Verkehrsrecht

Haftungsverteilung bei Kollision zwischen einfahrendem und rückwärtsfahrendem Verkehrsteilnehmer

Aktenzeichen  19 O 10891/18

Datum:
29.4.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 31109
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StVO § 9 Abs. 5, § 10
StVG § 7, § 17
VVG § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1

 

Leitsatz

1. Kommt es im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Ein- bzw. Ausfahren aus einem Grundstück zur Kollision mit einem Fahrzeug, dessen Fahrer vom Straßenrand an- und unter Inanspruchnahme der Gegenfahrbahn rückwärts fährt, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Ein- bzw. Ausfahrenden. (Rn. 33) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zur Abwägung der Verschuldens- und Verursachungsbeiträge der Unfallbeteiligten in einem solchen Fall (hier Haftung von 70% zu 30% zu lasten des Einfahrenden). (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger weitere 142,80 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 14.04.2018, sowie außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren in Höhe von 887,02 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 27.08.2018 zu bezahlen.
II. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
III. Von den Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger 59 %, die Beklagten tragen als Gesamtschuldner 41 %.
IV. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Parteien können die Vollstreckung durch die jeweils andere Partei abwenden durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages, es sei denn die andere Partei leistet zuvor Sicherheit in gleicher Höhe.
Beschluss
Der Streitwert wird auf 7.087,38 € festgesetzt.

