Strafrecht

Wiederinvollzugsetzung eines Haftbefehls wegen neuer Straferwartung

Aktenzeichen  3 Ws 140/21

Datum:
1.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 18819
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StPO § 112 Abs. 2 Nr. 1, § 116 Abs. 4

 

Leitsatz

1. Wird ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl aufgehoben und gleichzeitig ein neuer, zu vollziehender Haftbefehl erlassen, handelt es sich bei gleichen Taten der Sache nach um den Widerruf einer Haftverschonung, welcher nur unter den Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO erfolgen kann (OLG Karlsruhe BeckRS 2005, 4814). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine neue Straferwartung zu einer weit höheren Strafe als bei Aussetzung des Vollzugs eines Haftbefehls rechtfertigt einen Widerruf der Haftverschonung nach § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO nur dann, wenn die beantragte oder verhängte Strafe von der bisherigen Straferwartung erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht.  (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
3. Im Allgemeinen kann die Straferwartung allein die Fluchtgefahr iSd § 112 Abs. 1 S. 2 StPO nicht begründen; bei einer besonders hohen Straferwartung braucht aber nur geprüft zu werden, ob Umstände vorhanden sind, die die hieraus herzuleitende Fluchtgefahr ausräumen können.  (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

J Qs 46/21 jug 2021-02-05 Bes LGAUGSBURG LG Augsburg

Tenor

1. Die weitere Beschwerde des Angeklagten P. D. gegen den Beschluss des Landgerichts Augsburg vom 05.02.2021 wird kostenfällig als unbegründet verworfen.

