Verkehrsrecht

Anforderungen an die Benutzung einer Rodelbahn – keine Pflicht zur mündlichen Verhandlung bei § 522 Abs. 2 ZPO

Aktenzeichen  18 U 7320/19

Datum:
12.8.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 48650
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
ZPO § 520 Abs. 3, § 522 Abs. 2, § 530

 

Leitsatz

1. Der durchschnittliche Benutzer einer Rodelbahn versteht das Schild “Bremsen!” als Warnhinweis vor der angekündigten „Rechtslinks-Kurvenkombination“ und muss daher seine Geschwindigkeit (nur) soweit herabsetzen, dass er den Rodel beim Durchfahren der Kurven sicher beherrscht und nicht durch auftretende Zentrifugalkräfte aus der Bahn getragen wird. (Rn. 19) (redaktioneller Leitsatz)
2. Von der Erhebung zulässiger und rechtzeitig angetretener Beweise kann absehen werden, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet ist; dies gilt für ein biomechanisches Gutachten zur Feststellung einer überhöhten Geschwindigkeit, wenn die erlittenen Verletzungen bereits bei einem Sturz aus dem Stand auftreten könnten. (Rn. 31 – 35) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine mündliche Verhandlung über die Berufung ist regelmäßig dann nicht geboten, wenn sie keinerlei zusätzlichen Erkenntnisgewinn verspricht. Der Umstand, dass der Rechtsstreit für den Berufungsführer von existenzieller Bedeutung ist, gebietet entgegen der Motiv gebliebenen Vorstellung des Gesetzgebers, die im Wortlaut der Vorschrift keinen Niederschlag gefunden hat, für sich genommen noch nicht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Berufungsführer bereits in erster Instanz informatorisch angehört worden und dem Gebot prozessualer Fairness, dessen Ausfluss die Gelegenheit ist, den Rechtsstandpunkt in mündlicher Verhandlung zu vertreten, ausreichend Rechnung getragen ist. (Rn. 36 – 47) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

18 U 7320/19 2020-06-02 Hinweisbeschluss OLGMUENCHEN OLG München

Tenor

1. Die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Landgerichts Traunstein vom 21.11.2019, Az.: 7 O 4488/16, wird zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Berufungsverfahrens und die durch die Nebeninterventionen in zweiter Instanz verursachten Kosten trägt der Kläger.
3. Das vorgenannte Endurteil des Landgerichts Traunstein sowie dieser Beschluss sind im Kostenpunkt ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des für die Beklagte und deren Streithelfer vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollsteckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110% des zu vollstreckenden Betrages leistet.
4. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wird auf 204.789,00 € festgesetzt.

Gründe

I.
Der Kläger nimmt nach einem Unfall auf der Sommerrodelbahn H. in O. die Beklagte auf Schadensersatz und Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes in Anspruch. Hinsichtlich der Darstellung des Sach- und Streitstands in erster Instanz wird auf den Tatbestand des angefochtenen Endurteils des Landgerichts Traunstein vom 21.11.2019 Bezug genommen.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil es ein Verschulden der Beklagten an dem streitgegenständlichen Unfall nicht als erwiesen angesehen hat. Hinsichtlich der Einzelheiten wird auf die Entscheidungsgründe des vorgenannten Urteils Bezug genommen.
Das erstinstanzliche Urteil ist dem Kläger am 22.11.2019 zugestellt worden. Mit Schriftsatz vom 19.12.2019, beim Oberlandesgericht München eingegangen am selben Tage, hat der Kläger Berufung eingelegt und diese mit weiterem Schriftsatz vom 24.02.2020, eingegangen am selben Tage, begründet, nachdem auf seinen Antrag vom 17.01.2020 hin die Berufungsbegründungsfrist bis einschließlich 24.02.2020 verlängert worden war.
Der Kläger beantragt,
I. Das Endurteil des Landgerichts Traunstein vom 21.11.2019, Az.: 7 O 4488/16, wird aufgehoben.
II. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 193.789,93 € zzgl. Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
III. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein angemessenes Schmerzensgeld, mindestens aber 6.00,00 €. zuzüglich Zinsen hieraus in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu bezahlen.
IV. Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger allen weiteren Schaden zu ersetzen, der dem Kläger aus dem Unfall mit der Beklagten am 26.10.2013 auf der Sommerrodelbahn H. (… O.) noch entstehen wird, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist.
