Verkehrsrecht

Amtspflichten eines Notrufbeamten bei Verkehrsunfall

Aktenzeichen  34 O 1568/17

Datum:
27.11.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 133142
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
BGB § 249, § 839 Abs. 1
GG Art. 34 S. 1
SGB VII § 104 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

1. Die Amtspflicht eines Polizeibeamten umfasst die sach- und fachgerechte, sorgfältige Ausübung der übertragenen Aufgaben (hier: Rettungsmaßnahmen und Verhütung von Verschlimmerung von Gesundheit sowie der Vorkehrung zur Wiederherstellung der Gesundheit) zumindest in einem solchen Umfang, wie sie ein durchschnittlich denkender Polizeibeamter, dem seine hohe Verantwortung in Bezug auf die Individualgüter Dritter bewusst ist, unter Berücksichtigung aller ihm bekannter Umstände des Einzelfalls durchzuführen pflegt. (Rn. 24)
2. Es liegt keine Amtspflichtverletzung des polizeilichen Notrufbeamten i. S. des § 839 Abs. 1 BGB i. V. m. Art. 34 GG vor, wenn dieser einen Unfallzeugen auf der Autobahn zur Weiterfahrt, in der wahrscheinlichen Erwartung, die Unfallstelle werde mit hoher Wahrscheinlichkeit durch die angewiesene Polizeistreife gefunden, auffordert. Dies jedenfalls dann, wenn die Unfallstelle aufgrund eines atypischen Unfallverlaufs nicht gefunden wird. (Rn. 28 – 32)
3. Der Umstand, dass trotz Abkommens eines PKWs von der Fahrbahn weder auf der Autobahn selbst (Fahrzeugteile), noch an der vorhandenen Leitplanke und einem Wildschutzzaun Beschädigungen zu finden sind, da der verunfallte PKW ca. 200m entlang auf einem Grünstreifen zwischen Leitplanke und Wildschutzzaun, ohne Beschädigungen zu hinterlassen, gefahren ist und sodann in eine nicht einsehbare Böschung neben einer Brücke stürzte, stellt einen atypischen Unfallverlauf dar. (Rn. 33)

