Strafrecht

Mindestfeststellungen für Ausschluss alkoholbedingter Schuldunfähigkeit

Aktenzeichen  202StRR 10/21

Datum:
1.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1625
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StGB § 20, § 55, § 64, § 123, § 185
StPO § 246a Abs. 1, § 318 S. 1, § 329 Abs. 2, § 353, § 358 Abs. 2
JGG § 31 Abs. 2

 

Leitsatz

1. Die Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch ist unwirksam, wenn offenbleibt, ob der Angeklagte aufgrund Alkoholkonsums nicht schuldunfähig im Sinne des § 20 StGB war. Hiervon ist auszugehen, wenn die Urteilsfeststellungen lediglich von einer Mindest-BAK (hier: „über 2 Promille“) ohne Nennung eines höchstens anzunehmenden Wertes ausgehen. (Rn. 3 – 6)
2. Die bloße Erwägung des Tatrichters, „aus Verhältnismäßigkeitsgründen“ sei von der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB abzusehen, hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil die Frage der Verhältnismäßigkeit erst nach Feststellung eines Hangs und einer ordnungsgemäß erstellten Prognose zu gegebenenfalls künftig zu erwartenden Straftaten beurteilt werden kann. (Rn. 8)

Tenor

I. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts vom 22.09.2020 mit den Feststellungen aufgehoben,
1. soweit der Angeklagte wegen Beleidigung verurteilt wurde,
2. soweit eine Entscheidung über die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist,
3. im Gesamtstrafenausspruch.
II. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.
III. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