Die Beklagte und ihre Streithelfer beantragen
Zurückweisung der Berufung.
Hinsichtlich des Vorbringens der Parteien in zweiter Instanz wird auf die Schriftsätze des Klägers vom 24.02.2020 (Bl. 270/277 d.A.), 21.07.2020 (Bl. 310/318 d.A.) und 07.08.2020 (Bl. 311 d.A.), der Beklagten vom 11.03.2020 (Bl. 280/285) und 12.08.2020 (Bl. 311/314 d.A.) sowie ihrer Streithelfer vom 17.03.2020 (Bl. 286/287 d.A.), 24.03.2020 (Bl. 288/201 d.A.), 25.03.2020 (Bl. 292/205 d.A.) und 05.08.2020 (Bl. 321/322 d.A.) Bezug genommen.
II.
Die Berufung des Klägers gegen das Endurteil des Landgerichts Traunstein vom 21.11.2019, Az.: 7 O 4488/16, ist gemäß § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen, weil nach einstimmiger Auffassung des Senats das Rechtsmittel offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg hat, der Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung zukommt und weder die Fortbildung des Rechts noch die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts erfordert. Auch die Durchführung einer mündlichen Verhandlung über die Berufung ist nicht geboten.
Zur Begründung wird zunächst auf den vorausgegangenen Hinweis des Senats vom 02.06.2020 (Bl. 296/302 d.A.) Bezug genommen. Die Ausführungen des Klägers in seiner Stellungnahme vom 21.07.2020 (Bl. 310/318 d.A.) geben keine Veranlassung zu einer abweichenden Beurteilung.
1. Mit seinem neuen Sachvortrag, dass die Beklagte den stehenden Rodel des Klägers auch an der um ca. 3 bis 4 m nach hinten verschobenen Position bereits beim Passieren des vom Sachverständigen S. mit „-32 m“ definierten Messpunktes hätte wahrnehmen können, ist der Kläger gemäß §§ 530, 520, 296 Abs. 1 ZPO präkludiert.
a) Angriffe gegen die vom Sachverständigen ermittelten Anknüpfungstatsachen bzw. gegen die darauf beruhenden Feststellungen des Landgerichts hätte der Kläger gemäß § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 bis 4 ZPO mit der Berufungsbegründung vorbringen müssen. Das hat er aber nicht getan. In seiner Berufungsbegründung hat er vielmehr beanstandet, dass das Landgericht bei der Prüfung der Frage, ob der Beklagten Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist, rechtsfehlerhaft auf den „Zeitpunkt der Einsehbarkeit“ abgestellt habe, während die Beklagte verpflichtet gewesen sei, bereits auf Höhe des Schildes mit der Aufforderung „Bremsen!“ eine Vollbremsung einzuleiten, weil sie den Streckenverlauf hinter der Rechtskurve nicht habe einsehen können (vgl. Berufungsbegründung, S. 3 ff. = Bl. 272 ff. d.A.). Erstmals mit Schriftsatz vom 21.07.2020 behauptet der Kläger, es stelle einen handwerklichen Fehler des Gutachtens dar, dass der Sachverständige S. die Sichtmöglichkeiten der Beklagten mittels aufgestellter Pylonen nachvollzogen habe, weil in einem Rodel sitzende erwachsene Menschen wesentlich größer seien.
b) Die Zulassung des neuen Sachvortrags des Klägers würde die Erledigung des Rechtsstreits verzögern. Die Beklagte und ihre Streithelferin zu 1) haben das im Schriftsatz vom 21.07.2020 enthaltene neue tatsächliche Vorbringen des Klägers bestritten, so dass im Falle seiner Berücksichtigung hierüber Beweis zu erheben wäre, während der Rechtsstreit bei Zurückweisung des verspäteten Vorbringens entscheidungsreif ist.
