Verkehrsrecht

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Aktenzeichen  M 6 S 20.4998

Datum:
4.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 6333
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
StVG § 4 Abs. 5 S. 1 Nr. 3
StVG § 4 Abs. 5 S. 5

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf EUR 10.000,00 festgesetzt

Gründe

I.
Der 1982 geborene Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die sofort vollziehbare Entziehung seiner Fahrerlaubnis der Klassen A (79.03, 79.04), A1 (79.03, 79.04), AM, B, BE (79.06), C1, C1E, L und T sowie der Fahrerlaubnis zur Fahrgastbeförderung.
Mit Schreiben vom 3. Januar 2019 teilte das Kraftfahrtbundesamt der Fahrerlaubnisbehörde mit, dass für den Antragsteller folgende Eintragungen im Fahreignungsregister enthalten seien:
Datum der
– Tat
Entscheidung
– Rechtskraft
Verkehrszuwiderhandlung
Punkte
…11.2017
…12.2017
…01.2018
Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 22 km/h.
Zulässige Geschwindigkeit: 120 km/h.
Festgestellte Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug): 142 km/h.
1
…03.2018
…09.2018
…09.2018
Sie wendeten auf der durchgehenden Fahrbahn der
2
…09.2018
…11.2018
…12.2018
Sie benutzten als Führer des Kraftfahrzeuges ein elektronisches Gerät, das der Kommunikation, Information oder Organisation dient oder zu dienen bestimmt ist, in vorschriftswidriger Weise
1
Hierauf ermahnte die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller mit Schreiben vom 22. Januar 2019 nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 StVG wegen des Erreichens von vier Punkten. In diesem Schreiben wurde der Antragsteller darauf hingewiesen, dass er freiwillig ein Fahreignungsseminar besuchen könne, um einen Punkt abzubauen. Ausweislich der Postzustellungsurkunde wurde dieses Schreiben am 24. Januar 2019 zugestellt.
Mit Schreiben vom 21. Januar 2020 teilte das Kraftfahrtbundesamt der Fahrerlaubnisbehörde mit, dass für den Antragsteller neben der Ermahnung folgende weitere Eintragungen im Fahreignungsregister enthalten seien:
Datum der
– Tat
Entscheidung
– Rechtskraft
Verkehrszuwiderhandlung
Punkte
…11.2018
…12.2018
…01.2019
Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 221 km/h.
Zulässige Geschwindigkeit: 60 km/h.
Festgestellte Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug): 81 km/h.
1
…10.2019
…12.2019
…12.2019
Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 33 km/h.
Zulässige Geschwindigkeit: 120 km/h.
Festgestellte Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug): 153 km/h
1
Mit Schreiben vom 30. Januar 2020 verwarnte daraufhin die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 StVG, da sich für ihn ein Punktestand von sechs Punkten ergeben habe. In diesem Schreiben wurde der Antragsteller darauf hingewiesen, dass freiwillig ein Fahreignungsseminar (ohne Punktabzug) durchgeführt werden könne und ab acht Punkten die Fahrerlaubnis zu entziehen sei. Ausweislich der Postzustellungsurkunde wurde dieses Schreiben am 1. Februar 2020 zugestellt.
Mit Schreiben vom 25. März 2020 teilte das Kraftfahrtbundesamt der Fahrerlaubnisbehörde mit, dass für den Antragsteller neben der Verwarnung folgende weitere Eintragungen im Fahreignungsregister enthalten seien:
Datum der
– Tat
Entscheidung
– Rechtskraft
Verkehrszuwiderhandlung
Punkte
…04.2019
…05.2019
…12.2019
Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 46 km/h.
Zulässige Geschwindigkeit: 50 km/h.
Festgestellte Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug): 96 km/h.
2
…08.2019
…02.2020
…03.2020
Sie überschritten die zulässige Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 26 km/h.
Zulässige Geschwindigkeit: 100 km/h.
Festgestellte Geschwindigkeit (nach Toleranzabzug): 126 km/h.
