Strafrecht

Umfang tatrichterlichen Kognitionspflicht hinsichtlich unterbliebener Rettungsbemühungen nach Verkehrsunfall

Aktenzeichen  1 Ws 135/22

Datum:
24.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 16990
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
Bamberg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StGB § 13
StGB§ 142
StGB § 212
StGB § 323c
StPO § 200 Abs. 1
StPO § 203
StPO § 264 Abs. 1
StPO § 306 Abs. 1
StPO § 311
StPO § 314
StPO § 322 Abs. 1
StPO § 322 Abs. 2
StPO § 395 Abs. 2 Nr. 1
StPO § 400 Abs. 1

 

Leitsatz

Neben dem in der Anklage geschilderten eigentlichen Verkehrsunfallgeschehen unterliegt, selbst wenn es in der Anklage nicht beschrieben wird, auch das Rettungsverhalten des Unfallverursachers der Kognitionspflicht des erkennenden Gerichts nach § 264 StPO.

Tenor

I. Auf die sofortige Beschwerde des Nebenklägers wird der Beschluss des Landgerichts vom 07.02.2022 aufgehoben, mit dem seine Berufung gegen das Urteil des Amtsgerichts vom 30.08.2021 als unzulässig verworfen wurde.
II. Die Sache wird zur inhaltlichen Entscheidung über die Berufung des Nebenklägers sowie hinsichtlich der Kosten des Rechtsmittels des Nebenklägers an das Landgericht zurückgeben.