c) Der Kläger hat die Verspätung auch nicht genügend entschuldigt. Bei seiner mündlichen Anhörung am 28.10.2019 hat der Sachverständige seinen Berechnungen erstmals die Prämisse zugrunde gelegt, dass sich der Rodel des Klägers – wie dieser behauptet – abweichend von den Vorgaben des Beweisbeschlusses vom 24.04.2018 im Zeitpunkt der Kollision nicht vor, sondern im Bereich der Holzpaneele befunden hatte. Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass sich in diesem Fall auch der Punkt, ab dem die Beklagte den klägerischen Rodel wahrnehmen kann, um ca. 3 bis 4 m „nach vorne“ – gemeint ist offensichtlich: „nach hinten“ – verschiebt, weshalb „die Berechnung ungefähr gleich bleibt“ und die Kollision für die Beklagte ebenso unvermeidbar ist wie bei der im Gutachten zugrunde gelegten Position des klägerischen Rodels (vgl. Protokoll, S. 3 = Bl. 221 d.A.). Dem Antrag des Klägers auf Einräumung einer Schriftsatzfrist zu den mündlichen Ausführungen des Sachverständigen hat das Landgericht im Termin nicht entsprochen; in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils hat es den Antrag zurückgewiesen (Protokoll, S. 5 = Bl. 223 d.A.; Urteil, S. 12). Bei dieser Sachlage erschließt sich nicht, warum der Kläger zu der nunmehr behaupteten früheren Erkennbarkeit des stehenden Rodels nicht bereits in der Berufungsbegründung hätte vortragen können.
2. Unabhängig davon zeigt der Kläger mit seinen Angriffen gegen die vom Sachverständigen S. ermittelten Anknüpfungstatsachen auch keine konkreten Anhaltspunkte im Sinne von § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf, welche Zweifel an der Richtigkeit der vom Landgericht getroffenen Feststellung begründen, dass die Beklagte zu dem Zeitpunkt, als sie den klägerischen Rodel erstmals als Hindernis wahrnehmen konnte, ein Auffahren auch durch eine Vollbremsung nicht mehr hätte vermeiden können.
a) Dem Lichtbild Nr. 66 zum Gutachten lässt sich entnehmen, dass der durch einen gelben Pfeil hervorgehobene Pylon an der Stelle des „kläger. Rodel“ die Sichtgrenze markiert und zwar im Wesentlichen unabhängig von der Größe des Objekts. Denn die Sicht auf den weiteren Verlauf der Rodelbahn wird aus der Perspektive eines Rodlers, der sich auf Höhe des ersten Pylons (-32 m) befindet, durch den Fuß des am rechten Bildrand erkennbaren Hügel verdeckt. Es mag sein, dass ein sitzender Rodler, der sich unmittelbar rechts neben der durch den gelben Pfeil definierten Position befindet, noch zum Teil sichtbar ist. Eine nennenswerte Verschiebung der Sichtgrenze nach rechts kann aber ausgeschlossen werden, weil der Fuß des Hügels ziemlich steil ansteigt und die Rodelbahn hinter dem Hügel ein Gefälle aufweist (vgl. Lichtbild Nr. 68 zum Gutachten). Wenn sich der Rodel des Klägers – wie dieser selbst behauptet – 3 bis 4 m hinter der vom Sachverständigen im Gutachten vom 26.02.2019 angenommenen Position befunden haben sollte, wäre er ausweislich des Lichtbilds Nr. 66 für die Beklagte bei -32 m noch nicht sichtbar gewesen.
b) Die gegenteilige Behauptung des Klägers, dass auf Höhe der vom Sachverständigen mit „-32 m“ definierten Position alle denkbaren Kollisionsstellen bei -5 m, -1 m und 0 m einsehbar seien, kann nicht nachvollzogen werden. Vergleicht man das als Anlage zum Schriftsatz vom 21.07.2020 vorgelegte Lichtbild zur „Einsehbarkeit von der Position -32 m auf die Positionen 0 m, -1 m und -5 m“ mit dem Lichtbild Nr. 66 zum Gutachten, so drängen sich erhebliche Zweifel daran auf, ob das nunmehr vorgelegte Lichtbild tatsächlich von der vom Sachverständigen S. mit „-32 m“ definierten Position aus angefertigt worden ist: Ein Maßstab, mit dessen Hilfe sich die Behauptung des Klägers verifizieren ließe, ist nicht erkennbar. Der sichtbare Abschnitt der Rodelbahn bis zum Beginn der Rechtskurve erscheint jedenfalls deutlich kürzer als auf dem Lichtbild Nr. 66. Der Fuß des rechts angrenzenden Hügels zeigt sich aus einer anderen Perspektive, nämlich eher von oben. Falls das klägerseits vorgelegte Lichtbild das Sichtfeld bei -32 m wiedergeben sollte, müsste es aus einer stehenden Position aufgenommen worden sein, weil sich anders die offensichtlichen Unterschiede zum Lichtbild Nr. 66 des Gutachtens nicht erklären lassen. Eine Aufnahme aus diesem Blickwinkel gäbe die Sichtmöglichkeiten der auf ihrem Rodel sitzenden Beklagten aber nicht zutreffend wieder. Die Gegenüberstellung der Lichtbilder Nr. 14 und 15 zum Gutachten belegt anschaulich, wie unterschiedlich das Sichtfeld aus stehender und aus sitzender Position sein kann.
