Verkehrsrecht

Entziehung der Fahrerlaubnis wegen Nichtbeibringung eines nach einer Trunkenheitsfahrt mit dem Fahrrad geforderten medizinisch-psychologischen Gutachtens – Berufungszulassung

Aktenzeichen  11 ZB 20.2594

Datum:
4.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1661
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1
StVG § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 11 Abs. 8 S. 1, § 13 S. 1 Nr. 2 lit. c, § 46 Abs. 1 S. 1, Abs. 3
FeV Anl. 4 Nr. 8.1

 

Leitsatz

1. Die Verpflichtung der Fahrerlaubnisbehörde, zur Klärung von Eignungszweifeln bei Alkoholproblematik ein medizinisch-psychologisches Gutachten anzuordnen, wenn der Betroffene ein Fahrzeug im Straßenverkehr bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 Promille oder mehr geführt hat, gilt auch bei einer erstmaligen Trunkenheitsfahrt mit einem Fahrrad (vgl. BVerwG BeckRS 2013, 52676 Rn. 7). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Entziehung einer Fahrerlaubnis kann nicht (mehr) allein auf ein vom Betroffenen vorgelegtes, ca. vier Jahre altes negatives medizinisch-psychologische Gutachten gestützt werden, wenn die Fahrerlaubnisbehörde durch eine erneute Beibringungsanordnung zum Ausdruck gebracht hat, dass sie das Ergebnis des Gutachtens als möglicherweise überholt und jedenfalls nicht mehr hinreichend belastbar für eine Entziehung der Fahrerlaubnis wegen feststehender Ungeeignetheit ansieht. (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es kann dahinstehen, ob eine Verwirkung bei der Entziehung einer Fahrerlaubnis, die nicht im Ermessen der Fahrerlaubnisbehörde steht, vor Ablauf der Tilgungsfrist wegen Untätigkeit der Behörde überhaupt in Betracht kommt (vgl. dazu BayVGH BeckRS 2019, 15162 Rn. 19 und BeckRS 2019, 15158 Rn. 13, jeweils mwN), wenn die Behörde das Verfahren zwar über einen Zeitraum von annähernd drei Jahren nicht fortgeführt hat, aber keine Umstände vorliegen, die ein schutzwürdiges Vertrauen des Betroffenen darauf begründen würden, dass sie von fahrerlaubnisrechtlichen Maßnahmen nach der Trunkenheitsfahrt absehen würde. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 6 K 18.2545 2020-09-30 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 15.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung seiner Fahrerlaubnis (Klassen A, A1, B, BE, C1, C1E, M und L) und die Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins.
Mit Strafbefehl vom 31. Mai 2012 verurteilte das Amtsgericht München den Kläger wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe. Er sei am 9. April 2012 gegen 7:10 Uhr mit dem Fahrrad auf dem H …-Weg in M. gefahren, obwohl er infolge vorangegangenen Alkoholgenusses fahruntüchtig gewesen sei. Die entnommene Blutprobe habe eine Blutalkoholkonzentration von 1,73 ‰ ergeben. Hiergegen erhob der Kläger Einspruch, den er in der mündlichen Verhandlung am 10. Juli 2012 auf die Höhe des Tagessatzes beschränkte. Der als Zeuge geladene, aber noch nicht vernommene Polizeibeamte, der den Sachbericht über den Vorfall verfasst hatte, wurde daraufhin entlassen. Mit Urteil vom gleichen Tag setzte das Amtsgericht München unter Bezugnahme auf den im Übrigen rechtskräftigen Strafbefehl einen niedrigeren Tagessatz fest. Das Urteil ist seit dem 10. Juli 2012 rechtskräftig.
Mit Schreiben vom 3. Juli 2013 forderte die Beklagte den Kläger zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Fahreignungsgutachtens auf. Nach dem vom Kläger vorgelegten Gutachten der B … GmbH vom 17. Oktober 2013 (Versanddatum) ergab eine Haaranalyse übermäßigen Alkoholkonsum während der letzten drei Monate. Der Kläger habe sich nicht ausreichend offen gezeigt, die für eine ausreichende Problem- und Verhaltensanalyse notwendigen Hintergrundinformationen zu geben. Es liege eine Alkoholgefährdung (Hypothese 3) vor. Es sei zu erwarten, dass der Kläger zukünftig mit erhöhter Wahrscheinlichkeit auch mit einem Kraftfahrzeug unter Alkoholeinfluss im Straßenverkehr auffällig werde.
