Strafrecht

Nichtannahmebeschluss: Vorrangige Gefahrenabwehr gegenüber Störern vor der Inanspruchnahme des Bedrohten auch bei Gefährdung von Häftlingen durch Dritte – Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegenüber der Geltendmachung der Grundrechtsverletzung vor den Fachgerichten – hier: Auferlegung von Beschränkungen gegenüber einem Untersuchungshäftling gem § 13 StPOEG iVm § 119 Abs 2 StPO aF bei Bedrohung durch Mitgefangene

Aktenzeichen  2 BvR 1528/10

Datum:
22.7.2010
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Nichtannahmebeschluss
Normen:
GG
§ 90 Abs 2 S 1 BVerfGG
§ 119 Abs 3 StPO vom 07.04.1987
§ 13 StPOEG
StVollzG
Spruchkörper:
2. Senat 3. Kammer

Verfahrensgang

vorgehend LG Fulda, 5. Juli 2010, Az: 21 Ls 18 Js 4539/10, Beschluss

Gründe

1
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie keine Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90,
22 ). Sie ist unzulässig, weil der Grundsatz der Subsidiarität nicht gewahrt ist. Nach diesem Grundsatz muss der Beschwerdeführer
vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreifen,
um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern
oder zu beseitigen (vgl. BVerfGE 107, 395 ; 112, 50 ).

2
In Ländern, die – wie Hessen – bis zum 1. Januar 2010 noch keine landesgesetzlichen Regelungen zum Vollzug der Untersuchungshaft
getroffen haben, dürfen dem Untersuchungsgefangenen die zur Wahrung der Ordnung der Vollzugsanstalt erforderlichen Beschränkungen
nach § 13 EGStPO in Verbindung mit § 119 Abs. 3 StPO a.F. auferlegt werden.

3
Der Beschwerdeführer, gegen den Sicherungsmaßnahmen zu seinem Schutz verhängt wurden, nachdem er von Mitgefangenen bedroht
worden war, weil er der Anstalt gegenüber Mitteilungen über Drogengeschäfte der Gefangenen gemacht hatte, hat nach eigenen
Angaben erst am 7. Juli 2010 dem “Ausgangsgericht” mitgeteilt, dass er inzwischen nicht mehr bedroht werde. Diese Information
stand danach den Gerichten – auch dem Landgericht, dessen Entscheidung vom 5. Juli 2010 datiert – noch nicht zur Verfügung.
Es war und ist daher Sache des Beschwerdeführers, die angegebene Veränderung der Sachlage zunächst mit einem Antrag auf Aufhebung
der ihn belastenden Maßnahmen vor dem zuständigen Gericht geltend zu machen.

4
Dieses wird bei seiner Entscheidung auch die Grundsätze rechtsstaatlicher Zurechnung zu berücksichtigen haben. Mit diesen
Grundsätzen ist es unvereinbar, wenn die Gefahr, dass bestimmte Personen sich in rechtswidriger Weise verhalten, nicht im
Regelfall vorrangig diesen Personen zugerechnet und nach Möglichkeit durch ihnen gegenüber zu ergreifende Maßnahmen abgewehrt
wird, sondern ohne weiteres Dritte oder gar die potentiellen Opfer des drohenden rechtswidrigen Verhaltens zum Objekt eingreifender
Maßnahmen der Gefahrenabwehr gemacht werden (vgl. BVerfGE 69, 315 ; BVerfGK 6, 260 ; 8, 307 ). Rechtsstaatliche
Zurechnung muss darauf ausgerichtet sein, nicht rechtswidriges, sondern rechtmäßiges Verhalten zu begünstigen (vgl. BVerfGE
116, 24 ). Dem läuft es grundsätzlich zuwider, wenn Maßnahmen zur Abwehr drohenden rechtswidrigen Verhaltens nicht vorrangig
gegen den oder die Störer, sondern ohne weiteres – und in Grundrechte eingreifend – gegen den von solchem rechtswidrigen Verhalten
potentiell Betroffenen ergriffen werden (BVerfGK 8, 307 ). Sind in einer Haftanstalt Maßnahmen zum Schutz eines Gefangenen
vor Bedrohung durch Dritte erforderlich, müssen daher vorrangig bestehende – gegebenenfalls auch disziplinarische – Möglichkeiten
der Einwirkung auf diejenigen ausgeschöpft werden, von denen die Bedrohung ausgeht. Eingreifende Maßnahmen gegenüber dem Bedrohten
dürfen die Gerichte nicht anordnen oder billigen, ohne geprüft zu haben, ob sie nach diesen Grundsätzen unentbehrlich sind.

5
Von einer weiteren Begründung wird nach § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

6
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.


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