3. Entgegen der Ansicht des Klägers ist das Gutachten vom 26.02.2019 auch nicht deshalb unvollständig, weil der Sachverständige S. seinen Berechnungen rechtlich unzulässige Maximalgeschwindigkeiten zugrunde gelegt hätte.
a) Unzutreffend ist bereits die Darstellung im Schriftsatz vom 21.07.2020, dass sich der Sachverständige „nur zur Frage der Vermeidbarkeit bei Bremsung ab Sichtmöglichkeit (Hervorhebung durch den Senat) bei Maximalgeschwindigkeit“ geäußert hat (a.a.O., S. 3 = Bl. 312 d.A.). Dem zweiten Fahrversuch lag vielmehr die Vorgabe zugrunde, dass der Versuchsfahrer auf Höhe des Schildes mit der Aufforderung „Bremsen!“ (-37 m) – also deutlich vor der frühestmöglichen Erkennbarkeit des klägerischen Rodels bei -32 m (unter Zugrundelegung der im Beweisbeschluss vom 24.05.2018 vorgegebenen Position) – eine Vollbremsung auslösen sollte (vgl. Gutachten, Bl. 51). Bei diesem Versuch kam der Versuchsfahrer bei -3,5 m zum Stehen, hätte also ein Auffahren auf das bei -5 m angenommene Heck des klägerischen Rodels nicht vermeiden können (Gutachten, Bl. 51 f.).
b) Verschiebt man die Position des klägerischen Rodels entsprechend dem Sachvortrag des Klägers um 3 bis 4 m nach hinten, wäre der Versuchsfahrer bei seinem zweiten Fahrversuch zwar in einem Abstand von ca. 1,5 bis 2,5 m vor dem Heck des klägerischen Rodels zum Stillstand gekommen. Daraus lässt sich aber nicht ableiten, dass die Beklagte den streitgegenständlichen Unfall schuldhaft verursacht hat.
Zum einen war die Beklagte gerade nicht verpflichtet, beim Passieren des Schildes mit der Aufforderung „Bremsen!“ ohne zusätzliche Reaktionsaufforderung eine Vollverzögerung auszulösen. Die vom Kläger aufgeworfene Rechtsfrage, welche Geschwindigkeit nach Passieren dieses Schildes noch zulässig ist, hat der Senat in seinem Hinweisbeschluss vom 02.06.2020 bereits beantwortet (a.a.O., Ziff. 2 lit. a): Da der durchschnittliche Benutzer der Rodelbahn das Schild als Warnhinweis vor der angekündigten „Rechtslinks-Kurvenkombination“ versteht, muss er seine Geschwindigkeit (nur) soweit herabsetzen, dass er den Rodel beim Durchfahren der Kurven sicher beherrscht und nicht durch auftretende Zentrifugalkräfte aus der Bahn getragen wird. Mit diesen Ausführungen setzt sich der Kläger in seinem Schriftsatz vom 21.07.2020 nicht näher auseinander.
Zum anderen steht nicht fest, dass der bei den Versuchsfahrten verwendete Rodel dieselbe Bremsleistung aufweist wie der von der Beklagten gefahrene Rodel. Der Sachverständige S. geht davon aus, dass die Bremsleistung der Rodel unterschiedlich sein kann, je nachdem, wie die Bremsbacken greifen (Protokoll vom 28.10.2019, S. 3 = Bl. 221 d.A.). Angesichts des geringen „Spielraums“ von ca. 1,5 bis 2 m können sich auch verhältnismäßig geringfügige Unterschieden in der Bremsleistung auf die Vermeidbarkeit der Kollision entscheidend auswirken. Der Sachverständige hat deshalb auch in dem Umstand, dass der Versuchsfahrer beim zweiten Fahrversuch einen rechnerisch um 1,3 m kürzeren Bremsweg als die Beklagte realisiert hatte, unter Beachtung der möglichen Toleranzen und messtechnischen Unschärfen keinen bewertungsrelevanten Unterschied zu der tatsächlichen Fahrt der Beklagten gesehen (vgl. Gutachten, Bl. 51).