Gründe

1. Gegen den Angeklagten erging nach seiner vorläufigen Festnahme am 10.02.2020 am 10.02.2020 Haftbefehl des Amtsgerichts Augsburg, der ihm am 11.02.2020 eröffnet und außer Vollzug gesetzt wurde.
In dem Haftbefehl wird ihm das Verschaffen kinderpornographische Schriften mit Realitätsgehalt in 14 tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit Besitz kinderpornographischer Schriften in 2 tatmehrheitlichen Fällen davon in einem Fall in Tateinheit mit Besitz jugendpornographischer Schriften gemäß §§ 184b Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3, 184c Abs. 3, 52, 53 StGB, §§ 1, 105 JGG zur Last gelegt. Der Angeklagte soll in der Zeit vom 24.12.2017 bis 30.09.2018 konkret beschriebene kinderpornographische Aufnahmen in Kenntnis des Inhalts ins Internet geladen haben und damit diese Aufnahmen mindestens einer anderen Person zugänglich gemacht haben. Bei einer Durchsuchung am 03.01.2019 befanden sich auf Speichermedien des Angeklagten 53 kinderpornographische Schriften und 70 jugendpornographische Schriften. Nach der Durchsuchung lud der Angeklagte am 09.01.2019 über Instagram ein Bild ins Internet und machte dieses mindestens einer anderen Person zugänglich. Die Aufnahme zeigt ein völlig entblößtes Mädchen im augenscheinlichen Alter von unter 14 Jahren, welches bei gespreizten Beinen in einer Art Schneidersitz ihre entblößte Vagina der Kamera präsentiert. Bei einer 2. Durchsuchung am 20.05.2019 hatte der Angeklagte die vorgenannte kinderpornographische Aufnahme auf einem seiner Speichermedien abgespeichert. Nach der 2. Durchsuchung lud der Angeklagte in der Zeit vom 18.08.2019 bis 07.12.2019 kinderpornographische Bilder in Kenntnis des Inhalts ins Internet und machte diese Aufnahmen somit mindestens einer anderen Person zugänglich.
Am 10.09.2020 erhob die Staatsanwaltschaft Augsburg Anklage zum Amtsgericht – Jugendschöffengericht – Augsburg, welche das Amtsgericht mit Beschluss vom 02.12.2020 zur Hauptverhandlung zugelassen wurde. Das Hauptverfahren wurde vor dem Jugendschöffengericht eröffnet und Termin zur Durchführung der Hauptverhandlung auf den 15.04.2021 bestimmt.
Mit Verfügung vom 07.12.2020 beantragte die Staatsanwaltschaft Augsburg, den außer Vollzug gesetzten Haftbefehl in Vollzug zu setzen. Zur Begründung führte sie aus, der Angeklagte sei offenbar selbst nach Haftbefehlseröffnung am 19.04.2020 am 14.07.2020 erneut einschlägig straffällig geworden. Es sei daher eine weitere Anklage zu erwarten. Zudem sei eine zweijährige Jugendstrafe einzubeziehen. Angesichts des neuerlichen Verfahrens bestehe ein noch höherer Fluchtanreiz.
Mit Beschluss vom 09.12.2020 setzte das Amtsgericht Augsburg den Haftbefehl vom 10.02.2020 in Vollzug.
Der Angeklagte wurde am 12.01.2021 festgenommen.
Am 13.01.2021 erließ das Amtsgericht Augsburg gegen den Angeklagten einen an die Anklageschrift angepassten Haftbefehl. Darin wird ihm Drittverschaffen kinderpornographischer Schriften mit Realitätsgehalt in 13 tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit Besitz kinderpornographischer Schriften mit Realitätsgehalt in 3 tatmehrheitlichen Fällen, jeweils in Tateinheit mit Besitz Jugend pornographische Schriften mit Realitätsgehalt zur Last gelegt. Der Haftbefehl vom 13.01.2021 wirft dem Angeklagten über den Vorwurf des ursprünglichen Haftbefehls hinaus vor, bei der 2. Durchsuchung 108 kinderpornographische und 67 jugendpornographische Schriften sowie bei der 3. Durchsuchung am 11.02.2020 78 kinderpornographische und 36 jugendpornographische Schriften, darunter auch Videos, besessen zu haben.
Der Haftbefehl wurde dem Angeklagten unter gleichzeitiger Aufhebung des ursprünglichen Haftbefehls am 13.01.2021 eröffnet.
Mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 26.01.2021 legte der Angeklagte Beschwerde gegen den Haftbefehl vom 13.01.2021 ein und beantragte, den Haftbefehl aufzuheben, hilfsweise den Haftbefehl gegen geeignete Auflagen außer Vollzug zu setzen.
Mit Verfügung vom 03.02.2021 half das Amtsgericht Augsburg der Beschwerde des Angeklagten nicht ab.
Die Jugendkammer des Landgerichts Augsburg verwarf die Beschwerde des Angeklagten gegen den Haftbefehl vom 13.01.2021 mit Beschluss vom 05.02.2021.
Dagegen legte der Angeklagte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 10.02.2021 weitere Beschwerde ein.
