. Dabei ist die Haft so kurz wie möglich zu bemessen (Art. 15 der RL 2008/115/E). Der Mitgliedsstaat ist nach der Rechtsprechung des EuGH verpflichtet, die Rückkehrentscheidung, die er gegen den Drittstaatsangehörigen erlassen hat, mit allen erforderlichen Maßnahmen, zu denen auch Zwangsmaßnahmen gehören, durchzusetzen. Die Durchsetzung muss aber unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit und insbesondere der Grundrechte des Betroffenen erfolgen (EuGH, Urteil vom 28.04.2011 – C-61/11 – El Dridi). Wenn mit den zulässigen Maßnahmen das angestrebte Ziel der Abschiebung des Drittstaatsangehörigen nicht erreicht werden kann, steht es den Mitgliedsstaaten nach der Rechtsprechung des EuGH frei, Maßnahmen – auch strafrechtlicher Art – zu ergreifen, die es insbesondere ermöglichen, Drittstaatsangehörige vom illegalen Verbleib in ihrem Hoheitsgebiet abzuhalten (EuGH, El Dridi, Randzahl 52.).
Nach der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte ist daher eine Bestrafung nach § 95 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG unter der Rückführungsrichtlinie während des laufenden Rückführungsverfahrens nicht möglich.
Wenn das in der Rückführungsrichtlinie vorgesehene Verfahren von der Ausländerbehörde jedoch durchgeführt wurde und ohne Erfolg blieb, weil ein Drittstaatsangehöriger, der sich in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union illegal aufhält, sich außerhalb des Rückkehrverfahrens gestellt hat, ist eine Bestrafung des Ausländers zulässig. Das gilt insbesondere für den Fall, dass ein Ausländer während des Rückführungsverfahrens untertaucht und damit das Rückführungsverfahren „quasi beendet“ (Hanseatisches OLG, Beschluss vom 25.01.2012 – 1 Ss 196/11).
2. Auch der Angeschuldigte hat sich durch sein Verhalten außerhalb des Rückführungsverfahrens gestellt und das Rückführungsverfahren beendet, so dass die Rückführungsrichtlinie seiner Bestrafung wegen unerlaubten Aufenthalts nicht entgegensteht.
a) Bis zur Weigerung des Angeschuldigten, das Flugzeug am Flughafen in München zu besteigen, hatte die Ausländerbehörde das Rückführungsverfahren entsprechend der Rückführungsrichtlinie durchgeführt. Sein Asylantrag war mit Beschluss vom 28.05.2019, bestandskräftig seit 06.06.2019, als unzulässig abgelehnt worden. Zusammen mit dem Bescheid war eine Abschiebeanordnung nach Frankreich ergangen, die ebenfalls seit 06.06.2019 bestandskräftig war. Die französischen Behörden hatten sich bereit erklärt, den Angeschuldigten am Flughafen in Toulouse für eine Überstellung nach Artikel 31 Absatz 4 der Verordnung Nr. 604/2013 zu übernehmen. Der Abschiebetermin am 05.11.2019 wurde dem Angeschuldigten mit Schreiben vom 21.10.2019, das ihm am 23.10.2019 zugestellt wurde, mitgeteilt. Der Angeschuldigte wurde durch die Polizei an den Flughafen und zum Flugzeug gebracht. An der Zustiegstreppe zum Flugzeug weigerte er sich jedoch einzusteigen und hielt sich dort fest. Er erklärte, dass er nicht flugwillig sei.
b) Der Angeschuldigte hat damit das Rückführungsverfahren kurz vor seinem Abschluss aktiv beendet.
Art. 8 der Rückführungsrichtlinie verlangt, dass die Mitgliedsstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zur Vollstreckung der Rückkehrentscheidung treffen und die Vollstreckung unter Einsatz möglichst wenig intensiver Zwangsmaßnahmen betreiben. Das ist dadurch geschehen, dass der Angeschuldigte durch die Polizei zum Flugzeug gebracht wurde. Weil mit diesen Maßnahmen das erstrebte Ziel der Abschiebung nicht erreicht werden konnte, ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die Anwendung des Strafrechts zulässig (EuGH, Urteil vom 28.04.2011 – C 61/11 – El Dridi, Randzahl 52).
Insbesondere wäre es nicht erforderlich gewesen, den Angeschuldigten nach der gescheiterten Abschiebung in Abschiebehaft zu nehmen. Abschiebehaft wäre keine verhältnismäßige Maßnahme gewesen. Denn der Angeschuldigte hatte sich der Abschiebung nicht durch Flucht oder ein sich verborgen Halten entzogen. Das Besteigen des Flugzeugs hätte durch Haft nicht erzwungen werden können.
c) Das Landgericht kann den Strafbefehl nicht selbst erlassen. Die Sache war daher an das Amtsgericht zurück zu verweisen. Es wird zu entscheiden haben, ob es den Strafbefehl erlässt oder nach § 408 Abs. 3 Satz 2 StPO verfährt.


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