Die weiteren Überlegungen des Klägers beruhen zudem auf einem Denkfehler: Wenn der Beklagten nicht nachgewiesen werden kann, dass sie im Falle einer – rechtlich nicht gebotenen – kontinuierlichen Vollverzögerung ab Erreichen des Schildes mit der Aufforderung „Bremsen!“ den streitgegenständlichen Unfall hätte vermeiden können, so gilt dies erst recht unter Zugrundelegung einer geringeren Bremsverzögerung.
4. Mit seinem neuen Sachvortrag zu den angeblich von seinem Vater bei einem Ortstermin festgestellten Spuren auf der Rodelbahn ist der Kläger ebenfalls gemäß §§ 530, 520, 296 Abs. 1 ZPO präkludiert. Hinsichtlich der Einzelheiten kann auf die obigen Ausführungen unter Ziff. 1 lit. a verwiesen werden.
Unabhängig davon wären diese Spuren für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits aus mehreren Gründen ohne Bedeutung:
a) Der streitgegenständliche Unfall ereignete sich unstreitig am 26.10.2013. Der Ortstermin des Vaters des Klägers dürfte am 20.07.2020 stattgefunden haben (vgl. das Aufnahmedatum des als Anlage zum Schriftsatz vom 21.07.2020 vorgelegten Lichtbilds). Angesichts des seit dem Unfall verstrichenen Zeitraums von fast sieben Jahren kann nicht mit der gebotenen Sicherheit davon ausgegangen werden, dass die vom Vater des Klägers nach eigenen Angaben zwischen den Positionen -0,5 und -0,8 m (bezogen auf die vom Sachverständigen S. definierte Position 0) festgestellten Spuren mit diesem Ereignis in Zusammenhang gebracht werden können.
b) Dem Sachverständigen S. kann nicht vorgeworfen werden, dass er die Suche nach etwaigen Unfallspuren auf der Rodelbahn unterlassen hat. Denn ihm war durch den Beweisbeschluss vom 24.05.2018 der von ihm zugrunde zu legende Kollisionsort vorgegeben worden (a.a.O., Ziff. 1, Bl. 181 d.A.).
c) Vor allem jedoch würden die vom Vater des Klägers angeblich festgestellten Spuren keine abweichende Beantwortung der streitentscheidenden Frage rechtfertigen, ob die Beklagte den streitgegenständlichen Unfall hätte vermeiden können.
Der Sachverständige S. hatte aufgrund der Vorgaben im Beweisbeschluss vom 24.05.2018 zunächst angenommen, dass sich das Heck des klägerischen Rodels im Zeitpunkt der Kollision bei „-5 m“ (bezogen auf die durch die Front des Rodels des Zeugen B. definierte Position 0) befunden hatte (vgl. Gutachten, Bl. 52). Diese Vorgabe wurde im Termin vom 28.10.2019 durch eine Verschiebung um ca. 3 bis 4 m nach hinten korrigiert. Das Heck des klägerische Rodels befand sich danach zwischen -2 m und -1 m.
Falls die vom Vater des Klägers vorgefundenen Spuren tatsächlich dem streitgegenständlichen Unfallereignis zuzuordnen wären, läge der Kollisionspunkt bei -0,8 m, dem Beginn der vorgefundenen Spuren. Das entspräche einer Verschiebung des Hecks des klägerischen Rodels um 4,2 m gegenüber der ursprünglich angenommenen Position bei -5 m. Bei der zweiten Versuchsfahrt hätte sich somit der (fiktive) Abstand zwischen der Endposition des Versuchsfahrers (-3,5 m) und dem Heck des klägerischen Rodels (-0,8 m) auf maximal 2,7 m vergrößert. Dieser Abstand wäre aber immer noch zu gering, um der Beklagten eine Vermeidbarkeit des Unfalls nachweisen zu können, zumal der Berechnung die unzutreffende Prämisse zugrunde läge, dass die Beklagte verpflichtet gewesen wäre, beim Passieren des Schildes „Bremsen!“ eine Vollverzögerung einzuleiten und diese kontinuierlich aufrechtzuerhalten.