1
Mit Schreiben vom 24. Juni 2020 hörte die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller zur beabsichtigten Entziehung seiner Fahrerlaubnis an, da dieser neun Punkte erreicht habe.
Mit Schreiben vom 9. Juli 2020 beantragte der Bevollmächtigte des Antragstellers dem Punktestand auf sieben Punkte herabzusetzen. Zur Begründung wurde vorgetragen, dass der Antragsteller mit Schreiben vom 30. Januar 2020 wegen eines Punktestandes von sechs Punkten letztmalig verwarnt wurde. Zu diesem Zeitpunkt habe der Antragsteller jedoch bereits acht Punkte gehabt und nach dem Schreiben keine weitere Ordnungswidrigkeit begangen.
Zudem habe der Antragsteller das Schreiben vom 22. Januar 2019 (Ermahnung) nicht erhalten. Dieser hätte sonst am freiwilligen Fahreignungsseminar teilgenommen, da er beruflich dringend auf die Fahrerlaubnis angewiesen sei. Der vollständige Name des Antragstellers sei A … … … … Am Briefkasten sei zwar der Name A … angegeben, jedoch seien oftmals Briefträger nicht in der Lage zu erkennen, dass der Hauptname des Antragstellers A … ist. Den Antragsteller hätten deshalb oft bereits wichtige Schreiben nicht erreicht.
Mit Schriftsatz vom 16. Juli 2020 fragte der Bevollmächtigte des Antragstellers bei der Fahrerlaubnisbehörde an, wann diese vor dem Schreiben vom 30. Januar 2020 (Verwarnung) letztmalig den Punktestand des Antragstellers angefragt habe.
Mit Schreiben vom 20. Juli 2020 entgegnete diese, dass die Punktestufen automatisch durch das Kraftfahrtbundesamt übermittelt werden. Eine weitere Abfrage sei nicht erfolgt.
Mit Schriftsatz vom 28. Juli 2020 ergänzte der Bevollmächtigte des Antragstellers seinen Vortrag mit Rechtsprechung zum Tattagsprinzip.
Mit Bescheid vom 8. September 2020 entzog die Fahrerlaubnisbehörde dem Antragsteller die Fahrerlaubnis aller Klassen (Nr. 1 des Bescheids), forderte ihn unter Fristsetzung von einer Woche auf, den Führerschein bei der Fahrerlaubnisbehörde abzugeben (Nr. 2) und drohte für den Fall der nicht fristgerechten Abgabe des Führerscheins ein Zwangsgeld in Höhe von EUR 1.000,00 an (Nr. 3). Die sofortige Vollziehung der Nummer 2 des Bescheids wurde angeordnet (Nr. 4). Die Nrn. 5 und 6 enthalten die Kostenentscheidung.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dem Antragsteller sei gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG die Fahrerlaubnis zu entziehen, weil er einen Punktestand von mindestens acht Punkten erreicht habe. Die Stufenregelung des § 4 Abs. 6 StVG sei beachtet worden: Der Antragsteller sei beim Stand von vier Punkten ermahnt und bei einem solchen von sechs Punkten verwarnt worden. Die Zustellung der Ermahnung ergebe sich aus der Postzustellungsurkunde vom 24. Januar 2019.
Mit der Tat vom … April 2019, rechtskräftig seit 11. Dezember 2019, habe der Antragsteller einen Punktestand von acht Punkten erreicht. Eine nach dem Erreichen von acht Punkten eintretende Punktetilgung sei für die Rechtmäßigkeit der Fahrerlaubnisentziehung nicht relevant. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Nr. 2 des Bescheids (Verpflichtung zur Abgabe des Führerscheins) wurde damit begründet, im Interesse der Verkehrssicherheit sei sicherzustellen, dass nach der kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Entziehung der Fahrerlaubnis das Führerscheindokument ab sofort nicht zur Vortäuschung einer bestehenden Fahrerlaubnis benutzt werden könne.
Mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2020, eingegangen beim Bayerischen Verwaltungsgericht München am 8. Oktober 2020, erhob der Bevollmächtigte des Antragstellers für diesen Klage und beantragte zugleich,
die aufschiebende Wirkung der Klage wird angeordnet.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen – wie im Verwaltungsverfahren – ausgeführt, dass der Antragsteller zum Zeitpunkt der Verwarnung bereits acht Punkte gehabt habe. Bei Ergreifen der Maßnahme sei der tatsächliche Punktewert maßgeblich und nicht der Kenntnisstand der Behörde. Der Antragsteller hätte somit nach dem 11. Dezember 2019 mit einem Punktestand von (herabgesetzt) sieben Punkten verwarnt werden müssen. Darüber hinaus wurde eine eidesstattliche Versicherung der Ehefrau des Antragstellers vom … Oktober 2020 vorgelegt, in der diese ausschließt, dass sich Mitte/Ende Januar 2019 ein Ermahnungsschreiben im Briefkasten befunden habe. Die Ehefrau leere den Briefkasten und könne auch bestätigen, dass bereits vielfach andere Schreiben nicht eingeworfen worden seien. Zudem wurden fünf Lichtbilder vom Briefkasten und Klingelschild des Antragstellers beigefügt. Auf diesen ist sowohl auf dem zum Briefkasten gehörenden Schild, als auch auf der Klappe des Briefkastens selbst mittels Aufkleber der Name „A …“ zu sehen sowie der Name der Ehefrau des Antragstellers (auf der Klappe des Briefkastens ebenfalls mittels Aufkleber).
Mit Schriftsatz vom 5. November 2020 beantragte die Antragsgegnerin,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Maßnahmen seien ordnungsgemäß durchgeführt worden. Die Zustellung der Ermahnung erfolgte mittels Postzustellungsurkunde. Ein Rücklauf/Rückgabe des Schreibens durch die Post erfolgte nicht. Außerdem sei am 27. Februar 2019 die für die Ermahnung erhobene Gebühr beglichen worden. Der Vortrag des Antragstellers sei daher nicht nachvollziehbar.
Die Taten vom … April 2019 und … August 2019 seien der Antragsgegnerin erst durch Mitteilung des Kraftfahrt Bundesamtes vom 25. März 2020 bekannt geworden. Zum Zeitpunkt der Verwarnung seien diese nicht zu berücksichtigen gewesen.
Mit Schriftsatz vom 11. November 2020 wiederholte der Bevollmächtigte des Antragstellers die Stellung des Antrags im einstweiligen Rechtsschutz. Nach telefonischer Rückfrage von Seiten des Gerichts erklärte der Bevollmächtigte, dass der Schriftsatz als Antragsbegründung gemeint sei.
Mit Beschluss vom 12. Januar 2021 wurde der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen (§ 6 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO -).
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird ergänzend auf die Gerichtsakte in diesem Verfahren und im Verfahren M 6 K 20.4992 sowie auf die vorgelegte Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO bleibt ohne Erfolg.
Der nicht zwischen den einzelnen Nummern des Bescheides differenzierende Antrag ist zunächst gemäß § 122 Abs. 1, § 88 VwGO dahingehend auszulegen, dass der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage hinsichtlich der kraft Gesetzes sofort vollziehbaren Entziehung der Fahrerlaubnis (vgl. § 4 Abs. 9 Straßenverkehrsgesetz – StVG -) und Zwangsgeldandrohung (vgl. Art. 21a Satz 1 Bayerisches Verwaltungszustellungs- und Vollstreckungsgesetz) sowie die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage hinsichtlich der für sofort vollziehbar erklärten Verpflichtung zur Abgabe seines Führerscheins begehrt. Hinsichtlich der Kostenentscheidung liegen die Voraussetzungen des § 80 Abs. 6 VwGO und damit ein Rechtsschutzbedürfnis nicht vor, sodass das Gericht im wohlverstandenen Interesse des Antragstellers nicht von einer Einbeziehung ausgeht.
Der so verstandene Antrag ist zulässig, aber unbegründet.