I.
Das Amtsgericht hat den Angeklagten am 28.08.2019 wegen Beleidigung und wegen Hausfriedensbruchs in zwei Fällen zur Gesamtfreiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt, deren Vollstreckung nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde. Mit Urteil vom 22.09.2020 verwarf das Landgericht die auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkte Berufung des Angeklagten mit der Maßgabe, dass der Angeklagte unter Einbeziehung der „Verurteilung“ des Amtsgerichts vom 21.07.2020 zur Gesamtfreiheitsstrafe von 7 Monaten verurteilt wird. Mit seiner gegen das Berufungsurteil gerichteten Revision rügt der Angeklagte die Verletzung materiellen Rechts.
II.
Die zulässige Revision hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Die Verurteilung wegen Beleidigung hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil die Strafkammer insoweit zu Unrecht von einer wirksamen Beschränkung der Berufung auf den Rechtsfolgenausspruch ausgegangen ist, was der Senat von Amts wegen zu prüfen hat.
a) Die Wirksamkeit der Berufungsbeschränkung gemäß § 318 Satz 1 StPO auf den Rechtsfolgenausspruch ist davon abhängig, ob die Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils eine hinreichende Grundlage für die Rechtsfolgenentscheidung bilden. Dies ist dann zu verneinen, wenn die Urteilsfeststellungen des Ausgangsgerichts zum Schuldspruch so weitgehende Lücken aufweisen, dass sich Art und Umfang der Schuld nicht in dem zur Überprüfung des Strafausspruchs notwendigen Maße bestimmen lassen. Hiervon ist auszugehen, wenn die Tatsachenfeststellungen im Ersturteil unklar, lückenhaft, widersprüchlich oder so dürftig sind, dass sie den Unrechts- und Schuldgehalt der Tat nicht erkennen lassen (BGH, Urt. v. 02.12.2015 – 2 StR 258/15 bei juris; OLG Bamberg. Urt. v. 11.03.2015 – 3 OLG 8 Ss 16/15 und vom 25.06.2013 – 3 Ss 36/13 bei juris, jeweils m.w.N.). Gleiches gilt, wenn nach den getroffenen Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils offenbleibt, ob sich der Angeklagte überhaupt strafbar gemacht hat (BGH a.a.O. m.w.N.). Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Anhaltspunkte für eine eventuelle Schuldunfähigkeit bestehen, das amtsgerichtliche Urteil aber hierzu keine hinreichenden Feststellungen getroffen hat.
b) Derartige Mängel haften dem amtsgerichtlichen Urteil an, weil nach den getroffenen Feststellungen eine erhebliche Alkoholisierung des Angeklagten zur Tatzeit vorlag und aufgrund dessen nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Angeklagte sogar schuldunfähig im Sinne des § 20 StGB war. Denn das Ersturteil teilt insoweit lediglich mit, dass der Angeklagte bei dieser Tat „mit über 2 Promille erheblich alkoholisiert war“. Auf welche konkrete Höhe sich die Blutalkoholkonzentration belief, bleibt aber gänzlich offen. Die bloße Feststellung eines nach oben hin offenen Mindestwerts kann aber schon wegen des Zweifelsgrundsatzes nicht Ausgangsbasis für die Beurteilung der Schuldfähigkeit sein (vgl. zuletzt BayObLG, Beschluss vom 08.12.2020 – 202 StRR 123/20 = Blutalkohol 2021, 34). Denn bei der Frage nach der Blutalkoholkonzentration, deren Höhe die Schuld beeinflusst, kommt es auf den tatsächlichen Wert an. Auch wenn es keinen gesicherten Erfahrungssatz dazu gibt, dass ohne Rücksicht auf psychodiagnostische Beurteilungskriterien allein wegen einer bestimmten Blutalkoholkonzentration zur Tatzeit vom Vorliegen einer erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit ausgegangen werden muss, ist der im Einzelfall festzustellende Wert jedoch ein relevantes Beweisanzeichen für eine erhebliche alkoholische Beeinflussung. Der Blutalkoholgehalt zeigt nämlich immerhin die aufgenommene Alkoholmenge an. Je höher dieser Wert ist, umso näher liegt die Annahme einer zumindest erheblichen Einschränkung oder gar einer völligen Aufhebung der Steuerungsfähigkeit (vgl. nur BGH, Beschluss vom 28.07.2020 – 2 StR 229/20 bei juris; Urt. v. 14.10.2015 – 2 StR 115/15 = NStZ-RR 2016, 103 = StraFo 2016, 159 = BGHR StGB § 21 Bewusstseinsstörung 6 = BGHR StGB § 21 Blutalkoholkonzentration 44 m.w.N.).
c) Aufgrund der lückenhaften Feststellungen des amtsgerichtlichen Urteils zur genauen Höhe der Blutalkoholkonzentration im Tatzeitpunkt ohne Nennung einer Höchstgrenze, von der gegebenenfalls unter Berücksichtigung des Zweifelssatzes auszugehen wäre, kann eine Schuldunfähigkeit im Sinne des § 20 StGB nicht völlig ausgeschlossen werden, sodass die Strafkammer die Berufung insoweit als unbeschränkt hätte behandeln und selbst ausreichende Feststellungen zur konkreten Blutalkoholkonzentration treffen müssen.
2. Die Aufhebung der Verurteilung wegen Beleidigung bedingt die Aufhebung der Gesamtstrafe.
3. Soweit die Berufungskammer von der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB ohne Hinzuziehung eines Sachverständigen, die gemäß § 246a Abs. 1 StPO geboten gewesen wäre, „aus Verhältnismäßigkeitsgründen“ ohne nähere Darlegungen abgesehen hat, hält auch dies sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Frage der Verhältnismäßigkeit kann erst nach Feststellung eines Hangs und einer ordnungsgemäß erstellten Prognose zu gegebenenfalls künftig zu erwartenden Straftaten geprüft werden, was das Landgericht aber unterlassen hat.
III.
Wegen der aufgezeigten Rechtsfehler ist das Urteil des Landgerichts mit den zugrunde liegenden Feststellungen in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang aufzuheben (§ 353 StPO) und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückzuverweisen (§ 354 Abs. 2 StPO).
IV.
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
1. Für die Beurteilung des Unrechtsgehalts der Tat sind auch Feststellungen zu den Umständen der inkriminierten Äußerung zu treffen.
2. Bei der nachträglichen Gesamtstrafenbildung nach § 55 StGB ist – im Unterschied zu § 31 Abs. 2 JGG – nur die Strafe, nicht aber, wie es die Berufungskammer getan hat, das frühere Urteil einzubeziehen (vgl. BGH, Beschluss vom 10.10.2016 – 4 StR 100/16 = NStZ-RR 2016, 377).
3. Neben der Höhe der einzubeziehenden Einzelstrafe aus der Vorverurteilung sind, sofern solche sich aus der Urteilsurkunde ergeben, in der Regel auch die wesentlichen Strafzumessungserwägungen der Vorverurteilung darzulegen (BGH, Urt. v. 08.11.2017 – 2 StR 542/16 = BGHR StPO § 260 Abs. 1 Urteilstenor 6 m.w.N.).
4. Der neue Tatrichter wird nicht nur Gelegenheit haben, die Frage der Schuldfähigkeit des Angeklagten neu zu beurteilen, sondern auch die unzulängliche Prüfung einer Maßregelanordnung nach § 64 StGB – unter Hinzuziehung eines Sachverständigen (§ 246a StPO) – nachzuholen haben. Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, würde eine Unterbringungsanordnung im weiteren Verfahren nicht hindern (§ 358 Abs. 2 StPO), weil er die unterbliebene Anordnung der Maßregel nicht von seinem Rechtsmittelangriff ausgenommen hat (st.Rspr., vgl. zuletzt nur BGH, Beschl. vom 21.10.2020 – 2 StR 362/20 bei juris).


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