Gründe

1. Durch Urteil des Amtsgerichts – Schöffengericht – wurde der Angeklagte am 30.08.2021 wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung in zwei tateinheitlichen Fällen infolge fahrlässiger Herbeiführung eines Verkehrsunfalls zu einer zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von 6 Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil haben der Angeklagte am 03.09.2021 und der Nebenkläger, welcher mit Beschluss des Amtsgerichts vom 26.04.2021 als solcher zugelassen wurde, mit Schriftsatz seines Vertreters vom 06.09.2021, eingegangen beim Amtsgericht am gleichen Tag, jeweils Berufung eingelegt. Der Nebenkläger, der Vater des bei dem Unfallgeschehen getöteten Tatopfers, erstrebt eine Verurteilung des Angeklagten wegen (versuchten) Totschlags, weil dieser nach dem Unfall keine Rettungsmaßnahmen zugunsten des Verstorbenen eingeleitet habe.
Das Landgericht hat mit Beschluss vom 07.02.2022 die Berufung des Nebenklägers gegen das vorgenannte Urteil des Amtsgerichts als unzulässig verworfen, da eine Nachtragsanklage nicht erhoben worden sei und Anklagesatz sowie Eröffnungsbeschluss nur das eigentliche Unfallgeschehen umfassten, nicht jedoch das Verhalten des Angeklagten nach dem Unfall. Die Beschwerde des Nebenklägers sei somit nicht auf eine Verurteilung des Angeklagten wegen eines zur Nebenklage berechtigenden Straftatbestandes wegen der angeklagten Tat gerichtet.
Gegen diese ihm am 08.02.2022 zugestellte Entscheidung richtet sich die sofortige Beschwerde des Nebenklägers, welche mit Vertreterschriftsatz vom 15.02.2022 am gleichen Tag beim Landgericht eingegangen ist. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, auf die Beschwerde des Nebenklägers hin den Beschluss des Landgerichts vom 07.02.2022 aufzuheben. Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Der Verteidiger des Angeklagten beantragte die Zurückweisung der Beschwerde, der Vertreter des Nebenklägers beantragte Aufhebung des Beschlusses vom 07.02.2022.
2. Gegen die als Beschluss gemäß § 322 Abs. 1 StPO ergangene Entscheidung des Landgerichts vom 07.02.2022 ist die sofortige Beschwerde statthaft (§ 322 Abs. 2 StPO). Diese wurde form- und fristgerecht (§§ 306 Abs. 1, 311 StPO) und somit insgesamt zulässig eingelegt.
Sie erweist sich auch als begründet.
Der Nebenkläger hat die Berufung form- und fristgerecht eingelegt (§ 314 StPO). Er hat das Urteil auch nicht lediglich mit dem Ziel angefochten, dass eine andere Rechtsfolge der Tat verhängt oder dass der Angeklagte wegen einer Gesetzesverurteilung verurteilt werde, die nicht zum Anschluss als Nebenkläger berechtigt (§ 400 Abs. 1 StPO). Der Vorwurf des (versuchten) Totschlags durch den Nebenkläger an den Angeklagten bezieht sich auf ein nebenklagefähiges Delikt (§ 395 Abs. 2 Nr. 1 StPO) und auf die gleiche Tat im Sinne des § 264 StPO, welche durch Erhebung der Anklage (§ 200 Abs. 1 StPO) und Eröffnungsbeschluss (§ 203 StPO) zum Gegenstand der richterlichen Kognitionspflicht geworden ist.
Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1 StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Tat im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Die Tat als Prozessgegenstand ist dabei nicht nur der in der Anklage umschriebene und dem Angeklagten darin zur Last gelegte Geschehensablauf; vielmehr gehört dazu das gesamte Verhalten eines Angeklagten, soweit es mit dem durch die Anklage bezeichneten geschichtlichen Vorgang nach der Auffassung des Lebens ein einheitliches Vorkommnis bildet. Verändert sich im Verlaufe des Verfahrens das Bild des Geschehens, wie es in der Anklageschrift und dem Eröffnungsbeschluss umschrieben ist, so ist die Prüfung der Frage, ob die Identität der prozessualen Tat trotz Veränderung des Tatbildes noch gewahrt ist, nach dem Kriterium der „Nämlichkeit“ der Tat zu beurteilen. Dies ist – ungeachtet gewisser Unterschiede – dann der Fall, wenn bestimmte Merkmale die Tat weiterhin als ein einmaliges und unverwechselbares Geschehen kennzeichnen. Die prozessuale Tat wird in der Regel durch Tatort, Tatzeit und das Tatbild umgrenzt und insbesondere durch das Täterverhalten sowie die ihm innewohnende Angriffsrichtung und durch das Tatopfer bestimmt (st.Rspr.; zuletzt BGH Beschluss vom 20.05.2021 – 3 StR 443/20 = StV 2022, 69 = StraFo 2021, 517 m.w.N.). Dies zugrunde gelegt, muss das Gericht, um seiner Kognitionspflicht nach § 264 StPO gerecht zu werden, seine Untersuchung auch auf den vom Nebenkläger in den Raum gestellten Vorwurf erstrecken, und zwar selbst dann, wenn er nicht in der Anklage beschrieben wurde (vgl. KK-StPO/Ott 8. Aufl. § 264 Rn. 27 m.w.N.).
Verkehrsunfallgeschehen und direkt daran anschließendes Rettungsverhalten des Unfallverursachers vermitteln einen durch Tatort, Tatzeit und Tatbild eng unbegrenzten Lebenssachverhalt. Hierbei spielt insbesondere eine Rolle, dass – jedenfalls nach dem Sachvortrag des Nebenklägers – der Tod seines Sohnes nicht nur kausal durch das Verkehrsverhalten des Angeklagten, sondern auch durch seine unterlassenen Rettungsbemühungen im unmittelbaren Anschluss an den Verkehrsunfall herbeigeführt wurde. Im Tod des Sohns hätte sich damit auch die Verletzung der durch die fahrlässige Herbeiführung des Verkehrsunfalls begründeten Garantenstellung des Angeklagten nach § 13 StGB realisiert. Wollte man das Fehlverhalten des Angeklagten in zwei unterschiedlichen Prozessen würdigen, würde ein bei wertender Betrachtung einheitliches Geschehen, in dessen Rahmen mehrere zeitlich unmittelbar aneinander anschließende Handlungen bzw. Unterlassungen ein und derselben Person zum Tod ein und desselben Opfers geführt haben, unnatürlich aufgespalten. Für die Richtigkeit dieser Auffassung spricht insbesondere, dass in ständiger Rechtsprechung zwischen § 142 StGB und tateinheitlich begangenen Delikten wie § 323c StGB (unterlassene Hilfeleistung) sowie vorangegangenen in materieller Tatmehrheit stehenden Straftaten, die zum Unfall geführt haben, verfahrensrechtliche Tatidentität im Sinne des § 264 StPO angenommen wird (BGHSt 23, 141; 24, 185; 25, 72; s. auch Fischer StGB 69. Aufl. § 142 Rn. 74). Da dem Angeklagten im vorliegenden Fall noch nicht einmal unerlaubtes Entfernen vom Unfallort (§ 142 StGB) zur Last liegt, welches immerhin zu einer Zäsur des Tatgeschehens in örtlicher Hinsicht führt, sondern ihm vom Nebenkläger lediglich unzureichende Rettungsbemühungen am Unfallort vorgeworfen werden, muss für den vorliegenden Fall erst recht verfahrensrechtliche Tatidentität nach § 264 StPO gelten. […]


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