Gründe

Die zulässige Klage ist nur zu einem geringen Teil begründet.
Der Kläger hat einen weiteren Schadensersatzanspruch in Höhe von 142,80 € aus §§ 7, 17 StVG, 115 VVG gegen die Beklagten als Gesamtschuldner. Im Übrigen war die Klage abzuweisen.
Dem liegt eine Haftungsquote von 70 %:30 % zu Lasten des Klägers zugrunde.
Nach Anhörung der Parteien und Durchführung der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Zeugin … mit ihrem Fahrzeug bereits auf die K. straße teilweise eingefahren war, als es zur Kollision kam. Der Beklagte zu 1) fuhr vorkollisionär rückwärts auf der K. straße und zwar am linken Fahrbahnrand orientiert, also am Fahrbahnrand an den das Anwesen K.str. 76 angrenzt. Dass die Zeugin … bereits längere Zeit vor der Kollision gestanden hat, hat die Beweisaufnahme nicht zur Überzeugung des Gerichts ergeben.
Die Zeugin … schilderte dem Gericht, dass sie bereits 40 bis 50 cm in die Straße eingefahren gewesen sei, als es zur Kollision gekommen sei. Sie behauptet, dass sie mit Schrittgeschwindigkeit aus der Ausfahrt auf den Gehweg ausgefahren sei, stehen geblieben sei und sich versichert habe, dass die Straße hinter ihr frei sei. Sie sei dann mit 40 bis 50 cm mit dem Heck in die Straße eingefahren, jedoch stehen geblieben, da sie beobachtet habe, dass von der R. straße in die K. straße ein Junge mit einem Fahrrad eingebogen sei. Der Junge sei von der Straße auf den gegenüberliegenden Bürgersteig gefahren. Sie habe dann nach links geblickt, um sich über den Verkehr links hinter ihrem Fahrzeug zu vergewissern, dann habe sie nach rechts geblickt und nur noch einen Schatten von rechts kommen sehen und es sei zur Kollision gekommen. Im Zeitpunkt der Kollision habe sie gestanden. Die Zeitspanne zwischen dem Stehenbleiben und der Kollision könne sie nicht einschätzen.
Der Beklagte zu 1) bestätigt, dass er rückwärts auf der K. straße gefahren ist. Er habe auch gesehen, dass ein Junge auf der K. straße gefahren sei. Als er den Jungen registriert habe, sei er bereits rückwärts gefahren. Er habe den Jungen genau im Blick gehalten, um sicher zu gehen, dass dieser das rückwärtsfahrende Beklagtenfahrzeug auch sehe. Der Junge habe dann auf den Gehweg gewechselt. In diesem Moment habe es schon „gescheppert“. Er habe das klägerische Fahrzeug vor der Kollision überhaupt nicht wahrgenommen, weder in der Ausfahrt fahrend noch stehend. Er sei mit Schrittgeschwindigkeit gefahren. Nach der Kollision sei er vor Schreck geradeaus nach vorne gefahren und mit dem linken Vorderrad am linken Bordstein angestoßen.
Der dem Gericht aus einer Vielzahl von anderweitigen Verfahren als kompetent und zuverlässig bekannte Sachverständige … führt in seinem unfallanalytischen Gutachten zu den Sichtverhältnissen für einen Rückwärtsfahrenden aus der Ausfahrt K. straße 76 aus, dass eine uneingeschränkte Sicht des Fahrers auf die Straße gegeben sei, wenn das Fahrzeug bereits 30 bis 50 cm in die Fahrbahn eingefahren sei.
Aufgrund der Schäden könne ein Kollisionswinkel von ca. 100 Grad rekonstruiert werden.
Eine Gegenüberstellung der Fahrzeuge in der Kollisionsposition habe ergeben, dass das klägerische Fahrzeug im Zeitpunkt der Kollision mindestens 40 bis 50 cm in die Fahrbahn habe hineinragen müssen, andernfalls es nicht auf der Fahrbahn zur Kollision hätte kommen können.
Des Weiteren ergäbe sich aus den Beschädigungen an beiden Fahrzeugen, dass das klägerische Fahrzeug im Zeitpunkt der Kollision mit hoher Wahrscheinlichkeit gestanden sei. Die Rückfahrgeschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs könne im Bereich von 10 bis 13 km/h eingegrenzt werden.
Das Gericht folgt den sachverständigen Ausführungen, die auch für einen Laien gut nachvollziehbar und widerspruchsfrei sind. Anhaltspunkte für deren Unrichtigkeit haben sich für das Gericht nicht ergeben.
