Verkehrsrecht

Fahrerlaubnis auf Probe, Entziehung der Fahrerlaubnis, Verstoß gegen verkehrsrechtliche Vorschriften, Erneute Zuwiderhandlung innerhalb einer neuen Probezeit nach vorangegangener Entziehung der Fahrerlaubnis, Nachvollziehbarkeit eines medizinisch-psychologischen Gutachtens

Aktenzeichen  11 CS 21.1767

Datum:
18.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 1936
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 2a Abs. 5 S. 5, § 3 Abs. 1 S. 1
FeV § 46 Abs. 1 S. 1

 

Leitsatz

Verfahrensgang

RO 8 S 21.543 2021-05-27 Bes VGREGENSBURG VG Regensburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 2.500,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich gegen die sofortige Vollziehbarkeit der Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen AM, B und L.
Am 2. März 2017 erteilte die Antragsgegnerin dem Antragsteller nach vorangegangener Entziehung wegen Verstoßes gegen das Gebot, den Konsum von Cannabis und das Führen von Kraftfahrzeugen zu trennen, die Fahrerlaubnis neu.
Vor Ablauf der Probezeit überschritt der Antragsteller am 18. Februar 2020 die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h außerhalb geschlossener Ortschaften um 48 km/h. Die Tat wurde mit rechtskräftigem Bußgeldbescheid als Ordnungswidrigkeit geahndet.
Nach einer auf § 2a Abs. 5 Satz 5 StVG gestützten Anordnung der Antragsgegnerin legte der Antragsteller ein medizinisch-psychologisches Gutachten der pima-mpu GmbH vom 16. Dezember 2020 vor. Dieses kommt zu dem Ergebnis, es sei zu erwarten, dass der Antragsteller auch zukünftig erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Bestimmungen verstoßen werde. Die Darstellung des Antragstellers, er habe allein am 18. Februar 2020 unter wesentlicher Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit am Straßenverkehr teilgenommen und sei ausgerechnet dieses eine Mal geblitzt worden, sei nicht plausibel. Deswegen lasse sich auch nicht einschätzen, inwiefern die von ihm genannten Verhaltensvorsätze hinsichtlich der weiteren Verkehrsteilnahme der Realität entsprächen.
Nach Anhörung entzog die Antragsgegnerin dem Antragsteller mit Bescheid vom 15. Februar 2021 die Fahrerlaubnis und forderte ihn unter Androhung eines Zwangsgelds auf, seinen Führerschein innerhalb von fünf Tagen nach Zustellung des Bescheids abzugeben. Ferner ordnete sie die sofortige Vollziehung dieser Verfügungen an. Nach dem Ergebnis des Gutachtens sei der Antragsteller ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen.
Hiergegen erhob der Antragsteller Klage (RO 8 K 21.544) und stellte zugleich einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, den das Verwaltungsgericht Regensburg mit Beschluss vom 27. Mai 2021 ablehnte. Die Klage bleibe voraussichtlich ohne Erfolg. Das vorgelegte Gutachten stelle eine neue Tatsache mit selbständiger Bedeutung dar, deren Verwertbarkeit nicht von der Rechtmäßigkeit der Gutachtensanordnung abhänge. Es verneine nachvollziehbar und in Übereinstimmung mit den Begutachtungsleitlinien die Eignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen.
Zur Begründung der hiergegen eingereichten Beschwerde, der die Antragsgegnerin entgegentritt, lässt der Antragsteller im Wesentlichen vorbringen, bei dem Vorfall vom 18. Februar 2020 handle es sich um einen einmaligen Verkehrsverstoß in Form eines Augenblicksversagens aufgrund der Nichtwahrnehmung der Geschwindigkeitsbegrenzung auf 80 km/h. Wenn der Gutachter diesen als Ausdruck einer verfestigten Fehleinstellung bewerte, lege er zu Unrecht ungeprüft einen Regelfall im Sinne der Nr. 3.17 der Begutachtungsleitlinien zu Grunde.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Instanzen und die vorgelegten Behördenakten verwiesen.
II.
Die Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Es kann dahinstehen, ob sich die Beschwerdebegründung hinreichend mit der angefochtenen Entscheidung auseinandersetzt und insoweit den Anforderungen des § 146 Abs. 4 Satz 3 VwGO genügt. Selbst wenn man von einer Erfüllung des Darlegungserfordernisses und damit einer zulässigen Beschwerde ausgeht, ist diese nicht begründet. Aus den im Beschwerdeverfahren vorgetragenen Gründen, auf deren Prüfung der Verwaltungsgerichtshof beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Sätze 1 und 6 VwGO), ergibt sich nicht, dass die Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu ändern und die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen bzw. anzuordnen wäre.
1. Geeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen ist, wer die notwendigen körperlichen und geistigen Anforderungen erfüllt und nicht erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder gegen Strafgesetze verstoßen hat (§ 2 Abs. 4 Satz 1 des Straßenverkehrsgesetzes [StVG] vom 5.3.2003 [BGBl I S. 310, 919], zum maßgeblichen Zeitpunkt des Bescheiderlasses zuletzt geändert durch Gesetz vom 3.12.2020 [BGBl I S. 2667], § 11 Abs. 1 Sätze 1 bis 3 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr vom 13.12.2010 [Fahrerlaubnis-Verordnung – FeV, BGBl I S. 1980], im maßgeblichen Zeitpunkt zuletzt geändert durch Verordnung vom 11.3.2019 [BGBl I S. 218]), zum Teil in Kraft getreten zum 1.1.2021).
Erweist sich jemand als ungeeignet oder nicht befähigt zum Führen von Kraftfahrzeugen, so hat ihm die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen (§ 3 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV). Begeht der Inhaber einer Fahrerlaubnis auf Probe, dem die Fahrerlaubnis nach vorangegangener Entziehung neu erteilt wird, innerhalb der neuen Probezeit erneut eine schwerwiegende oder zwei weniger schwerwiegende Zuwiderhandlungen, hat die Behörde in der Regel die Beibringung eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung anzuordnen (§ 2a Abs. 5 Sätze 4 und 5 StVG).
Legt der Betroffene das von ihm geforderte Gutachten vor, kann dieses unabhängig davon verwertet werden, ob die Anordnung gerechtfertigt war. Das Ergebnis des Gutachtens schafft eine neue Tatsache, die selbständige Bedeutung hat (vgl. BVerwG, U.v. 28.6.2012 – 3 C 30.11 – NJW 2012, 3669 = juris Rn. 23; U.v. 28.4.2010 – 3 C 2.10 – BVerwGE 137, 10 Rn. 27 ff.; BayVGH, U.v. 8.8.2016 – 11 B 16.595 – juris Rn. 24 m.w.N.; Dauer in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl. 2021, § 11 FeV Rn. 26).
2. Gemessen daran begegnet der angegriffene Bescheid, der die Fahreignung verneint und dabei dem Fahreignungsgutachten vom 16. Dezember 2020 folgt, keinen Bedenken. Die gegen die Verwertung des Gutachtens erhobenen Einwände greifen nicht durch.
Nach § 11 Abs. 5 FeV i.V.m. Nr. 2 Buchst. a Satz 1 der Anlage 4a zur FeV muss ein erstelltes Gutachten nachvollziehbar und nachprüfbar sein. Die Nachvollziehbarkeit erfordert nach Nr. 2 Buchst. a Satz 3 der Anlage 4a zur FeV die Wiedergabe aller wesentlichen Befunde sowie die Darstellung der zur Beurteilung führenden Schlussfolgerungen und setzt nach allgemeinen Grundsätzen weiterhin voraus, dass das Gutachten von zutreffenden tatsächlichen oder rechtlichen Voraussetzungen ausgeht und auch im Übrigen nicht mangelhaft ist (vgl. auch Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 98 Rn. 37; Zimmermann in MüKo ZPO, 6. Aufl. 2020, § 412 ZPO Rn. 2).
Diesen Anforderungen wird das Gutachten gerecht. Es nimmt zunächst überzeugend an, die erhebliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit am 18. Februar 2020 lasse auf eine verfestigte Fehleinstellung schließen. Die Erwägung, es sei schwer nachvollziehbar, dass jemand allein einmal wesentlich schneller als zulässig am Straßenverkehr teilnehme und ausgerechnet dabei auffalle, ist nicht zu beanstanden. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, entspricht sie der Annahme in Nr. 3.17 der Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung vom 27. Januar 2014 (Verkehrsblatt S. 110) in der Fassung vom 28. Oktober 2019 (Verkehrsblatt S. 775), aktenkundigen wiederholten oder erheblichen Verkehrsverstößen liege angesichts des geringen Entdeckungsrisikos in der Regel eine jahrelange Lerngeschichte und verfestigte Fehleinstellung zu Grunde. Im Übrigen geht die obergerichtliche Rechtsprechung auch in anderem Zusammenhang davon aus, dass die Entdeckung bei einem einmaligen Verstoß äußerst unwahrscheinlich ist und ein solcher Ausnahmefall daher substantiiert und plausibel darzulegen ist (vgl. BayVGH, B.v. 23.7.2021 – 11 CS 21.515 – juris Rn. 26; B.v. 25.6.2020 – 11 CS 20.791 – Blutalkohol 58, 300 = juris Rn. 23; OVG NW, U.v. 15.3.2017 – 16 A 432/17 – Blutalkohol 54, 328 = juris Rn. 47 ff. m.w.N.). Ob den Begutachtungsleitlinien normative Verbindlichkeit zukommt, kann folglich dahinstehen, da sie insoweit zumindest einen allgemeinen Erfahrungssatz wiedergeben (vgl. zu alldem auch Dauer in Hentschel/König/Dauer, § 11 FeV Rn. 20; Siegmund in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, Stand 9.12.2021, § 2 StVG Rn. 73).