Über seine Prozessbevollmächtigten forderte der Kläger die B … GmbH ohne Erfolg auf, das Gutachten nachzubessern und eine positive Prognose zu erstellen. Nach der Ablehnung bat der Kläger die Beklagte um Zustimmung zur nochmaligen Begutachtung. Mit Schreiben vom 8. Juli 2014 leitete die Beklagte den Untersuchungsauftrag an die vom Kläger benannte A … GmbH weiter. Von dort kamen die Akten mit Schreiben vom 25. August 2014 in Rücklauf. Ein Gutachten legte der Kläger nicht vor.
Mit Schreiben vom 29. Juni 2017 teilte die Beklagte dem Kläger mit, aufgrund des Zeitablaufs werde ihm nochmals Gelegenheit gegeben, ein Gutachten zur Ausräumung der Fahreignungszweifel vorzulegen, und forderte ihn auf, dieses innerhalb von drei Monaten beizubringen. Nachdem der Kläger kein Gutachten vorgelegt hatte, entzog ihm die Beklagte mit Bescheid vom 15. Dezember 2017 ohne Anordnung des Sofortvollzugs die Fahrerlaubnis und verpflichtete ihn zur Abgabe des Führerscheins. Aus der Nichtvorlage des Gutachtens sei auf seine Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen zu schließen.
Gegen den Bescheid ließ der Kläger Widerspruch einlegen und zur Begründung unter anderem ausführen, er sei nicht auf dem Radweg, sondern lediglich ein kurzes Stück auf der Wiese neben dem Weg gefahren. Mit Widerspruchsbescheid vom 27. April 2018 wies die Regierung von Oberbayern den Widerspruch zurück.
Die hiergegen erhobene Klage, zu deren Begründung der Kläger nochmals angegeben hatte, er sei lediglich ein kurzes Stück mit dem Rad auf der Wiese rechts neben dem H …-Weg gefahren, hat das Verwaltungsgericht München mit Urteil vom 30. September 2020 abgewiesen. Die Beklagte habe dem Kläger zu Recht die Fahrerlaubnis entzogen, da er das geforderte medizinisch-psychologische Gutachten nicht beigebracht habe. Außerdem stehe seine Nichteignung aufgrund des negativen und nachvollziehbaren Gutachtens vom 17. Oktober 2013 fest, das eine neue und verwertbare Tatsache sei, die selbständige Bedeutung habe. Das spätere Vorbringen des Klägers, er sei nicht auf dem Fuß- und Radweg gefahren, sondern auf der daneben gelegenen Wiese, überzeuge nicht. Auch der Zeitablauf habe die Beklagte nicht an der Entziehung der Fahrerlaubnis gehindert. Trotz der Untätigkeit der Beklagten über einen Zeitraum von annähernd drei Jahren sei ein Vertrauenstatbestand nicht ersichtlich. Die Trunkenheitsfahrt sei sowohl im Zeitpunkt der Gutachtensanordnung wie auch noch bei Zustellung des Bescheids im Fahreignungsregister eingetragen gewesen. Von der Möglichkeit, die Entziehung der Fahrerlaubnis durch Beibringung des Gutachtens zu vermeiden, habe der Kläger keinen Gebrauch gemacht.
