Verkehrsrecht

Zum Schutzbereich des Rechtsfahrgebots

Aktenzeichen  10 U 7512/20

Datum:
2.6.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 13098
Gerichtsart:
OLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
StVG § 7, § 17
StVO § 2 Abs. 2

 

Leitsatz

Das Rechtsfahrgebot gilt dem Schutz des Längsverkehrs und soll eine möglichst gefahrlose Begegnung der Fahrzeuge ermöglichen und ein Überholen gewährleisten. Nicht vom Schutzbereich umfasst ist dagegen der Querverkehr oder der Kraftfahrer, der in eine Straße einfahren oder einbiegen will. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

41 O 2129/19 2020-12-01 Endurteil LGLANDSHUT LG Landshut

Tenor

I. Auf die Berufung der Klägerin vom 29.12.2020 wird das Endurteil des LG Landshut vom 01.12.2020 (Az. 41 O 2129/20) abgeändert und wie folgt neu gefasst:
1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 5.651,33 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 25.04.2019 sowie weitere 480,20 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit 02.08.2019 zu zahlen.
2. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die weitergehende Berufung der Klägerin wird zurückgewiesen.
2. Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Klägerin 4% und die Beklagten samtverbindlich 96%; von den Kosten des Berufungsverfahrens tragen die Klägerin 10% und die Beklagten samtverbindlich 90%.
3. Das Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
5. Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 2.072,29 € festgesetzt.