Bei der Entscheidung über den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat das Gericht eine eigenständige Interessenabwägung vorzunehmen. Abzuwägen ist das Interesse des Antragstellers, zumindest vorläufig von seiner Fahrerlaubnis weiter gebrauchen machen zu können, gegen das Interesse der Allgemeinheit daran, dass dies unverzüglich unterbunden wird. Bei dieser Abwägung sind insbesondere die Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsbehelfs – hier der Klage vom 8. Oktober 2020 – zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO allein mögliche, aber auch ausreichende summarische Prüfung, dass der Rechtsbehelf offensichtlich erfolglos sein wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtswidrig, besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens dagegen nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer Interessensabwägung.
Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist derjenige der letzten Behördenentscheidung, hier also – aufgrund direkter Klageerhebung – die Bekanntgabe des Entziehungsbescheids.
Unter Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall war der Antrag abzulehnen, weil sich die in Nr. 1 des Bescheids vom 8. September 2020 enthaltene Entziehung der Fahrerlaubnis des Antragstellers nach der hier gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung als rechtmäßig darstellt und den Antragsteller nicht in seinen Rechten verletzt (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Das Gericht verweist auf die zutreffenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid, denen es im Ergebnis folgt und macht sich diese zur Begründung der vorliegenden Entscheidung zu Eigen (vgl. § 117 Abs. 5 VwGO). Im Hinblick auf das Vorbringen des Antragstellers wird ergänzend ausgeführt:
1. Rechtsgrundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis ist § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG. Danach gilt der Inhaber einer Fahrerlaubnis als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen, wenn sich acht oder mehr Punkte im Fahreignungsbewertungssystem ergeben. Die Fahrerlaubnisbehörde hat dann zwingend die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sie die Maßnahme der vorliegenden Stufen nach § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 und 2 StVG bereits ergriffen hat (§ 4 Abs. 6 Satz 1 StVG). Für die Entziehung der Fahrerlaubnis hat die Behörde gemäß § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG auf den Punktestand abzustellen, der sich zum Zeitpunkt der Begehung der letzten zur Ergreifung der Maßnahme führenden Straftat oder Ordnungswidrigkeit ergeben hat (sog. Tattagsprinzip). Punkte ergeben sich gemäß § 4 Abs. 2 Satz 3 StVG mit der Begehung der Straftat oder Ordnungswidrigkeit, sofern sie rechtskräftig geahndet wird. Bei der Berechnung des Punktestandes werden Zuwiderhandlungen nur dann berücksichtigt, wenn deren Tilgungsfrist zu dem in § 4 Abs. 5 Satz 5 StVG genannten Zeitpunkt noch nicht abgelaufen war (§ 4 Abs. 5 Satz 6 StVG). Spätere Verringerungen des Punktestandes aufgrund von Tilgungen bleiben unberücksichtigt (§ 4 Abs. 5 Satz 7 StVG), sofern die Eintragungen noch verwertbar sind (vgl. zum Ganzen BVerwG, U.v. 18.6.2020 – 3 C 14/19).
Mit der Tat vom … August 2019 hat der Antragsteller einen Punktestand von neun Punkten erreicht. Zu diesem Zeitpunkt waren sämtliche Eintragungen noch nicht tilgungsreif, vgl. § 29 Abs. 1 und 4 StVG. Die Eintragungen waren überdies zum Zeitpunkt der Entziehung gemäß § 29 Abs. 7 Satz 1 StVG auch verwertbar, da die jeweilige Überliegefrist nach § 29 Abs. 6 Satz 2 StVG nicht abgelaufen war (frühester Ablauf 3. Juli 2021).
2. Der Antragsteller hat hierbei das Stufensystem des § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG ordnungsgemäß durchlaufen und daher keinen Anspruch auf eine Punktereduzierung nach § 4 Abs. 6 Satz 3 StVG. Er wurde mit am 24. Januar 2019 zugestellten Schreiben bei einem Punktestand von vier Punkten ermahnt und mit am 1. Februar 2020 zugestellten Schreiben bei einem Punktestand von sechs Punkten verwarnt.