Damit steht entgegen der Unfallschilderung in der Klageschrift fest, dass das klägerische Fahrzeug bereits 40-50 cm in die K. straße eingefahren war, als es zur Kollision gekommen ist. Die Zeugin … räumt ein, mit dem Heck des klägerischen Fahrzeugs 40 – 5110 cm in die Fahrbahn hineingeragt zu haben. Nach den Ausführungen des Sachverständigen zu den Sichtverhältnissen der Zeugin muss sie das auch, andernfalls sie den Jungen auf der Fahrbahn nicht hätte sehen können. Mit dem 40 bis 50 cm in die Fahrbahn ragenden Heck des klägerischen Fahrzeugs lässt sich die Angabe des Beklagten zu 1), er sei im Anschluss an die streitgegenständliche Kollision vorwärts an den linken Bordstein der Fahrbahn gefahren, in Einklang bringen. Der Anstoß am linken Bordstein weist darauf hin, dass sich das Beklagtenfahrzeug vor der Kollision sehr weit links auf der Fahrbahn eingeordnet haben muss.
Damit steht fest, dass die Zeugin … vorkollisionär bereits 40-50 cm in die K. straße eingefahren war und der Beklagte zu 1) rückwärts linksorientiert auf der K. straße gefahren ist.
Damit spricht der Anscheinsbeweis gegen die Zeugin … aus § 10 StVO. Kommt es im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren zu einer Kollision mit dem fließenden Verkehr auf der Fahrbahn, so spricht der Beweis des ersten Anscheins für ein Verschulden des Ein- bzw. Ausfahrenden. Dieser Anscheinsbeweis konnte weder erschüttert werden durch den Kläger, noch steht ein Verschulden des Beklagten zu 1) fest.
Nicht nachgewiesen ist zur Überzeugung des Gerichts, dass die Zeugin … vor der Kollision bereits längere Zeit in der Kollisionsposition stand, so dass sich der Beklagte zu 1) auf das in die Fahrbahn hineinragende stehende Beklagtenfahrzeug bei umsichtiger Rückwärtsfahrt hätte einstellen können und müssen und er die Kollision dadurch hätte vermeiden können.
Der Sachverständige kann an Hand der Beschädigungen an den Fahrzeugen lediglich angeben, dass das klägerische Fahrzeug mit hoher Wahrscheinlichkeit im Zeitpunkt der Kollision stand, sicher feststellen konnte er dies jedoch nicht.
Selbst wenn das klägerische Fahrzeug im Zeitpunkt der Kollision gestanden hätte, würde jedoch nicht sicher feststehen, wie lange das klägerische Fahrzeug vor der Kollision bereits gestanden hätte und ob die Standzeit ausreichend lang genug gewesen wäre, so dass der Beklagte zu 1) auf das stehende Fahrzeug rechtzeitig hätte reagieren können. Die Zeugin … konnte ihre behauptete Standzeit nicht einschätzen. Dies ist im Hinblick auf das nicht verlässliche Zeitempfinden des Menschen nachvollziehbar. Es könnten auch keinerlei
Rückschlüsse auf eine behauptete Standzeit aufgrund der übereinstimmenden Schilderungen der beiden Unfallbeteiligten, ein Junge sei vor der Kollision auf der K. straße in westliche Richtung gefahren und dann auf den Gehweg gewechselt, gezogen werden. Es liegen keine gesicherten Erkenntnisse dazu vor, wie alt der Junge war, wie gut er Rad gefahren ist, wie schnell er aufgrund seines Alters und Fahrkenntnis fahren konnte und in der konkreten Situation gefahren ist. Auch steht nicht fest wo er in der traße auf den Gehweg überwechselte, welche Wegstrecke er als vor dem Überwechseln zurückgelegt hat. All diese Umstände stehen nicht fest, weshalb deshalb auch keine Rückschlüsse gezogen werden können, wie lange die Zeugin … nach ihren eigenen Angaben gestanden habe.
Damit steht nicht fest, dass das klägerische Fahrzeug vor der Kollision stand, selbst wenn es gestanden hätte, wüsste man nicht, wie lang es vorkollisionär gestanden hätte und ob sich der Beklagte auf das stehende Fahrzeug hätte einstellen können.
Verstöße des Beklagten zu 1) gegen seine Sorgfaltspflichten aus § 9 V StVO (Rückwärtsfahren) und § 10 StVO (Anfahren vom Fahrbahnrand/Parkplatz) liegen ebenfalls nicht vor. Beide Vorschriften dienen dem Schutz des fließenden Verkehrs und nicht dem in den fließenden Verkehr einfahrenden Verkehrsteilnehmern, wie die Zeugin … einer war.