Gründe

A.
Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO).
B.
Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache überwiegend Erfolg.
I.
1. Das Landgericht ist zu Unrecht von einer Mithaftung der Klägerin an dem Verkehrsunfallgeschehen am 21.02.2019 in E. an der Kreuzung Se. /Sp Straße infolge eines Verstoßes gegen das Rechtsfahrgebot nach § 2 II StVO ausgegangen.
Der Klägerin steht gegenüber den Beklagten dem Grunde nach ein umfassender Anspruch auf Ersatz des Schadens aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfallgeschehen nach §§ 7 I, 17, 18 StVG, 823 I, II, 249 BGB i. V. m. § 115 VVG zu.
Da die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind und die Ersatzpflicht weder wegen Vorliegens höherer Gewalt nach § 7 II StVG ausgeschlossen ist, noch ein unabwendbares Ereignis für einen der beiden Fahrzeugführer nach § 17 III StVG vorliegt, hängt die Schadensersatzpflicht nach §§ 17 I, 18 III StVG im Verhältnis der beiden Fahrzeugführer von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist.
a) Das Landgericht kommt nach der durchgeführten Beweisaufnahme zunächst zutreffend zu dem Ergebnis, dass das Unfallgeschehen für den Fahrer des Beklagtenfahrzeugs sicher vermeidbar gewesen wäre, wenn dieser mit einer Geschwindigkeit nach rechts abgebogen wäre, die es ihm ermöglicht hätte, rechts orientiert auf die rechte Fahrspur einzubiegen (vgl. Seite 7 des EU = Bl. 153 Band I d. A.).
b) Soweit das Landgericht aber einen Verursachungsbeitrag der Klägerin am streitgegenständlichen Verkehrsunfall darin sehen will, dass dieser auf seiner Fahrbahnhälfte nicht deutlich rechts orientiert gefahren sei und andernfalls der Fahrer des Beklagtenfahrzeugs nicht gezwungen gewesen wäre, sein Fahrzeug so stark nach rechts zu lenken, dass er kippte (vgl. Seite 7 des EU = Bl. 153 Band I d. A.), kann dem nicht gefolgt werden.
Ein Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot gemäß § 2 II StVO liegt nicht vor. Es ist bereits der Schutzbereich des § 2 II StVO nicht eröffnet. Das Rechtsfahrgebot gilt dem Schutz des Längsverkehrs und soll eine möglichst gefahrlose Begegnung der Fahrzeuge ermöglichen und ein Überholen gewährleisten (vgl. Müther in: Freymann/Weller, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl., § 2 StVO (Stand: 04.05.2020), Rn. 35; Geigel/Freymann, Haftpflichtprozess, 28. Aufl. 2020, Kap. 27 Rn. 59). Nicht vom Schutzbereich umfasst ist dagegen der Querverkehr (vgl. Geigel/Freymann, a.a.O.; BGH NJW 1981, 2301; SaarlOLG ZfS 2018, 620; LG Hamburg NZV 2018, 333) oder der Kraftfahrer, der in eine Straße einfahren oder einbiegen will (Geigel/Freymann, a.a.O.; BGH NJW 1981, a.a.O.; SaarlOLG ZfS 2018 a.a.O.; LG Hamburg, NZV 2018, a.a.O.), auch wenn letztlich jeder Verkehrsteilnehmer mit der Einhaltung des Rechtsfahrgebots rechnet (Geigel/Freymann, a.a.O.).
Im Übrigen weist die Klägerin auch zutreffend darauf hin (vgl. Seite 4 der Berufungsbegründung = Bl. 15 Band II d. A.), dass das Gebot, möglichst weit rechts zu fahren, nicht bedeutet, dass am äußersten rechten Fahrbahnrand zu fahren ist (vgl. Geigel/Freymann, a.a.O., Rn. 60; OLG Zweibrücken NZV 1988, 22). Vielmehr ist ein angemessener Sicherheitsabstand zum Fahrbahnrand einzuhalten (vgl. Geigel/Freymann, a.a.O.; BayObLG DAR 1981, 23), der in der Regel – auch im Stadtverkehr (SaarlOLG VM 1975 Nr. 113) – zwischen 0,5 bis 1 m betragen sollte (vgl. Geigel/Freymann, a.a.O.; OLG Düsseldorf NZV 1992, 232; OLG Celle Urt. v. 6. 11. 2018 – 14 U 61/18). Nachdem der gerichtliche Sachverständige festgestellt hat, dass sich das Klägerfahrzeug mit den Rädern in seiner Fahrspur mit einem Abstand von 1,0 bis 1,3 m zum rechten Fahrbahnrand befunden hat (vgl. Seite 16 des Gutachtens vom 20.02.2020 = Bl. 69 Band I d. A.), ist zu Gunsten der Klägerin davon auszugehen, dass ein angemessener Sicherheitsabstand im streitgegenständlichen Fall eingehalten wurde.
Zwar hat der Fahrer bei der Bemessung des Sicherheitsabstandes auch zu bedenken, dass er ebenso einen ausreichenden Sicherheitsabstand zu den entgegenkommenden Fahrzeugen einzuhalten hat (vgl. Geigel/Freymann, a.a.O. Rn. 61). Eine Begegnung darf in beiderseitig zügiger Fahrt nur durchgeführt werden, wenn die sich begegnenden Fahrzeuge untereinander einen Sicherheitsabstand von mindestens 1 m einhalten können, wobei mindestens die Hälfte dieses Abstandes in der jeweiligen Fahrbahnhälfte frei bleiben muss (vgl. Geigel/Freymann, a.a.O. Rn. 61 m.w.N.). Aber auch insoweit ist auszuführen, dass bei dem streitgegenständlichen Fall die Verkehrssituation nicht etwa dadurch gekennzeichnet war, dass dem Fahrer des Klägerfahrzeugs von der Gegenfahrbahn konkret erkennbare Gefahren drohten (vgl. BGH, NJW 1990, 1850, 1851), sondern, dass es zu einer Kollision mit einem Rechtsabbieger kam, der bei dem Abbiegevorgang die markierte Mittelline überschritten hat.