Der Einwand, das Gutachten habe einen derartigen Regelfall ungeprüft zu Grunde gelegt, ist unbegründet. Wie das Verwaltungsgericht zutreffend dargelegt hat, hat der Gutachter durchaus eine Ausnahmekonstellation in Betracht gezogen, diese aber überzeugend verneint. Angesichts der gefahrenen Geschwindigkeit, welche die auf dem entsprechenden Streckenabschnitt zulässige Geschwindigkeit von 80 km/h, aber auch die ohne diese Beschränkung auf der Bundesstraße zulässige Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h erheblich überschreite, müsse davon ausgegangen werden, dass der Antragsteller die massive Überschreitung wahrgenommen habe. Zumindest an diesem Tag habe er seine eigenen Interessen über die gesetzlichen Regelungen gestellt, was für gewisse Einstellungsdefizite spreche. Dagegen ist nichts zu erinnern. Weiterhin wertet der Gutachter den Versuch des Antragstellers, die Überschreitung auch der Geschwindigkeit von 100 km/h mit beruflichem Stress zu erklären, nachvollziehbar als oberflächlich, denn damit ist gerade keine Ausnahmesituation und keine Tat mit persönlichkeitsfremden Zügen dargelegt. Der Verweis der Beschwerde auf ein Augenblicksversagen durch Übersehen des Tempo 80-Schildes ist nicht plausibel und bereits untauglich, die erhebliche Überschreitung der im Allgemeinen für Pkw außerhalb geschlossener Ortschaften geltenden zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h (§ 3 Abs. 3 Nr. 2 Buchst c StVO) zu erklären.
Dies zu Grunde gelegt sind die daraus gezogenen Schlussfolgerungen des Gutachtens nicht zu beanstanden. Ausgehend von der Frage, ob der Antragsteller die problematische Verhaltensweise erkannt, selbstkritisch aufgearbeitet und – im Sinne einer hinreichend gefestigten Änderung – abgestellt hat, nimmt es an, dies lasse sich nach den Angaben des Antragstellers nicht bejahen. Dieser habe entweder nicht hinreichend offen an dem Untersuchungsgespräch teilgenommen, so dass die für die Problem- und Verhaltensanalyse notwendigen Hintergrundinformationen fehlten, und/oder er habe sich mit seinem früheren Fahrverhalten noch nicht ausreichend auseinandergesetzt. Insgesamt seien seine Ausführungen, dass es sich bei dem Verkehrsdelikt am 18. Februar 2020 um eine einmalige Ausnahmesituation gehandelt habe, nicht überzeugend. Daher sei auch nicht abzuschätzen, inwieweit die genannten Verhaltensvorsätze der Realität entsprächen. Diese Erwägungen sind ohne Weiteres nachvollziehbar. Wenn der Antragsteller einen Mangel darin sieht, dass das Gutachten außer fehlender Offenheit unzureichende Selbstreflexion als Ursache für seine nicht überzeugende Darstellung in den Raum stellt, greift dies nicht durch. Dem Gutachten lässt sich, wie das Verwaltungsgericht zutreffend annimmt, entnehmen, dass es die gebotene Offenheit gegenüber dem Gutachter und damit eine belastbare Grundlage für die Prognose des zukünftigen Verkehrsverhaltens vermisst, und die Möglichkeit fehlender Selbstreflexion allein als kumulative bzw. hilfsweise Begründung in Betracht gezogen hat. Insoweit ist weder die Annahme hinreichender Offenheit zu beanstanden, zumal der Antragsteller nicht eindeutig eingeräumt hat, dass ihm zumindest die wesentliche Überschreitung von 100 km/h bewusst gewesen ist, noch der kumulative bzw. hilfsweise Verweis auf unzureichende selbstkritische Aufarbeitung. Im Übrigen erscheint es als Überlegung zu Gunsten des Antragstellers, wenn das Gutachten auch fehlende Selbstreflexion in Erwägung zieht.
3. Davon ausgehend hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, dass das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage überwiegt. Bei Kraftfahrern, denen die erforderliche Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeugs fehlt, ist das Erlassinteresse regelmäßig mit dem Vollzugsinteresse identisch (stRspr, vgl. BayVGH, B.v. 8.6.2021 – 11 CS 20.2342 – juris Rn. 17). Dem steht das von der Beschwerde angesprochene Interesse des Antragstellers am Führen von Kraftfahrzeugen nicht entgegen. Denn dem Schutz der Allgemeinheit vor Verkehrsgefährdungen kommt angesichts der Gefahren durch die Teilnahme ungeeigneter Kraftfahrer am Straßenverkehr besonderes Gewicht gegenüber den Nachteilen zu, die einem betroffenen Fahrerlaubnisinhaber in beruflicher oder in privater Hinsicht entstehen (vgl. BVerfG, B.v. 19.7.2007 – 1 BvR 305/07 – juris Rn. 6; B.v. 15.10.1998 – 2 BvQ 32/98 – BayVBl 99, 463 = juris Rn. 5, zu einer vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO; BayVGH, B.v. 17.2.2020 – 11 CS 19.2220 – juris Rn. 17; OVG NW, B.v. 22.5.2012 – B.v. 22.5.2012 – 16 B 536/12 – juris Rn. 33).
4. Die Beschwerde war demnach mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 2 VwGO zurückzuweisen. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. den Empfehlungen in Nr. 1.5 Satz 1, Nr. 46.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013.
5. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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