Gründe

Der zulässigen Klage muss im Ergebnis der Erfolg verwehrt bleiben.
I.
1. Die Kläger haben schon dem Grunde nach keinen Anspruch gem. § 839 Abs. 1 BGB i.V. m. Art. 34 Satz 1 GG. Nach Überzeugung der Kammer handelte es bei den Umständen, die zu dem tragischen Tod der Tochter der Kläger führten, um eine nicht vorhersehbare Verkettung unglücklicher Umstände.
1.1 Die beteiligten Personen, der polizeiliche Notrufbeamte, die beiden als Zeugen vernommenen Streifenbeamten sowie die beteiligten Feuerwehrleute handelten hoheitlich in Ausübung eines öffentlichen Amtes (zur freiwilligen Feuerwehr vgl. Palandt-Sprau, BGB, § 839 Rn. 112).
1.2 Eine vorsätzliche Amtspflichtverletzung der beteiligten Hoheitsträger scheidet offensichtlich aus.
1.3 Nach Überzeugung der Kammer ist den beteiligten Hoheitsträgern aber auch eine fahrlässige Amtspflichtverletzung nicht vorzuwerfen.
Grundsätzlich haben Amtsträger die Pflicht zu gesetzmäßigem Verhalten, d. h. sie haben die ihnen übertragenen Aufgaben und Befugnisse in Einklang mit dem objektiven Recht wahrzunehmen und das Amt sachlich und im Einklang mit Treu und Glauben und guter Sitte zu führen und hierbei auch -bezogen auf die Polizeibeamten – Gefahrenabwehr bei Unglücksfällen und Beistandleistung von Verletzten und Hilflosen zu gewährleisten. Diese insoweit umschriebene Pflicht umfasst die sach- und fachgerechte, sorgfältige Ausübung der den Amtsträgern übertragenen Aufgaben (Rettungsmaßnahmen und Verhütung von Verschlimmerung von Gesundheit sowie der Vorkehrung zur Wiederherstellung der Gesundheit) zumindest in einem solchen Umfang, wie sie ein durchschnittlich denkender Amtsträger, dem seine hohe Verantwortung in Bezug auf die Individualgüter Dritter bewusst ist, unter Berücksichtigung aller ihm bekannter Umstände des Einzelfalls durchzuführen pflegt.
Gemessen an diesem Maßstab liegt bei keinem der beteiligten Amtsträger eine Amtspflichtverletzung vor.
1.3.1 Streifenbesatzung und Feuerwehrleute
Den als Zeugen vernommenen Streifenbeamten, die durch die Notrufzentrale zum Unfallort gerufen wurden, kann unter den ihnen mitgeteilten Informationen keine Amtspflichtverletzung unterstellt werden. Die Zeugen haben übereinstimmend und letztlich unbestritten angegeben, dass ihnen über Funk mitgeteilt wurde, dass ein Verkehrsteilnehmer im Rückspiegel mitbekommen hat, dass bei einem Fahrzeug die Lichter auf einmal weg waren. Die – aus Sicht der beiden Zeugen – naheliegende Vermutung eines Abkommens eines Fahrzeugs von der Fahrbahn ist nachvollziehbar. Ebenso ist nachvollziehbar, dass die Zeugen das in ungefährer Nähe zum beschriebenen Unfallort festgestellten Pannenfahrzeug als die Ursache für die Wahrnehmung des Mitteilers ansahen. Denn – wie die beiden Zeugen unbestritten angeben – die Angabe des Pannenfahrzeugfahrers, ihm sei wiederholt aufgrund von Elektrikproblemen ständig das Licht ausgegangen, passt zu den ihnen über die Notrufzentrale mitgeteilten Angaben (aus dem Notruf des Zeugen S.: „und dann hab ich nur gesehn, da sind Lichter, plötzlich, alles hat gestaubt und ich bin vorbeigefahren“). Trotz dieser aus der ex ante Sicht nachvollziehbaren Einschätzung haben sich die Zeugen sowie die ebenfalls mit dieser Information konfrontierten Feuerwehrleute, die ebenso von einem weiteren Mitteiler berichteten, entschlossen, die Unfallstelle bzw. die weitere Strecke abzusuchen. Mangels Beschädigungen an der Leitplanke oder einem Wildschutzzaun waren die Reifenabdrücke im Grünstreifen (s. Lichtbilder Nr. 18 / 19 d. DEKRA-Gutachtens vom 19.01.2016 = Sonderband „Unfallanalytisches Sachverständigengutachten“) bei Nacht trotz Taschenlampe und Lichtscheinwerfer am Polizeifahrzeug nach Überzeugung der Kammer nicht zu erkennen.