5. Mit der Verfahrensrüge, dass das Landgericht den mit Schriftsatz vom 25.04.2019 gestellten Antrag auf Einholung eines biomechanischen Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache, dass die in der Klageschrift beschriebenen massiven Verletzungen des Klägers nicht durch einen Aufprall mit einer Geschwindigkeit von ca. 7 km/h verursacht worden sein können, übergangen habe, ist der Kläger gemäß § 529 Abs. 2 Satz 1, § 520 Abs. 3 ZPO präkludiert. In seiner Berufungsbegründung vom 24.02.2020 hatte der Kläger diese Rüge nicht erhoben.
6. Das Landgericht war auch nicht verpflichtet, das angebotene biomechanische Sachverständigengutachten einzuholen; denn dieses Beweismittel war zum Beweis der Richtigkeit der klägerseits behaupteten höheren Anstoßgeschwindigkeit offensichtlich ungeeignet.
a) Das Zivilgericht darf von der Erhebung zulässiger und rechtzeitig angetretener Beweise absehen, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder die Richtigkeit der unter Beweis gestellten Tatsache bereits erwiesen ist. Bei der Zurückweisung eines Beweismittels als ungeeignet ist größte Zurückhaltung geboten; es muss jede Möglichkeit ausgeschlossen sein, dass der übergangene Beweisantrag Sachdienliches ergeben könnte (vgl. BGH, Urteil vom 26.11.2003 – IV ZR 438/02, NJW 2004, 767, 769 m.w.N.).
b) Nach der Darstellung in der Klageschrift erlitt der Kläger bei dem streitgegenständlichen Unfall Prellungen und Blutergüsse am Hinterkopf sowie an der Halswirbelsäule, eine ca. 3 cm lange Rissquetschwunde am Hinterkopf, die mit vier bis fünf Stichen genäht werden musste, eine Gehirnerschütterung sowie ein schweres Schleudertrauma mit einer plötzlichen Hyperextension der Brust- und Halswirbelsäule (a.a.O., S. 7 f. = Bl. 24 f. d.A.).
Der als Anlage SNP 8 vorgelegte orthopädische Befund von Dr. W. D. datiert allerdings erst vom 08.05.2015, der darin wiedergegebene radiologische Befund der Brustwirbelsäule wurde 13.08.2014 – achteinhalb Monate nach dem streitgegenständlichen Unfall – erhoben. Dr. D. bescheinigt dem Kläger lediglich, dass von einer Unfallkausalität der seitens des Klägers geklagten Beschwerden „auszugehen“ sei. Der Diagnose liegen ersichtlich allein die Angaben des Klägers zugrunde. Einen Zusammenhang zwischen den Beschwerden des Klägers und dem im Anschluss wiedergegebenen radiologischen Befund – Discusprotusionen in der unteren Halswirbelsäule, Bandscheibenraumverschmälerung in TH 7/8, kleine Protusion mit Pelottierung des Duralsacks von ventral im Sinne eines kleinen incipienten dorsomedianen Prolapses – stellt Dr. D. in seinem Attest gerade nicht her. Die Beklagte hat die klägerseits behaupteten Unfallfolgen bestritten (Schriftsatz vom 31.01.2017, S. 7 = Bl. 13 d.A.).
Die mit Sicherheit durch das Unfallereignis verursachte Rissquetschwunde am Hinterkopf ist in Bezug auf die klägerseits behauptete Anstoßgeschwindigkeit von mehr als 7 km/h nicht aussagekräftig. Es ist allgemein bekannt, dass eine solche Verletzung selbst bei einem unglücklichen Sturz aus dem Stand auftreten kann – infolge der Beschleunigung, die der stürzende Körper durch die Erdanziehungskraft erfährt (ca. 9,81 m/s²). Zudem schlug der Kläger mit dem Hinterkopf auf den Bremshebel des von der Beklagten gefahrenen Rodels auf, der nach den Feststellungen des Sachverständigen S. einen Durchmesser aufweist, der etwa dem eines Fünfmarkstück entspricht. Infolge dessen konzentrierten sich die durch den Aufprall verursachten Druckkräfte auf eine relativ kleine Fläche (vgl. Protokoll vom 28.10.2019, S. 3 = Bl. 221 d.A.).
