Verkehrsrecht

Kollision beim Spurwechsel im Reißverschlussverfahren – Anscheinsbeweis und Haftungsverteilung

Aktenzeichen  12 O 3303/16

Datum:
14.10.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München II
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StVO StVO § 1 Abs. 2, § 7 Abs. 4, Abs. 5 S. 1
StVG StVG § 7 Abs. 1, § 17 Abs. 1, Abs. 2, § 18 Abs. 1 S. 1
AuslPflVG AuslPflVG § 6 Abs. 1
PflVG PflVG § 3 Nr. 1

 

Leitsatz

1. Kommt es im Zusammenhang mit einem Spurwechsel im Reißverschlussverfahren iSv § 7 Abs. 4 StVO zu einer Kollision zwischen dem die Spur wechselnden und einem sich auf dem durchgehenden Fahrstreifen befindlichen Fahrzeug, spricht der Anscheinsbeweis für eine Verursachung und schuldhafte Herbeiführung der Kollision durch den Spurwechsler (Anschluss an OLG Düsseldorf BeckRS 2014, 21934 Rn. 33). (redaktioneller Leitsatz)
2. Zu den Anforderungen an eine Erschütterung dieses Anscheinsbeweises (hier bejaht; verneint – nachgehend – durch OLG München BeckRS 2017, 107790). (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 3.734,65 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 04.11.2014 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 413,64 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 06.08.2016 zu zahlen.
3. Von den Kosten des Rechtsstreits haben die Klägerin 40% und der Beklagte 60% zu tragen.
4. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage ist teilweise begründet.
Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von insgesamt 3.734,65 € (nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten) aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 S. 1 StVG, 6 Abs. 1 AuslPflVG, 3 Nr. 1 PflVG zu.
1. Der Beklagte haftet aus §§ 6 Abs. 1 AuslPflVG, 3 Nr. 1 PflVG, 10 Abs. 1 b AKB.
Die Direktklage gegen den Beklagten setzt voraus, dass ein Schadensersatzanspruch geltend gemacht wird, der im Rahmen der Kraftfahrzeughaftpflichtversicherung durch den Beklagten gedeckt werden muss. Hierbei deckt sich der Haftungsumfang des Beklagten aufgrund des Auslandspflichtversicherungsgesetzes mit dem Pflichtversicherungsgesetz. Es ergeben sich insoweit keine Abweichungen. Die formalen Voraussetzungen für eine Haftung des Beklagten sind erfüllt, da der in den Unfall verwickelte Lkw ein amtliches Autokennzeichen der Niederlande besaß.
2. Das Fahrzeug der Klägerin wurde beim Betrieb des Lkw beschädigt. Deswegen greifen grundsätzlich die Haftungsnormen der §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 S. 1 StVG.
Eine Haftungsentlastung gemäß § 7 Abs. 2 StVG ist nicht ersichtlich und vom Beklagten auch nicht vorgebracht.
3. Doch haftet auch die Klägerin für die Folgen des Unfalls, da sich dieser auch beim Betrieb ihres Kraftfahrzeugs ereignet hat, § 7 Abs. 1 StVG. Auch die Klägerin hat keine Anhaltspunkte dafür vorgetragen, dass die Voraussetzungen des § 7 Abs. 2 StVG zu ihren Gunsten vorlägen.
4. Da der Schaden am Pkw der Klägerin durch mehrere Kraftfahrzeuge verursacht wurde, hängt der Umfang der Ersatzpflicht von den Umständen des Einzelfalls, insbesondere aber davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht wurde (§ 17 Abs. 1-3 StVG). Da nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme keine Parteien der jeweils anderen ein Verschulden des jeweiligen Fahrzeugführers nachweisen konnte, so dass auf beiden Seiten lediglich die Betriebsgefahr, die als gleich groß zu bewerten ist, bestehen bleibt.