Verstärkt wird dieser atypische Fall durch den Umstand, dass weder an der Fahrbahnleitplanke noch an dem auf einer Anhöhe befindlichen Wildschutzzaun Beschädigungen zu sehen waren, womit jedoch in der Regel bei einem Verkehrsunfall, der über ein kurzes Abkommen ins Bankett hinausgeht, zu rechnen gewesen wäre.
1.3.2 Notrufbeamter
Letztlich liegt auch keine Amtspflichtverletzung des Notrufbeamten vor.
Die Kammer ist zwar davon überzeugt, dass der Notrufbeamte den Zeugen S. aus der ex post Sicht nicht hätte weiterfahren lassen dürfen. Denn dann wäre – wie auch die Zeugen H. und S. bestätigten – ein Auffinden des verunfallten Fahrzeugs sehr wahrscheinlich gewesen. Diese Überzeugung erlangte das Gericht schlussendlich auch deshalb, weil der – aus einer fiktiven Betrachtung – ortsanwesende Zeuge S. den zum Unfallort kommenden Polizeibeamten und Feuerwehrleuten hätte sagen können, dass das Pannenfahrzeug erst nach seinen Wahrnehmungen auf dem Standstreifen zum Stehen kam und seine Wahrnehmung gerade nicht die vom Pannenfahrzeugfahrer erwähnten Lichtprobleme waren.
Dennoch stellt das aus der ex post Sicht festzustellende Versäumnis des Notrufbeamten keine Amtspflichtverletzung dar, da der Notrufbeamte aus seiner Sicht – zum Notrufzeitpunkt – zwischen den Gefahren des Zeugen auf der Autobahn einerseits und dem daraus resultierenden Nutzen andererseits abwägen muss. Es ist einerseits allgemein bekannt, dass der Standstreifen auf Autobahnen eine nicht unerhebliche Gefahr sowohl für den fließenden Verkehr, als auch für die Insassen des Fahrzeugs auf dem Standstreifen mit sich bringt. Auf der anderen Seite wäre die Information, die der Zeuge S. hätte beisteuern können, letztlich elementar gewesen. Dennoch durfte der Notrufbeamte davon ausgehen, dass die hinzugerufenen Streifenbeamten das Unfallfahrzeug finden werden. Denn nach Überzeugung der Kammer sind in nahezu allen erheblichen Verkehrsunfällen, die schlussendlich zum Tod des Unfallfahrers führen, auf der Autobahn deutliche Schäden (PKW-/Reifenteile auf der Fahrbahn, Leitplanke, Wildschutzzaun) zu erkennen, sodass ein Auffinden stets möglich ist. Dies umso mehr, wenn die Polizeibeamten vor Ort und die Feuerwehrleute sogar noch von einem „überschlagenen Fahrzeug“ ausgehen, was – wie der uneingeschränkt glaubwürdige Zeuge H. glaubhaft schilderte – später der Notrufzentrale mitgeteilt wurde.
Nach Überzeugung der Kammer durfte der Notrufbeamte die bestehende Gefährdung des Zeugen S. bzw. des fließenden Verkehrs, vor dem Hintergrund der zu erwartenden Schäden am Unfallort und damit der sehr hohen Wahrscheinlichkeit, das Unfallfahrzeug aufzufinden, höher gewichten und den Zeugen S., trotz seines Angebots stehen zu bleiben, weiterschicken.
Auch ein Lotsen auf einen nächsten Parkplatz hätte nach Überzeugung der Kammer nicht weitergeführt, da in diesem Falle das später heranfahrende Pannenfahrzeug durch den Zeugen S. nicht hätte wahrgenommen werden können. Vor diesem Hintergrund hätte auch eine spätere telefonische Rückfrage beim Zeugen S. keinen entscheidenden Hinweis auf die tatsächliche Unfallkonstellation gebracht.
1.3.3 Zusammenfassung