Die Jugendkammer des Landgerichts Augsburg half der weiteren Beschwerde mit Beschluss vom 05.02.2021 nicht ab.
1. Das Rechtsmittel des Angeklagten ist als weitere Haftbeschwerde statthaft und zulässig (§§ 304 Abs. 1, 306 Abs. 1, 310 Abs. 1 Nr. 1 StPO), hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
Der Angeklagte ist der im Haftbefehl des Amtsgerichts Augsburg vom 10.02.2020 bezeichneten Taten dringend verdächtig (§ 112 Abs. 1 Satz 1 StPO). Der dringende Tatverdacht ergibt sich aus der Gesamtschau der bisherigen Ermittlungen, zusammengefasst im Schlussvermerk der KPI D. vom 08.04.2020, insbesondere den ITforensischen Gutachten vom 24.05.2019, vom 21.03.2020, dem Gutachten von R. B. vom 14.03.2020, dem Gutachten von Priv.-Doz. Dr. med. F. L. vom 05.08.2020 und den CyberTipline-Reports. Weitere Ausführungen sind nicht veranlasst, da der dringende Tatverdacht nicht angegriffen ist.
Gemäß § 116 Abs. 4 StPO darf ein außer Vollzug gesetzter Haftbefehl nur dann wieder in Vollzug gesetzt werden, wenn einer der dort genannten Gründe zutrifft. Auch wenn der außer Vollzug gesetzte Haftbefehl aufgehoben und gleichzeitig ein neuer, zu vollziehender Haftbefehl erlassen wird, handelt es sich bei gleichen Taten der Sache nach um den Widerruf einer Haftverschonung, welche nur unter den Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 StPO erfolgen kann (Karlsruher Kommentar, StPO, 8. Aufl., § 116 Rn. 34; OLG Karlsruhe wistra 2005,316 (317); OLG Düsseldorf JM BlNW 1982,236).
§ 116 Abs. 4 StPO findet somit vorliegend Anwendung.
Die Voraussetzungen des § 116 Abs. 4 Nr. 3 StPO sind gegeben, da neu hervorgetretene Umstände die Verhaftung erforderlich machten. Als neu hervorgetretene Umstände kommen nur solche Tatsachen in Betracht, die bei Würdigung des Wesens der Aussetzung zu ihrer Versagung geführt hätten. Maßgeblich ist, ob die Vertrauensgrundlage der Aussetzungsentscheidung infolge der neu hervorgetretene Umstände entfallen ist. Wiederinvollzugsetzungsgründe sind etwa die Verstärkung des bisherigen – so zum Beispiel die Fluchtgefahr wesentlich erhöhende neue Taten – oder das Hinzutreten eines weiteren Haftgrundes. Die Verurteilung zu einer weit höheren Strafe als bei Aussetzung erwartet, rechtfertigt den Widerruf nur dann, wenn die beantragte oder verhängte Strafe von der bisherigen Straferwartung erheblich zum Nachteil des Angeklagten abweicht (Meyer-Gossner/Schmitt,StPO, 63. Aufl., § 116 Rn. 2 m.w.N.). Neu hervorgetretene Umstände sind vorliegend in den knapp 7 Monate nach Außervollzugsetzung des ursprünglichen Haftbefehls mit der Erhebung der Anklage abgeschlossenen Ermittlungen, der nicht unerheblichen Erweiterung und Konkretisierung der Tatvorwürfe in der Anklageschrift vom 08.09.2020 und der am 02.12.2020 erfolgten Eröffnung des Hauptverfahrens zu sehen.
Bei dem Angeklagten besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr, § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO.
Fluchtgefahr besteht, wenn die Würdigung der Umstände des Falles es wahrscheinlicher macht, dass sich der Angeklagte dem Strafverfahren entziehen, als dass er sich ihm zur Verfügung halten werde. Die Beurteilung der Fluchtgefahr erfordert die Berücksichtigung aller Umstände des Falles, insbesondere der Art der dem Angeklagten vorgeworfenen Taten, der Persönlichkeit des Angeklagten, seine Lebensverhältnisse, seines vor Lebens und seines Verhaltens vor und nach der Tat. Berücksichtigt werden kann auch, dass gegen ihn der dringende Verdacht weiterer Taten besteht, insbesondere das gegen ihn noch weitere Verfahren anhängig sind (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 112 Rn. 17, 19). Im Allgemeinen kann die Straferwartung allein die Fluchtgefahr nicht begründen; sie ist nur Ausgangspunkt für die Erwägung, ob der in ihr liegende Anreiz zur Flucht auch unter Berücksichtigung aller sonstigen Umstände so erheblich ist, dass die Annahme gerechtfertigt ist, der Angeklagte werde ihm wahrscheinlich nachgeben und flüchtig werden. Je größer die Straferwartung ist, desto weniger Gewicht ist aber auf weitere Umstände zu legen (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 112 Rn. 24). Bei einer besonders hohen Straferwartung braucht nur geprüft zu werden, ob Umstände vorhanden sind, die die hieraus herzuleitende Fluchtgefahr ausräumen können (Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl., § 112 Rn. 26).
Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die ausführlichen und zutreffenden Ausführungen des angegriffenen Beschlusses der Jugendkammer des Landgerichts Augsburg vom 05.02.2021 Bezug genommen.
Das Beschwerdevorbringen vermag die Fluchtgefahr nicht auszuräumen.
Entgegen den Ausführungen des Beschwerdeführers stellen sich die Tatvorwürfe gegen den Angeklagten zwischenzeitlich als weitaus gravierender dar als noch zum Zeitpunkt des ursprünglichen Haftbefehls. Die durchgeführte Auswertung der Speichermedien hat ergeben, dass zum Zeitpunkt der 2. Durchsuchung 108 kinderpornographische und 67 jugendpornographische Schriften vorhanden waren und der Angeklagte bei der 3. Durchsuchung am 11.02.2020 78 kinderpornographische und 36 jugendpornographische Schriften, darunter auch Videos, besessen hat. Allein damit ist die Straferwartung deutlich gestiegen und auch die Fluchtgefahr hat sich deutlich erhöht.
Der Bundeszentralregisterauszug des Angeklagten enthält drei einschlägige Eintragungen. Zuletzt wurde er durch das Amtsgericht Dillingen am 11.10.2017 (rechtskräftig seit 30.04.2018) zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde. Die Bewährungszeit wurde auf 3 Jahre festgesetzt. Es wurde ein Bewährungshelfer bestellt. Der Angeklagte handelte mithin innerhalb offener einschlägiger Bewährung.
Er hat daher im Falle seiner Verurteilung mit einer mehrjährigen Einheitsjugendstrafe zu rechnen, die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden kann. Sein Vorgehen zeigt eine erhebliche kriminelle Energie, die auf massive schädliche Neigungen schließen lässt. Der Bericht des Jugendamtes Dillingen vom 03.09.2020 kommt zu dem Ergebnis, dass schädliche Neigungen vorliegen. Die erheblich erhöhte Straferwartung hat sich durch die Anklageschrift und die Eröffnung des Verfahrens manifestiert, d.h. sie ist für den Angeklagten deutlich sichtbar geworden.
Der Beschwerdeführer wurde während offener einschlägiger Bewährung wieder zahlreich straffällig. Auch mehrere Durchsuchungen – während der laufenden Bewährung – haben ihn nicht davon abgehalten, weiterhin Straftaten zu begehen. Während der Auswertung der Speichermedien wurde er wieder straffällig, so dass insgesamt drei Durchsuchungen erforderlich wurden. Von dieser hohen Straferwartung geht ein äußerst starker Fluchtanreiz aus, der durch soziale und familiäre Bindungen nicht ausgeräumt werden kann, zumal sie auch bislang auf das Verhalten des Angeklagten keinen Einfluss zu haben schienen. Der Angeklagte hat einen leicht lösbaren Wohnsitz bei den Eltern. Er ist ledig und noch in der Ausbildung. Hinzu kommt, dass er mit einer weiteren Anklage zu rechnen hat wegen der Vorfälle vom 19.04.2020 und 14.07.2020. Die Maßnahme der Einrichtung St. F. haben der Angeklagte und seine Familie entgegen den Empfehlungen des Jugendamtes beendet. Die ihnen gebotene Unterstützung hat die Familie nicht angenommen. Daraus geht hervor, dass die Familie ihm keine positive Stütze zu bieten vermag. Auch die Freundin vermag ihm nach Ansicht des Senats keine ausreichende Stütze zu sein und die Fluchtgefahr erheblich reduzieren. Das Gutachten von Dr. L. vom 05.08.2020 führt aus, dass der Beschwerdeführer keine Freundin habe. Es kann sich daher nur um eine sehr kurze Beziehung handeln, die Zweifel an der Tragfähigkeit aufkommen lässt. Der Angeklagte ist auch jederzeit in der Lage, unterzutauchen oder sich abzusetzen, sollte er entlassen werden. Dazu bedarf es weder erheblicher Organisation noch Geldmittel.
Insgesamt ist der Fluchtanreiz so hoch, dass zu befürchten steht, dass sich der Angeklagte absetzt oder untertaucht, um sich dem weiteren Verfahren zu entziehen, wenn er auf freien Fuß käme. Die von der Verteidigung vorgetragenen Argumente vermögen die Fluchtgefahr nicht ausreichend zu minimieren.
Eine Außervollzugsetzung des Haftbefehls (§ 116 Abs. 1 StPO) fehlt es aus denselben Gründen an einer ausreichenden Vertrauensgrundlage. Dem Angeklagten kommen als Heranwachsendem die Privilegien des § 71 JGG nicht zugute.
Angesichts der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe ist die Untersuchungshaft verhältnismäßig (§ 112 Abs. 1 Satz 2 StPO).
Daher ist die weitere Haftbeschwerde des Angeklagten mit der Kostenfolge aus § 473 Abs. 1 StPO zu verwerfen.


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