Zur Begründung des Antrags auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil, dem die Beklagte entgegentritt, macht der Kläger ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung geltend. Er habe mehrfach substantiiert vorgebracht, dass er nicht auf dem Fuß- und Radweg gefahren sei, sondern lediglich auf der danebengelegenen Wiese. Substantiierte Einwendungen gegen die Feststellungen des strafgerichtlichen Urteils müssten berücksichtigt werden. Die Formulierung „durch den Olympiapark“ sei in die polizeiliche Beschuldigtenvernehmung nur deshalb aufgenommen worden, weil er schon damals zum Ausdruck habe bringen wollen, dass er auf der Wiese und nicht auf dem Fuß- und Radweg gefahren sei. Im Strafverfahren habe er den Einspruch gegen den Strafbefehl auf die Tagessatzhöhe beschränkt. Zu diesem Zeitpunkt habe er keine Kenntnis davon gehabt, dass die strafgerichtlichen Feststellungen auch im Rahmen einer fahrerlaubnisrechtlichen Bewertung eine Rolle spielen könnten.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils liegen (nur) vor, wenn der Rechtsmittelführer einen tragenden Rechtssatz oder eine erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt (stRspr, vgl. BVerfG, B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – NVwZ 2016, 1243 Rn. 16; B.v. 18.6.2019 – 1 BvR 587/17 – DVBl 2019, 1400 Rn. 32, B.v. 16.4.2020 – 1 BvR 2705/16 – NVwZ-RR 2020, 905 Rn. 21 m.w.N.). Solche Zweifel ergeben sich aus der Antragsbegründung, auf die sich gemäß § 124a Abs. 5 Satz 2 VwGO die Prüfung im Zulassungsverfahren beschränkt (BayVerfGH, E.v. 14.2.2006 – Vf. 133-VI-04 – VerfGH 59, 47/52; E.v. 23.9.2015 – Vf. 38-VI-14 – BayVBl 2016, 49 Rn. 52; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Auflage 2019, § 124a Rn. 54), jedoch nicht.
a) Für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Fahrerlaubnisentziehung ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 11.4.2019 – 3 C 14.17 – BVerwGE 165, 215 Rn. 11 m.w.N.). Dies ist hier der Erlass des Widerspruchsbescheids vom 27. April 2018.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes vom 5. März 2003 (StVG, BGBl I S. 310), zum maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Gesetz vom 17. August 2017 (BGBl I S. 3202), und § 46 Abs. 1 Satz 1 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13. Dezember 2010 (Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980), zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Verordnung vom 2. Januar 2018 (BGBl I S. 2), hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV gilt dies insbesondere dann, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 zur FeV vorliegen oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde. Nach Nr. 8.1 der Anlage 4 zur FeV ist ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wer das Führen von Fahrzeugen und einen die Fahrsicherheit beeinträchtigenden Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher trennen kann (Alkoholmissbrauch).
Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeugs ungeeignet oder bedingt geeignet ist, finden die §§ 11 bis 14 FeV entsprechend Anwendung (§ 46 Abs. 3 FeV). Nach § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c FeV ist zur Klärung von Eignungszweifeln bei Alkoholproblematik ein medizinisch-psychologisches Gutachten anzuordnen, wenn der Betreffende ein Fahrzeug im Straßenverkehr bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 ‰ oder mehr oder einer Atemalkoholkonzentration von 0,8 mg/l oder mehr geführt hat. Darunter fällt auch die erstmalige Trunkenheitsfahrt mit einem Fahrrad (BVerwG, B.v. 20.6.2013 – 3 B 102.12 – NJW 2013, 2696 Rn. 5). Die Teilnahme am Straßenverkehr in erheblich alkoholisiertem Zustand stellt mit jedem Fahrzeug und somit auch mit einem Fahrrad eine gravierende Gefahr für die Sicherheit des Straßenverkehrs dar.
Weigert sich der Betroffene, sich untersuchen zu lassen, oder bringt er das zu Recht geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf die Fahrerlaubnisbehörde bei ihrer Entscheidung auf die Nichteignung schließen (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV). Der Schluss aus der Nichtvorlage eines angeforderten Fahreignungsgutachtens auf die fehlende Fahreignung ist gerechtfertigt, wenn die Anordnung formell und materiell rechtmäßig, insbesondere anlassbezogen und verhältnismäßig war (stRspr, vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2016 – 3 C 20.15 – BVerwGE 156, 293 Rn. 19 m.w.N.) und für die Nichtbeibringung des angeforderten Gutachtens kein ausreichender Grund besteht. Bei feststehender Ungeeignetheit ist die Entziehung der Fahrerlaubnis zwingend, ohne dass der Fahrerlaubnisbehörde ein Ermessensspielraum zukäme. Dies gilt auch bei Nichtvorlage eines zu Recht geforderten Fahreignungsgutachtens (stRspr, zuletzt BayVGH, B.v. 16.9.2020 – 11 CS 20.1061 – juris Rn. 16).