Der Fahrer des Klägerfahrzeugs durfte daher als Vorfahrtsberechtigter darauf vertrauen, dass der Fahrer des Beklagtenfahrzeugs beim Abbiegevorgang die Mittelline nicht überschreiten und mithin sein Vorfahrtsrecht beachten würde. Soweit dem Fahrer des Klägerfahrzeugs der Vertrauensgrundsatz zur Seite stand, brauchte er nicht vorherzusehen, dass seine Fahrweise zu einem Unfall führen würde (vgl. BGH, NJW-RR 2012, 157, 158).
Die Verletzung des Vorfahrtsrechts durch den in die Straße Einfahrenden indiziert sein Verschulden (BGH, NJW-RR 2012, a.a.O. m.w.N.). Wahrt der Einfahrende das Vorfahrtsrecht des fließenden Verkehrs nicht und kommt es deshalb zu einem Unfall, hat er in der Regel, wenn keine Besonderheiten vorliegen, in vollem Umfang oder doch zum größten Teil für die Unfallfolgen zu haften (BGH, NJW-RR 2012, a.a.O. m.w.N.).
Sofern die Beklagten einwenden, dass eine Mithaftung der Klägerin dadurch gerechtfertigt sei, dass der Fahrer des Klägerfahrzeugs seinerseits die Mittellinie überschritten habe, kann dem nicht gefolgt werden. Nach den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen steht gerade nicht fest, dass der klägerische Fahrzeugführer mit dem Fahrzeug über die Fahrbahnmitte geriet.
Wortwörtlich führte der Sachverständige aus:
„Der klägerische Pkw hielt im Moment der Kollision einen Abstand zum rechten Fahrbahnrand von 1,0 bis 1,3 m ein. Zugunsten der Beklagtenseite ist es vorstellbar, dass der klägerische Pkw dabei (mit dem linken Außenspiegel) rund 0,2 m über die Fahrbahnmitte geriet. Bei einer Betrachtung zugunsten der Klagepartei wäre es jedoch auch vorstellbar, dass der klägerische Pkw innerhalb der rechten Fahrbahnhälfte gefahren ist, und noch einen Abstand zur Fahrbahnmitte von ca. 0,1 m einhielt.” (vgl. Seite 26 des Gutachtens vom 20.02.2020 = Bl. 79 Band I d. A.).
Der Senat hält daher eine Haftungsverteilung von 100:0 zu Lasten der Beklagten für angemessen.
2. Die darüberhinausgehende Berufung ist demgegenüber unbegründet.
Das Erstgericht hat den Netto-Wiederbeschaffungswert zu Recht mit 8.097,56 EUR angesetzt (vgl. Seite 7 des EU = Bl. 153 Band I d. A.).
Nachdem der gerichtliche Sachverständige bereits in seinem Gutachten darauf hingewiesen hatte, dass zu der Beurteilung der Frage, ob von einem Brutto-Wiederbeschaffungswert von 8.500,00 EUR (Klageseite) oder einem Brutto-Wiederbeschaffungswert von 8.300,00 EUR (Beklagtenseite) auszugehen ist, die jeweiligen Rechenwege offengelegt werden müssten (vgl. Seite 21 des Gutachtens vom 20.02.2020 = Bl. 74 Band I d. A.), wurde den Parteien nach der mündlichen Anhörung des Sachverständigen im Termin vom 20.10.2020 eine Schriftsatzfrist von drei Wochen zur Darlegung des Rechenweges der jeweiligen Sachverständigen nachgelassen (vgl. Seite 11 des Protokolls = Bl. 141 Band I d. A.). Das Erstgericht hat insoweit zutreffend ausgeführt, dass weder von der Klage -, noch von der Beklagtenseite der jeweilige Rechenweg innerhalb dieser Frist offengelegt wurde (vgl. Seite 7 des EU = Bl. 153 Band I d. A.). Zwar hat die Klagepartei im Schriftsatz vom 05.11.2020 vorgetragen, dass vergleichbare Fahrzeuge auf dem Kraftfahrzeugmarkt mit Bruttopreisen von mindestens 8.500,00 EUR gehandelt werden und zum Beweis hierfür den Sachverständigen Dipl.-Ing. S. als sachverständiger Zeuge angeboten (vgl. Bl. 143/144 Band I d. A.). Insoweit hat das Erstgericht aber zu Recht darauf hingewiesen, dass hierdurch gerade nicht der Rechenweg für den gerichtlichen Sachverständigen offengelegt wurde, sondern dieser erst noch durch eine Vernehmung des als sachverständiger Zeuge benannten Sachverständigen S. vorgetragen werden müsste (vgl. Seite 8 des EU = Bl. 154 Band I d. A.).
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 I 1 Fall 1 ZPO.
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 544 II Nr. 1 ZPO.
IV.
Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.
V.
Die Streitwertfestsetzung für das Berufungsverfahren folgt aus § 3 ZPO, § 47 I GKG.


Ähnliche Artikel


Nach oben