4.1. Entkräftung Anscheinsbeweis Zutreffend gehen beide Parteien davon aus, dass vorliegend der Zeuge Dr. T. den Fahrstreifenwechsel entsprechend § 7 Abs. 4 StVO im „Reißverschlussverfahren“ durchzuführen hatte. Das Gericht geht davon aus, dass auch bei Durchführung des Reißverschlussverfahrens der Anscheinsbeweis für Verursachung und schuldhafte Herbeiführung einer Kollision gegen denjenigen spricht, der die Fahrspur wechseln muss (vgl. zuletzt und statt vieler: OLG Düsseldorf: Urteil vom 22.07.2014 – 1 U 152/13).
Diesen Anscheinsbeweis konnte die Klägerin durch die Aussage des Zeugen Dr. T. erschüttern. Der Zeuge Dr. T. hat glaubhaft bekundet, dass er sein eigenes Fahrzeug bei der Klägerin zur Inspektion gab und von dieser das Unfallfahrzeug zur Benutzung für den Zeitraum der Inspektion überlassen erhalten hat. Der Zeuge Dr. T. gab glaubhaft an, dass er zunächst von der linken Fahrspur auf die mittlere Fahrspur gewechselt sei und sodann rechts geblinkt, über die rechte Schulter nach hinten in den Außenspiegel geschaut habe und dann von der mittleren auf die rechte Fahrspur gewechselt sei. Der vor ihm Fahrende sei etwa 3-5 m von ihm entfernt gewesen. Er habe aber den vollständigen Fahrstreifenwechsel nicht vollziehen können, da der Verkehr gestockt habe. Er sei etwa zu 2/3 bereits auf der mittleren Spur gewesen, als der Lkw mit seinem Fahrzeug kollidiert sei. Zum Zeitpunkt der Kollision sei sein Pkw gestanden.
Die Angaben des Zeugen Dr. T. sind in jeder Hinsicht glaubhaft. Der Zeuge hat nachvollziehbar und lebensnah seine Angaben gemacht. Er war unaufgeregt und sachlich. Es gab keine Anhaltspunkte, dass er zum Nachteil des Beklagten versuchte, seine Beteiligung am Unfall zu bagatellisieren.
4.2. Kein Verschuldensnachweis gegenüber Lkw-Fahrer Allerdings ist der Klägerin der Nachweis, dass den Fahrer des Lkw ein Verschulden am Zustandekommen des Unfalls trifft, nicht gelungen.
Ein Verschulden des Fahrers des Lkw würde voraussetzen, dass dieser gegen § 1 Abs. 2 StVO (mangelnde Aufmerksamkeit) oder gegen § 7 Abs. 4 StVO verstoßen hat. Die Voraussetzungen beider Normen liegen nicht vor. Denn ein Verschulden des Lkw-Fahrers wäre nur dann denkbar, wenn zwischen dem Lkw und dem Pkw Porsche bei Beginn dessen Spurwechsels eine erhebliche Wegstrecke gelegen hätte, so dass das Auffahren des Lkw auf den Porsche entweder auf mangelnde Aufmerksamkeit des Lkw-Fahrers oder auf dem Beharren auf seinem Vorrecht zurückzuführen sei. Der Zeuge Dr. T. konnte aber gerade nicht bekunden, in welchem Abstand sich der Lkw zu seinem Pkw befand, als er durch den Schulterblick und den Blick in den rechten Außenspiegel sich vergewissert hatte, dass er mit dem Fahrstreifenwechsel beginnen konnte. Er konnte zu diesem Abstand noch nicht einmal ein ungefähre Angabe machen. Auch insoweit sind die Angaben des Zeugen Dr. T. in jeder Hinsicht glaubhaft.
4.3. Keine Vernehmung des Lkw-Fahrers als Zeugen
Einer Vernehmung des von dem Beklagten benannten Zeugen J. B., Fahrer des Lkw zum Unfallzeitpunkt, bedurfte es nicht, da dieses Beweisangebot als Verteidigungsmittel gemäß §§ 296 Abs. 1, 276 Abs. 1 S. 2 ZPO wegen Verspätung zurückzuweisen ist.