b) Anders als das Verwaltungsgericht und die Beklagte in ihrer Antragserwiderung vom 21. Januar 2021 ist der Senat allerdings der Auffassung, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht (mehr) allein auf das vom Kläger vorgelegte negative medizinisch-psychologische Gutachten der B** … … … GmbH vom 17. Oktober 2013 gestützt werden kann. Auch wenn das vorgelegte Gutachten grundsätzlich eine neue und berücksichtigungsfähige Tatsache darstellt (stRspr, vgl. nur BayVGH, B.v. 11.3.2020 – 11 ZB 19.2357 – juris Rn. 14; B.v. 5.11.2019 – 11 CS 19.1336 – juris Rn. 16 m.w.N.) und es auch nicht durch bloßen Zeitablauf unverwertbar geworden ist (vgl. insoweit auch § 2 Abs. 9 StVG), hat die Beklagte durch ihre erneute Beibringungsanordnung vom 29. Juni 2017 zum Ausdruck gebracht, dass sie das Ergebnis des Gutachtens als möglicherweise überholt und jedenfalls nicht mehr hinreichend belastbar für eine Entziehung der Fahrerlaubnis wegen feststehender Ungeeignetheit ansieht.
Zwar büßt das Gutachten seine Bedeutung nicht allein durch Zeitablauf vollständig ein. Allein aus der seit der Vorlage des Gutachtens verstrichenen Zeit ergibt sich nicht, dass die gebotene hinreichend stabile Änderung des damaligen, durch die Trunkenheitsfahrt belegten problematischen Trinkverhaltens des Klägers vorläge (vgl. insoweit die Anforderungen gemäß Nr. 8.2 der Anlage 4 zur FeV). Es ist nicht auszuschließen, dass der Kläger nur unter dem Druck des noch nicht abgeschlossenen fahrerlaubnisrechtlichen Verfahrens die Teilnahme am Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss unterlassen hat oder durch Zufall nicht mehr aufgefallen ist. Gleichwohl liegt auf der Hand, dass die gutachterlichen Befunde, die sich insbesondere auf den seinerzeit festgestellten Alkoholkonsum in den vorangegangenen drei Monaten und auf die nicht hinreichende Offenheit des Klägers bei der Befragung am 10. September 2013 gestützt haben, im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung am 27. April 2018, also nach mehr als viereinhalb Jahren, an Aktualität und damit an Belastbarkeit verloren haben. Auch die Beklagte war offenbar der Ansicht, die Entziehung der Fahrerlaubnis nicht mehr auf das Gutachten stützen zu können, sondern zunächst weitere Aufklärungsmaßnahmen durchführen zu müssen.
c) Das Ausgangsurteil begegnet jedoch insoweit keinen ernstlichen Zweifeln, als es die von der Beklagten verfügte Entziehung der Fahrerlaubnis unabhängig von der angenommenen Ungeeignetheit des Klägers zum Führen von Kraftfahrzeugen aufgrund des Gutachtens vom 17. Oktober 2013 entscheidungstragend auch wegen der Nichtbeibringung des zuletzt geforderten Gutachtens als rechtmäßig angesehen hat. Die Beklagte durfte vom Kläger die (nochmalige) Vorlage eines solchen Gutachtens verlangen und dabei den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt hinsichtlich der Trunkenheitsfahrt zugrunde legen.