Der Beklagte zu 1) durfte auf der K. straße rückwärtsfahren und dabei auch die Gegenfahrbahn in Anspruch nehmen. Die Zeugin … hatte den Vorrang des auf der Fahrbahn fahrenden Beklagtenfahrzeugs zu beachten. Allerdings ist die normale Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeugs aufgrund des Umstandes, dass der Beklagte zu 1) erst selbst kurz vor der Kollision aus der Parklücke ausgefahren war und in nicht zu erwartender, ungewöhnlichen Fahrweise, nämlich unter Inanspruchnahme der Gegenfahrbahn, rückwärts gefahren ist, erhöht, weshalb das Gericht bei Abwägung sämtlicher Verschuldens- und Verursachungsbeiträge zu einer Haftung von 70 %:30 % zu Lasten der Klagepartei gelangt.
Unter Zugrundelegung dieser Haftungsquote hat der Kläger noch einen Anspruch in Höhe von 142,80 € gegen die Beklagten als Gesamtschuldner.
30 % der Mietwagenkosten belaufen sich auf € 1.142,40. Die Beklagte zu 2) hat auf die Mietwagenkosten bereits € 1.267,54 gezahlt. Auf die Unkostenpauschale wurden bereits € 10,00 gezahlt. Damit bestehen insoweit keine weiteren Ansprüche mehr.
Nicht beglichen ist bislang die begehrte Nutzungsausfallentschädigung.
Der Kläger gab gegenüber dem Gericht glaubhaft an, nur über ein Privatfahrzeug zu verfügen. Er hat seinen Nutzungswillen durch Inanspruchnahme eines Mietfahrzeuges unter Beweis gestellt, weshalb Nutzungsausfallentschädigung ab dem 28.09.2017 bis zum 01.10.2017 zu gewähren ist. Für den Unfalltag selber fällt nach ständiger Rechtsprechung des LG München I keine Nutzungsausfallentschädigung an, da der Unfall sich am frühen Abend um 16.30 Uhr ereignete. Die Höhe der täglichen Nutzungsausfallentschädigung ist nicht bestritten. Damit ergibt sich ein Nutzungsausfall in Höhe von 476,00 €. 30 % hieraus belaufen sich auf 142,80 €.
Der begehrte Prämienschaden ist nicht zu erstatten. Der Kläger behauptet seitens der Kaskoversicherung des Klägers sei aufgrund des Unfalls eine höhere Prämie berechnet worden. Allerdings ergibt sich aus Anlage K 12, dass nicht der Kläger sondern seine Ehefrau das Fahrzeug kaskoversichert und damit Versicherungsnehmerin ist. Damit tritt der Prämienschaden nicht beim Kläger ein. Ein Fall der Drittschadensliquidation liegt nicht vor. Der Feststellungsantrag ist demnach auch unbegründet, da der Kläger hinsichtlich des Prämienschadens nicht Geschädigter ist.
Außergerichtliche Anwaltskosten sind zu erstatten. Mit anwaltlichen Schreiben vom 06.10.2017 (Anlage K13), E-Mail vom 16.11.2017 (Anlage K14) und E-Mail vom 19. Februar 2018 (Anlage K15) hat der Kläger die Schadensersatzansprüche geltend gemacht. Der Kläger hat damit Anspruch auf Erstattung außergerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe einer 1,3 Geschäftsgebühr aus dem berechtigt geltend gemachten Betrag zuzüglich Unkostenpauschale in Höhe von € 20,00 und Mehrwertsteuer. Der außergerichtlich berechtigt geltend gemachte Betrag beläuft sich dabei aus der Summe der unstreitigen Reparaturkosten, der Wertminderung, der Sachverständigenkosten, der Mietwagenkosten, einer viertägigen Nutzungsausfallentschädigung und einer Pauschale, die nach ständiger Rechtsprechung des Landgerichts auf € 25,00 geschätzt wird. 30 % aus € 33.150,70 belaufen sich auf € 9.945,21. Eine 1,3 Geschäftsgebühr zuzüglich Unkostenpauschale in Höhe von 20,00 € und Mehrwertsteuer beläuft sich auf € 887,02.
Zinsen waren antragsgemäß zuzusprechen. Mit den oben genannten E-mails hat der Kläger seine Ansprüche geltend gemacht. Unter Berücksichtigung einer der Beklagten zu 2) einzuräumenden vierwöchigen Prüffrist befanden sich die Beklagten am 14.04.2018 in Verzug.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 91, 92 ZPO. Soweit die Beklagte zu 2) nach Klageerhebung die Ansprüche reguliert hat, und die Parteien übereinstimmend für erledigt erklärt haben, haben die Beklagten auch die Kosten zu tragen, da die Ansprüche berechtigt geltend gemacht wurden.
Der Streitwert wurde gem. § 3 ZPO festgesetzt. Der Feststellungsantrag wurde dabei antragsgemäß mit 1.174,22 € bewertet.
Verkündet am 29.04.2019


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