Im Hinblick auf das Fehlen belastbarer Anknüpfungstatsachen – wie etwa knöcherner Verletzungen – kann der Senat ausschließen, dass durch Einholung eines biomechanischen Sachverständigengutachtens die vom Kläger behauptete höhere Anstoßgeschwindigkeit als 7 km/h nachgewiesen werden könnte. Ein biomechanisches Sachverständigengutachten baut üblicherweise auf den Feststellungen des unfallanalytischen Gutachtens auf, nicht umgekehrt. Der Sachverständige S. hat die von ihm ermittelte maximale Anstoßgeschwindigkeit von 7 km/h sogar auf zwei voneinander unabhängigen Wegen berechnet: zum einen aus dem von den Zeugen berichteten Abstand der stehenden Rodel und der Maßgabe, dass keine Berührung zwischen dem Rodel des Klägers und demjenigen der Zeugin M. stattgefunden hatte, zum anderen aus den Ergebnissen der von ihm durchgeführten Bremsversuche (vgl. Protokoll vom 28.10.2019, S. 4 = Bl. 222 d.A.).
7. Der Senat hält nach nochmaliger Überprüfung an seiner im Hinweisbeschluss vertretenen Auffassung fest, dass eine mündliche Verhandlung über die Berufung nicht geboten ist.
a) Der Kläger begründet die Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung damit, dass er angesichts seiner seit dem Unfall bestehenden Arbeitsunfähigkeit von der Entscheidung existenziell betroffen sei. In derartigen Fällen bestehe nach der Auffassung des Gesetzgebers ein anerkennenswertes Bedürfnis, mündlich zu verhandeln (BT-Drs. 17/5334, S. 7 f.).
b) Das klägerseits zitierte Motiv des Gesetzgebers hat allerdings im Wortlaut des § 522 Abs. 2 ZPO keinen Niederschlag gefunden. Das Gesetz stellt ausschließlich darauf ab, ob nach der einstimmigen Überzeugung des Berufungsgerichts eine mündliche Verhandlung geboten ist oder nicht. Zur Konkretisierung dieses Tatbestandsmerkmals werden in der Kommentarliteratur sehr unterschiedliche Meinungen vertreten:
(1) Teilweise wird in Anlehnung an die Gesetzesbegründung eine mündliche Verhandlung bei existenzieller Bedeutung des Rechtsstreits für den Berufungsführer immer für erforderlich gehalten. Ein Ermessen stehe dem Berufungsgericht insoweit nicht zu. Die Erfolgsaussichten der Berufung und ihre grundsätzliche Bedeutung seien für die Beurteilung der Frage, ob eine mündliche Verhandlung geboten sei, irrelevant (Althammer in Stein/Jonas, ZPO, 23. Aufl., § 522 Rn. 57).
(2) Eine andere Ansicht stellt darauf ab, ob eine Entscheidung der mündlichen Verhandlung dem Gebot der prozessualen Fairness widerspricht, was im Lichte des Art. 6 Abs. 1 EMRK zu beurteilen sei. Eine Zurückweisung der Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO scheide deshalb aus, wenn die mündliche Verhandlung in erster Instanz verfahrensfehlerhaft gewesen sei (MüKo-ZPO-Rimmelspacher, 5. Aufl., § 522 Rn. 24). Das im Gesetzgebungsverfahren genannte Merkmal der „existenziellen Bedeutung“ sei zwar an sich nicht sehr trennscharf, könne aber schrittweise konkretisiert werden: Neben den in den Gesetzesmaterialien genannten Arzthaftungssachen fielen darunter schwerwiegende Persönlichkeits- und Vermögensstreitigkeiten (Rimmelspacher a.a.O.).
(3) Andere Autoren halten eine Differenzierung nach Verfahrensgegenständen für grundsätzlich problematisch (so z.B. Gerken in Wieczorek/Schütze, 4. Aufl., § 522 Rn. 75). Sie verweisen darauf, dass im Einzelfall jeder Rechtsstreit für die Parteien existenzbedrohend sein könne. Eine notwendige Unterscheidung müsse daher nach allgemeinen und abstrakten Kriterien, nicht nach bestimmten Streitgegenständen vorgenommen werden. Eine Verfahrensweise, dass beispielsweise in Arzthaftungssachen stets mündlich zu verhandeln sei, wäre nicht sachgerecht und würde zu einer nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung führen (Gerken a.a.O.).