Zwar konnte sie sich dabei hinsichtlich der Fahrt des Klägers mit dem Fahrrad auf dem H …-Weg nicht auf die Bindungswirkung des § 3 Abs. 4 StVG berufen, die eine Abweichung von den strafgerichtlichen Feststellungen nur zum Nachteil, nicht aber zum Vorteil des Fahrerlaubnisinhabers ausschließt. § 3 Abs. 4 StVG steht einer Abweichung von den Feststellungen des Sachverhalts im Strafverfahren zu Gunsten des Betroffenen nicht entgegen. Gleichwohl können die Fahrerlaubnisbehörden grundsätzlich von den für die Fahreignung relevanten strafrichterlichen Feststellungen ausgehen, sofern nicht ausnahmsweise gewichtige Anhaltspunkte für deren Unrichtigkeit bestehen, insbesondere neue Tatsachen oder Beweismittel als Wiederaufnahmegründe im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO vorliegen, die für die Unrichtigkeit der tatsächlichen Feststellungen im Strafurteil sprechen (BayVGH, B.v. 19.8.2019 – 11 ZB 19.1256 – Blutalkohol 56, 418 Rn. 13).
Solche gewichtigen Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen ergeben sich aus dem klägerischen Vorbringen nicht. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht ebenso wie die Beklagte zutreffend angenommen, dass der Kläger am 9. April 2012 mit dem Fahrrad auf dem Weg und nicht auf der daneben gelegenen Wiese gefahren ist. Die hiervon abweichende, erstmals im Widerspruchsverfahren vorgebrachte und nicht mehr überprüfbare Darlegung des Klägers ist als Schutzbehauptung anzusehen. Es erscheint lebensfremd, dass er eine strafgerichtliche und von ihm selbst in der damaligen mündlichen Verhandlung mit den Worten „Die Strafe geschieht mir recht“ (vgl. das von seinen Prozessbevollmächtigten mit der Antragsbegründung vom 4.12.2020 vorgelegte Sitzungsprotokoll vom 10.7.2012) kommentierte Verurteilung wegen einer Trunkenheitsfahrt mit dem Fahrrad auf öffentlichen Straßen hingenommen hätte, ohne sich in der Sache dagegen zu verteidigen, wenn er in Wahrheit das Rad auf dem Weg nur geschoben hat und lediglich auf der Wiese gefahren ist. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung im Strafverfahren auch nicht darauf hingewirkt, dass das Gericht oder sein Verteidiger den als Zeuge geladenen und anwesenden Polizeibeamten zum Geschehen befragt. Dieser hatte in seinem Sachbericht vom 10. April 2012 ausgeführt, sein Kollege und er hätten von der G …-Straße aus beobachtet, dass der Kläger mit seinem Fahrrad „den H …-Weg auf dem kombinierten Fuß-/Radweg vom R …-Platz kommend in westl. Richtung befuhr.“ Sowohl der Beobachtungspunkt als auch der fragliche Wegabschnitt liegen vom R …-Platz aus gesehen noch vor der Wiese, auf welcher der Kläger gefahren sein will. Dem polizeilichen Bericht zufolge fuhr der Fahrradfahrer „äußerst langsam, schwankte mit seinem Fahrrad immer wieder hin und her und machte dabei einen äußerst unsicheren Eindruck auf die Beamten. Ecke H …-Weg/L …-Weg wurde der Fahrradfahrer schließlich von den Beamten angehalten und einer Verkehrskontrolle unterzogen.“
Diese Darstellung, die nicht ansatzweise auf eine Fahrt außerhalb des Wegs schließen lässt, hat der Kläger nicht glaubhaft entkräftet. Im polizeilichen Bericht heißt es, nach seinen Angaben habe er „sein Fahrrad von Schwabing aus bis zum Olympiapark zu Fuß nach Hause geschoben und wäre erst kurz vor der Kontrolle durch die beiden Beamten aufgestiegen, um die letzten paar Hundert Meter am Olympiapark entlang auf dem kombinierten Fuß/Radweg nach Hause zu fahren.“ Diese Behauptung könne „von den Beamten weder bestätigt noch widerlegt werden, da der Besch. erst ca. 100 m vor seiner Anhaltung von den Beamten, auf seinem Fahrrad fahrend, festgestellt“ worden sei. Danach haben die Polizeibeamten beobachtet, dass der Kläger auf dem Weg gefahren ist. Dieser hatte in der Beschuldigtenvernehmung vom 9. April 2012 selbst erklärt: „Kurz bevor ich zu Hause angekommen war, bin ich die letzten Meter auf mein Fahrrad gestiegen und durch den Olympiapark geradelt, da ich dachte, dass ich hier nicht mehr auf öffentlichen Straßen unterwegs bin.“ Auch dies spricht für eine – wenn auch möglicherweise kurze – Fahrt mit dem Fahrrad auf dem Fuß- und Radweg. Gleiches gilt für die Einlassung des Klägers am 10. September 2013 gegenüber dem Gutachter im Rahmen seiner Befragung für das beizubringende medizinisch-psychologische Gutachten. Unter anderem hatte der Kläger angegeben (S. 14 des Gutachtens vom 17.10.2013): „Ich fuhr aber nur 10 Meter, da stand schon die Polizei hinter mir, die fuhren am Weg hinter mir.“ Wäre der bereits im Verwaltungsverfahren durchgehend anwaltlich vertretene Kläger nur auf der Wiese und nicht auf dem Fuß- und Radweg gefahren, wäre auch zu erwarten gewesen, dass er dies frühzeitig und nicht erst im Widerspruchsverfahren erstmals vorgetragen hätte.