Es handelt sich bei vorliegender Fallkonstellation sicherlich um einen Grenzfall. Die problemlose Möglichkeit, den Zeugen S. für ca. 10 Minuten bis zum Eintreffen der Streifenbeamten an der Unfallstelle warten zu lassen, hätte aus heutiger Sicht aller Wahrscheinlichkeit nach zum Auffinden des Fahrzeugs geführt. Im Ergebnis kommt es aber auf die Sicht des verständigen Notrufbeamten an, der unter Würdigung aller Umstände dieses Einzelfalls zum Zeitpunkt des eingehenden Notrufs noch davon ausgehen durfte, dass die hinzugerufene Streifenbesatzung das verunfallte Fahrzeug auffinden wird. Der Umstand, dass die Tochter der Kläger knapp an der Leitplanke in den Grünstreifen hineingefahren ist und eine längere Strecke parallel zur Fahrbahn fuhr, ohne hierbei erkennbare Beschädigungen zu hinterlassen, ist schlicht atypisch und derart ungewöhnlich, dass der Notrufbeamte diese Variante nicht in seine Erwägungen einbeziehen musste. In aller Regel sind -teilweise massive – Beschädigungen an Leitplanken / Weidezäunen oder an dem verunfallten Fahrzeug selbst (herumliegende Fahrzeugteile) zu erkennen, sodass ein Auffinden bzw. eben auch eine Verwechslungsgefahr mit einem Pannenfahrzeug vermieden wird. Hinzu kommt, dass -ausweislich des Notrufprotokolls – der Zeuge S. nicht, anders als in der Zeugenvernehmung angegeben, „weitergegeben“ habe, dass er definitiv ein Auto gesehen habe, dass „neben der Autobahn“ war (Prot. S. 3 / 4 = Bl. 52 / 53 d. A.). Vielmehr berichtete der Zeuge S. im Rahmen des Notrufs zwar von einem von der Autobahn „geflogenen“ Fahrzeug, berichtete aber ebenso, dass das Fahrzeug „von der Autobahn abgekommen“ sei und es „gestaubt“ habe. Diese Schilderung schließt auch die von den Streifenbeamten in Betracht gezogene Fallgestaltung, dass jemand mit dem Reifen ins Bankett abkam, wie es der Zeuge S. berichtete, nicht aus.
Letztlich konnte und durfte sich auch der Notrufbeamte auf die ihm durch die Streifenbeamten übermittelten Erkenntnisse und Sachverhaltsdarstellungen verlassen und ihnen vertrauen.
1.4 Fehlende Kausalität
Letztlich scheitert die Klage – auch – am durch die Klageseite nicht nachgewiesenen zwingenden Nichteintritt des Todes durch das Nichtauffinden des verunfallten Fahrzeugs.
Aufgrund der festgestellten Verletzungen (ausgedehnte Einblutungen und Zertrümmerungen im Bereich der vorderen Beckenregion beidseits, links betont, mit kräftigen Einblutungen ins umgebende Weichteilgewebe und die Muskulatur sowie Einblutungen unter die häutigen Überzüge der angrenzenden Darmanteile; linksseitig offene Fraktur im Bereich des vorderen Beckenkammstachels; Zeichen von prellungsbedingten Verletzungen des Brustkorbes sowie der Lunge mit einer Bluteinatmung ins Lungengewebe in die angrenzenden Anteile) wurde als wahrscheinlichste Todesursache eine Blutaspiration durch die Rechtsmedizin angenommen. Wie sich aus der forensisch-medizinischen Bewertung ergibt, konnte der Todeseintritt nicht genau ermittelt werden. Anhand der vorliegenden Anzeichen bzw. des – mangels anderweitigem Vortrag -auszugehenden Nichtvorhandensein der Totenstarre zum Auffindezeitpunkt am 26.07.2015 gegen 09:09 Uhr, wurde der Todeszeitpunkt auf frühestens 02:00 Uhr festgesetzt. Unter Berücksichtigung des Eintreffens der Rettungskräfte gegen ca. 01:14 Uhr konnte die Rechtsmedizin lediglich eine einfache Wahrscheinlichkeit feststellen, dass – unter Berücksichtigung der vorgenannten Verletzungen – bei unmittelbarem Auffinden, die Verunfallte mit Rettungsmaßnahmen hätte überleben können.
Darüber hinaus würde der Haftungsausschluss des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII greifen. Der Haftungsausschluss ist zwar im Rahmen der haftungsausfüllenden Kausalität (§§ 249 ff. BGB) auf Personenschäden (hier: Schmerzensgeldanspruch infolge erbrechtlichem Übergang auf die Kläger) beschränkt. Ein vorsätzliches Handeln liegt jedoch ohnehin im vorliegenden Fall evident bei keinem der beteiligten Amtsträger vor.
2. Mangels Hauptanspruch können die Kläger auch die Nebenforderungen nicht verlangen, §§ 280 Abs. 1, Abs. 2, 286 BGB.
II.
Die Kostenentscheidung basiert auf § 91 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in § 709 Satz 2 ZPO.


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