2.1. Soweit der Antragsteller den Zugang der Ermahnung bestreitet, kann er mit diesem Einwand nicht durchdringen. Die Ermahnung wurde ihm ordnungsgemäß im Wege der Ersatzzustellung gemäß Art. 3 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 VwZVG i.V.m. § 180 Satz 2 Zivilprozessordnung (ZPO) durch das – mit Postzustellungsurkunde nachgewiesene – Einlegen in den zur Wohnung gehörenden Briefkasten zugestellt. Auf die Postzustellungsurkunde findet gemäß § 173 Satz 2 VwGO die Regelung des § 418 ZPO Anwendung. Danach erbringt die Postzustellungsurkunde den vollen Beweis für die vom Zusteller bezeugten Tatsachen.
Der Gegenbeweis ist dem Antragsteller nicht gelungen. Daran ändert auch der Vortrag des Antragstellers und die eidesstattliche Versicherung seiner Ehefrau nichts. Diese erschöpft sich im Bestreiten des Zugangs und berichtet von oftmals nicht angekommenen Schreiben. Eine Erklärung für den Verbleib des nicht in Rücklauf geratenen Schreibens wird nicht angeboten. Vielmehr ist der Vortrag wenig glaubhaft, da der Antragsteller nach unwidersprochener Darstellung der Antragsgegnerin die (wenn auch erst im Nachgang versendete) Kostenrechnung beglichen hat. Es wäre zu erwarten gewesen, dass der Antragsteller bei Nichterhalt der Ermahnung die diesbezügliche Kostenrechnung gerügt hätte. Auch nach der Verwarnung, die ausdrücklich die Ermahnung aufgreift, hat sich der Antragsteller nicht bei der Behörde gemeldet und ein Fehlen der Ermahnung geltend gemacht.
Die Lichtbilder, welche wohl die Situation zum Zeitpunkt der eidesstattlichen Versicherung darstellen, lassen nicht erkennen, warum damals eine Zustellung nicht – so wie in der Postzustellungsurkunde angegeben – möglich gewesen sein soll. Zudem ist nicht ersichtlich, warum der Antragsteller nicht eine eindeutige Beschriftung seines Briefkastens vorgenommen hat, obschon doch diese bereits oftmals zu Problemen geführt haben soll.
2.2. Der Einwand des Antragstellers, dass die zur Entziehung führenden Taten zum Zeitpunkt der Verwarnung bereits begangen waren und er somit insgesamt nur zu verwarnen gewesen wäre, geht fehl.
Spätestens seit der zum 5. Dezember 2014 in Kraft getretenen Gesetzesänderung ist für das Ergreifen von Maßnahmen nach rechtskräftiger Ahndung der Zuwiderhandlung nicht mehr ausschließlich auf den sich für den betreffenden Tattag ergebenden Punktestand abzustellen. Maßgebend für die Rechtmäßigkeit einer Maßnahme nach § 4 Abs. 5 Satz 1 StVG und eine Verringerung des Punktestandes nach § 4 Abs. 6 Satz 2 und 3 StVG sind die im Fahrerlaubnisregister eingetragenen und der Fahrerlaubnisbehörde im Zeitpunkt des Ergreifens der Maßnahme nach § 4 Abs. 8 StVG übermittelten Zuwiderhandlungen. Für das Fahreignungs-Bewertungssystem des § 4 StVG soll es nicht mehr darauf ankommen, dass eine Maßnahme den Betroffenen vor der Begehung weiterer Verstöße erreicht und ihm die Möglichkeit der Verhaltensänderung einräumt, bevor es zu weiteren Maßnahmen kommen darf (vgl. zum Ganzen BVerwG, U.v. 26.1.2017 – 3 C 21/15 – juris Rn. 22 ff.). Ausweislich der Gesetzesbegründung soll die Vorschrift die Punktebewertung eines Verkehrsverstoßes auch dann ermöglichen, wenn er vor dem Ergreifen einer Maßnahme begangen wurde, bei dieser Maßnahme aber noch nicht verwertet werden konnte, etwa, weil deren Ahndung erst später Rechtskraft erlangt hat oder sie erst später im Fahreignungsregister eingetragen oder der Behörde zur Kenntnis gelangt sei (BT-Drs. 18/2775 S. 10). So liegt der Fall hier. Der Fahrerlaubnisbehörde wurden die Verstöße vom … April 2019 und … August 2019 erst durch Mitteilung des Kraftfahrt Bundesamtes vom 25. März 2020 bekannt.