(4) Eine Auffassung geht schließlich so weit, dem Kriterium des § 522 Abs. 2 Nr. 4 ZPO wegen innerer Widersprüchlichkeit jegliche selbständige Bedeutung abzusprechen (Baumbach/ Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, 77. Aufl., § 522 Rn. 19). Ihre Vertreter weisen darauf hin, dass die richterliche Überzeugung nach § 286 ZPO einen für das praktische Leben brauchbaren Grad an Gewissheit verlangt, der restlichen Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig ausschließen zu müssen. Wenn das Berufungsgericht diese Voraussetzung einstimmig als gegeben ansehe, wie dies § 522 Abs. 2 Nr. 1 ZPO voraussetze, sei nicht ersichtlich, wieso die Durchführung einer mündlichen Verhandlung noch sinnvoll oder gar „geboten“ sein könne (a.a.O.).
c) Der Senat hält die geäußerten Einwände gegen eine Differenzierung nach Streitgegenständen für überzeugend, weil eine solche Verfahrensweise zu einer sachlich nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung führen würde. Nach dem Wortlaut des Gesetzes kann es ausschließlich darauf ankommen, ob eine mündliche Verhandlung geboten ist, wobei die negative Formulierung in § 522 Abs. 2 Nr. 4 ZPO erkennen lässt, dass das Gesetz bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen der Nummern 1 bis 3 eine mündliche Verhandlung im Regelfall für entbehrlich hält.
Eine mündliche Verhandlung über die Berufung ist regelmäßig dann nicht geboten, wenn sie keinerlei zusätzlichen Erkenntnisgewinn verspricht. Der Umstand, dass der Rechtsstreit für den Berufungsführer von existenzieller Bedeutung ist, gebietet entgegen der Motiv gebliebenen Vorstellung des Gesetzgebers, die im Wortlaut der Vorschrift keinen Niederschlag gefunden hat, für sich genommen noch nicht die Durchführung einer mündlichen Verhandlung. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Berufungsführer bereits in erster Instanz informatorisch angehört worden war. Auch in einem Rechtsstreit von existenzieller Bedeutung ist dem Gebot prozessualer Fairness ausreichend Rechnung getragen, wenn der betroffenen Partei einmal Gelegenheit gegeben wird, ihren Rechtsstandpunkt selbst in mündlicher Verhandlung zu vertreten.
d) Danach ist im vorliegenden Fall eine mündliche Verhandlung nicht geboten. Der Kläger war ausführlich informatorisch angehört worden (vgl. Protokoll vom 13.11.2017, S. 2/5 = Bl. 84/87 d.A.). Bei der Anhörung des Sachverständigen S. am 28.10.2019 war ihm das Fragerecht eingeräumt worden (vgl. Protokoll, S. 4 = Bl. 222 d.A.). Ein Mangel des erstinstanzlichen Verfahrens ist weder vorgetragen, noch aus den Akten ersichtlich.
Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verspricht keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Da dem Kläger der geltend gemachte Anspruch nach dem Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme bereits dem Grunde nach nicht zusteht, ist seine Anhörung zu den fortbestehenden Unfallfolgen entbehrlich. Der Kläger könnte allenfalls seine bisherigen Angaben zum Unfallhergang bestätigen. Das Landgericht hat seiner Entscheidung aber bereits zugrunde gelegt, dass sich der Rodel des Klägers im Zeitpunkt des Unfalls an der von ihm angegebenen Position in den Holzpaneelen befunden hatte.
e) Eine mündliche Verhandlung ist schließlich auch nicht deshalb geboten, weil zu den tatbestandlichen Voraussetzungen des § 522 Abs. 2 Nr. 4 ZPO in der Kommentarliteratur sehr unterschiedliche Auffassungen vertreten werden, eine höchstrichterliche Entscheidung hierzu – soweit ersichtlich – noch nicht vorliegt und der streitigen Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung zukommt. Denn die Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem Ziel einer Zulassung der Revision hätte gerade zur Folge, dass die Rechtsfrage nicht höchstrichterlich geklärt werden könnte, weil ihr mangels Zurückweisung der Berufung durch Beschluss für den vorliegenden Rechtsstreit keine Relevanz zukäme.
III.
1. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1, § 101 Abs. 1 ZPO.
2. Der Ausspruch, dass das angefochtene Urteil sowie dieser Beschluss im Kostenpunkt ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar sind, findet seine Rechtsgrundlage in § 708 Nr. 10 Satz 1 und 2 ZPO, die Anordnung der Abwendungsbefugnis in § 711 ZPO.
3. Der Streitwert für das Berufungsverfahren wurde in Anwendung der §§ 47, 48 GKG in Verbindung mit § 3 ZPO bestimmt.


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