– Es wurde schriftliches Vorverfahren angeordnet. Die Klageerwiderungsfrist betrug zwei Wochen. Die Zustellung der Klage erfolgte am 05.08.2016. Die Klageerwiderungsfrist lief am 02.09.2016 ab. Der Schriftsatz des Beklagtenvertreters vom 11.10.2016, mit dem erstmals das Beweisangebot unterbreitet wurde, ging am selben Tag, also nach Ablauf der Klageerwiderungsfrist, beim Landgericht München II ein. Er war damit verspätet.
– Die Zulassung hätte das Verfahren auch verzögert, da eine Ladung des Zeugen in den Niederlanden am 11.10.2016 zum Termin vom 14.10.2016 nicht mehr möglich gewesen ist. Deswegen wäre zur Vernehmung des Zeugen B. ein neuer Termin notwendig gewesen. Dies hätte den Rechtsstreit verzögert.
– Der Beklagte hat die Verzögerung auch nicht hinreichend entschuldigt. Der Beklagtenvertreter wurde zum Zeitpunkt des Einreichens des Schriftsatzes und Abgabe des Beweisangebots der Zeugenvernehmung im Termin vom 14.10.2016 befragt und angehört. Er konnte nur angeben, dass er erst an dem Tag, an dem er den Schriftsatz gefertigt habe, vom Beklagten die Daten des Zeugen erhalten habe. Dies stellt gerade keine hinreichende Entschuldigung dar. Vielmehr belegt es ein Verschulden des Beklagten – nicht des Beklagtenvertreters – an der verspäteten Benennung des Verteidigungsmittels.
4.4. Haftungsquote
Das Gericht erachtet die Betriebsgefahren von beiden Fahrzeugen zum Unfallzeitpunkt als gleich groß, so dass sich eine Quote von 50% zu 50% ergibt.
Grundsätzlich ist zwar denkbar, dass von einem Lkw eine höhere Betriebsgefahr ausgeht. Dass diese sich jedoch vorliegend im Unfall realisiert hat, ist nicht ersichtlich. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung der Umstände, dass der Lkw durchgehend die rechte Fahrspur befahren hat und die Geschwindigkeiten aller Fahrzeuge auf der mittleren und der rechten Fahrspur sehr gering gewesen ist. Der Zeuge Dr. T. gab an, dass ein Stop-and-go-Verkehr stattgefunden habe. In einem derartigen Fall geht auch von einem Lkw keine größere Betriebsgefahr aus als von einem Pkw.
5. Schadenshöhe
Die gesamte Schadenshöhe der Klägerin ist mit 7.469,30 € unstreitig.
Die Hälfte hiervon ergibt den zugesprochenen Betrag in Höhe von 3.734,65 €.
6. Zinsen
Der Zinsanspruch aus dem Hauptsachebetrag folgt aus §§ 280 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 286 Abs. 1 S. 1 BGB. Der Verzug ist schlüssig dargetan.
7. Vorgerichtliche Anwaltskosten
Die vorgerichtlichen Anwaltskosten sind mit 413,64 € auf der Grundlage der oben genannten Anspruchsgrundlagen zuzusprechen.
Der Höhe nach berechnen sich die Anwaltskosten jeweils nur aus einem Streitwert von 3.734,00 € mit einer 1,3 Gebühr (netto 327,60 €). Unter Berücksichtigung der Kommunikationspauschale von 20,00 € und der Umsatzsteuer ergibt sich der zugesprochene Betrag.
Der Zinsanspruch aus den Anwaltskosten folgt aus §§ 280 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 286 Abs. 1 S. 2, 288 Abs. 1 BGB.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO.
Vorläufige Vollstreckbarkeit: § 709 S. 2 ZPO.
Aschenbrenner Vorsitzender Richter am Landgericht


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