Die Fahrerlaubnisbehörde muss auch nicht unmittelbar vor dem Ergreifen der Maßnahme nochmals beim Kraftfahrt-Bundesamt den aktuellen Punktestand erfragen. Eine solche Rechtspflicht lässt sich den Regelungen zum Fahreignungs-Bewertungssystem nicht entnehmen (ebenso Dauer, in: Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl. 2017, § 4 StVG Rn. 60 m.w.N.). Der Gesetzgeber hat in § 4 Abs. 8 StVG eine Übermittlungspflicht des Kraftfahrt-Bundesamtes, nicht aber eine Nachfragepflicht der Fahrerlaubnisbehörde begründet (BVerwG, U.v. 26.1.2017 – 3 C 21/15 – juris Rn. 27).
Zudem sei darauf hingewiesen, dass selbst die vom Antragsteller gewünschte Reduzierung des Punktestandes auf sieben Punkte bei einer früheren Mitteilung und Einbeziehung der Tat vom … April 2019 in die Verwarnung vom 30. Januar 2020 nicht dazu führt, dass dieser nicht durch die Tat vom … August 2019, rechtskräftig seit 10. März 2020, nunmehr acht Punkte erreicht hätte.
2.3. Nach der Ermahnung vom 22. Januar 2019 bzw. der Verwarnung vom 30. Januar 2020 kam der Kläger zu keinem Zeitpunkt mehr auf einen Punktestand der niedrigeren Stufe, sodass eine erneute Maßnahmendurchführung wegen Zurückfallens auf einen geringeren Punktestand nicht zu erfolgen hatte.
3. Die Fahrerlaubnisbehörde hatte dem Antragsteller daher gemäß § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 3 StVG zwingend die Fahrerlaubnis zu entziehen. Es konnte nicht berücksichtigt werden, dass der Antragsteller beruflich auf seine Fahrerlaubnis angewiesen ist.
4. Somit ist auch die – auf die Entziehung gestützte – Anordnung zur Ablieferung des Führerscheins in Nr. 2 des streitgegenständlichen Bescheids nach § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG in Verbindung mit § 47 Abs. 1 Satz 1 und 2 FeV rechtmäßig und verletzt den Antragsteller nicht in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO. 1. Einwendungen gegen die formellen Anforderungen an die Begründung der Anordnung des Sofortvollzugs (§ 80 Abs. 3 VwGO) wurden weder vorgebracht noch sind solche ersichtlich, sodass auch diesbezüglich die aufschiebende Wirkung der Klage nicht wiederherzustellen war. Rechtliche Bedenken gegen die in Nr. 4 des Bescheids enthaltene Zwangsgeldandrohung sind überdies nicht ersichtlich.
5. Angesichts der mangelnden Erfolgsaussichten der Klage und der Gefahren für Leben, körperliche Unversehrtheit und Eigentum anderer Verkehrsteilnehmer durch fahrungeeignete Personen hat es bei der sofortigen Vollziehung der Entziehung der Fahrerlaubnis zu verbleiben und müssen die beruflichen und privaten Interessen des Antragstellers am Erhalt der Fahrerlaubnis zurücktreten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Festsetzung des Streitwerts ergibt sich aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 des Gerichtskostengesetzes – GKG – i.V.m. den Empfehlungen in den Nrn. 1.5 sowie 46.3, 46.5 und 46.10 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (abgedruckt in Kopp/Schenke, VwGO, 24. Aufl. 2018, Anh. § 164 Rn. 14). Die durch die Schlüsselzahlen 79.03 und 79.04 weitreichend beschränkten Klassen A und A1 wirken sich nicht streitwerterhöhend aus (vgl. BayVGH, B.v. 19.6.2019 – 11 CS 19.936 – juris Rn. 30).


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