Zusammenfassend mag zwar die Behauptung des Klägers zutreffen, das Fahrrad vom Verlassen des Lokals in der Maxvorstadt bis zum R …-Platz geschoben zu haben. Es bestehen aber keine begründeten Zweifel daran, dass er anschließend aufgestiegen und mit dem Rad auf dem H …-Weg und nicht auf der Wiese gefahren ist.
d) Die Beklagte hat ihre Befugnis, fahrerlaubnisrechtlich gegen den Kläger einzuschreiten, auch nicht verwirkt.
Zwar obliegt es der Fahrerlaubnisbehörde, die notwendigen Aufklärungsmaßnahmen bei Eignungszweifeln zügig einzuleiten und umgehend die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, wenn der Betreffende nicht hinreichend mitwirkt. Um andere Verkehrsteilnehmer vor ungeeigneten Fahrerlaubnisinhabern zu schützen, ist das Verfahren baldmöglichst abzuschließen. Es kann jedoch dahinstehen, ob eine Verwirkung bei der Entziehung einer Fahrerlaubnis, die nicht im Ermessen der Fahrerlaubnis steht, vor Ablauf der Tilgungsfrist wegen Untätigkeit der Behörde überhaupt in Betracht kommt (vgl. dazu BayVGH, B.v. 4.7.2019 – 11 CS 19.1041 – juris Rn. 19 und B.v. 10.7.2019 – 11 CS 19.1018 – juris Rn. 13, jeweils m.w.N.). Auch wenn die Beklagte das Verfahren über einen Zeitraum von annähernd drei Jahren nicht fortgeführt hat, liegen hier jedenfalls keine Umstände vor, die ein schutzwürdiges Vertrauen des Klägers darauf begründen würden, dass die Beklagte von fahrerlaubnisrechtlichen Maßnahmen nach der Trunkenheitsfahrt vom 9. April 2012 absehen würde. Selbst wenn die Beklagte das Verwaltungsverfahren nicht mit dem gebotenen Nachdruck betrieben hat, bedeutet das nicht, dass sie deshalb zum Schutz der Verkehrssicherheit erforderliche fahrerlaubnisrechtliche Maßnahmen zu unterlassen hätte. Sie hat dem Kläger aufgrund des Zeitablaufs nochmals die Möglichkeit eingeräumt, die Zweifel hinsichtlich seiner Fahreignung durch Beibringung eines aktuellen medizinisch-psychologischen Gutachtens auszuräumen. Diese Möglichkeit hat der Kläger jedoch nicht genutzt. Die Nichtbeibringung eines rechtmäßig angeordneten Gutachtens lässt daher den Rückschluss auf seine Nichteignung zu (§ 11 Abs. 8 Satz 1 FeV).
3. Als unterlegener Rechtsmittelführer hat der Kläger die Kosten des Verfahrens zu tragen (§ 154 Abs. 2 VwGO).
4. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3, § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes und der Empfehlung in Nr. 46.1, 46.3 und 46.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit.
5. Dieser Beschluss, mit dem die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig wird (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO), ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


Ähnliche Artikel


Nach oben