Versicherungsrecht

Keine Betriebsschließungsdeckung bei Aufrechterhaltung einer Notbetreuung einer Kindertagesstätte

Aktenzeichen  12 O 7208/20

Datum:
17.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
r+s – 2020, 578
Gerichtsart:
LG
Gerichtsort:
München I
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
VVG § 82
AVB-BSV § 1 Nr. 1a

 

Leitsatz

1. Dem Versicherungsnehmer einer Betriebsschließungsversicherung obliegt es regelmäßig nicht, gegen eine behördliche Schließungsanordnung um verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz nachzusuchen. (Rn. 33 – 35) (redaktioneller Leitsatz)
2. Versicherungsschutz aus einer Betriebsschließungsversicherung setzt regelmäßig eine vollständige Schließung des Betriebs voraus. (Rn. 38 – 41) (redaktioneller Leitsatz)
3. Eine Kindertagesstätte, die trotz einer coronabedingten Untersagung von regulären Betreungsangeboten eine Notbetreuung mit mehreren Gruppen, Betreuern und Versorgungsleistungen aufrechterhält, genießt keine Deckung aus einer Betriebsschließungsversicherung. (Rn. 42 – 43) (Rn. 47) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
IV. Der Streitwert wird auf € 150.000,00 festgesetzt.

Gründe

Die Klage ist zulässig, jedoch nicht begründet. Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten keinen Anspruch auf Versicherungsleistungen aus der streitgegenständlichen Betriebsschließungsversicherung.
1. Zwar war die Allgemeinverfügung grundsätzlich geeignet, eine Schließung der Einrichtung der Klägerin ab dem 16.03.2020 aufgrund behördlicher Anordnung im Sinne der Versicherungsbedingungen zu begründen.
a) Nach § 1 Nr. 1 lit. a kommt es allein darauf an, dass die zuständige Behör de den Betrieb schließt. Eine nähere Regelung, wie dies zu erfolgen hat, findet sich in den Bedingungen nicht. Es ist daher unerheblich, dass die Schließung im vorliegenden Fall durch Allgemeinverfügung und danach ergehende Rechtsverordnungen des Bayerischen Staatsministeriums für Gesundheit und Pflege erfolgte. Insoweit ist zunächst festzustellen, dass die Versicherungsbedingungen keine verwaltungsrechtlichen Rechtsbegriffe verwenden. Nach den Bedingungen ist allein entscheidend, dass die Schließung angeordnet wird, mithin unmittelbare Pflichten für die Klägerin begründet wurden.
b) Entgegen der Auffassung der Beklagten handelte das Bayerische Staatsministerium für Gesundheit und Pflege dabei auch als zuständige Behörde im Sinne der Das Gesundheitsministerium ist die dem örtlichen Gesundheitsamt übergeordnete Behörde. Es war für den Erlass der streitgegenständlichen Anordnung zuständig (§ 32 Satz 1 IfSG in Verbindung mit § 65 Satz 2 Nr. 2 BayZustV und Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 GDVG). Ein Fehler im Rahmen der Zuständigkeit von Behörden würde im Übrigen allenfalls zur formellen Rechtswidrigkeit, jedoch nicht zur Nichtigkeit der Allgemeinverfügung führen.
c) Nach dem Wortlaut der Bedingungen spielt auch die Rechtmäßigkeit der Schließungsanordnung für den Versicherungsschutz keine Rolle.
Unabhängig davon, ob § 82 VVG auf die Betriebsschließungsversicherung anwendbar ist, wäre auch im Rahmen der Schadensminderungsobliegenheit ein verwaltungsgerichtliches Vorgehen der Klägerin gegen die Anordnung weder erfolgversprechend noch zumutbar gewesen.
Der Versicherungsnehmer muss sich – wie jeder andere – grundsätzlich an Gesetze und Verordnungen halten. Diese sind selbst im Falle von Mängeln oder bei Rechtswidrigkeit nicht automatisch unwirksam und damit grundsätzlich zu befolgen. Es ist dem Versicherungsnehmer regelmäßig auch nicht zumutbar, vor der Geltendmachung von Versicherungsleistungen zur Schadensminderung jahrelang vor den Verwaltungsgerichten gegen eine behördliche Anordnung vorzugehen.
Anderes gilt im Fall offensichtlicher, zur Nichtigkeit führender Fehler einer öffentlichrechtlichen Anordnung. Allenfalls in einem solchen Fall evidenter Unwirksamkeit kann dem Versicherungsnehmer zugemutet werden, sich zur Schadensminderung nicht an die Vorschrift zu halten und gegen sie vorzugehen.
Ein solcher Fall liegt hier aber nicht vor. Es fehlt bereits an einer offensichtlich unwirksamen Verordnung.
Ergänzend ist anzumerken, dass die zuständigen Verwaltungsgerichte die Maßnahmen der Staatsregierung aus der Allgemeinverfügung und den folgenden Verordnungen im einstweiligen Rechtsschutz bestätigt haben. Auch die Gerichte haben die entsprechenden Anordnungen daher nicht als offensichtlich unwirksam angesehen.
2. Eine vollständige Schließung, wie sie nach den Versicherungsbedingungen grundsätzlich erforderlich ist, lag jedoch nicht vor.
a) Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher, um Verständnis bemühter Versicherungsnehmer sie bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und unter Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs versteht. Damit kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse und damit auch auf seine Interessen an. In erster Linie ist vom Bedingungswortlaut auszugehen. Der mit dem Bedingungswerk verfolgte Zweck und der Sinnzusammenhang der Klauseln sind zusätzlich zu berücksichtigen, soweit sie für den Versicherungsnehmer erkennbar sind (vgl. BGH, Urteil vom 22.01.2020 – IV ZR 125/18; ständige Rechtsprechung).
b) Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer einer Betriebsschließungsversicherung wird die Klausel in § 1 Nr. 1 a der so verstehen, dass grundsätzlich die vollständige Schließung der Einrichtung angeordnet worden sein muss, damit ein Anspruch auf Versicherungsleistungen entsteht. Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut. Die genannte Klausel verlangt, dass die Behörde den „versicherten Betrieb oder eine versicherte Betriebsstätte … schließt“. Ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer wird angesichts dieser Formulierung nicht davon ausgehen, dass auch Betriebseinschränkungen oder eine teilweise Einstellung des Leistungsangebots vom Versicherungsschutz erfasst sind. In der Klausel sind ausdrücklich „der Betrieb“ und die „versicherte Betriebsstätte“ genannt, nicht jedoch Teile derselben.
Im Übrigen legt bereits der Begriff der „Betriebsschließungsversicherung“ nahe, dass es sich nicht um eine Betriebseinschränkungsversicherung, eine Teilschließungsversicherung oder Ähnliches handelt.
c) Die streitgegenständliche Kindertagesstätte der Klägerin war nicht vollständig geschlossen. Die Allgemeinverfügung und die folgenden Verordnungen untersagten den Regelbetrieb, sahen jedoch die Weiterführung der Betreuung als Notbetreuung vor.
Die Klägerin durfte damit den Betrieb teilweise fortführen. Sie hat im Rahmen der sogenannten Notbetreuung zwei von normalerweise sechs Gruppen weiterbetrieben. Sie hat in der Einrichtung – wenn auch in verringertem Umfang – die Leistungen erbracht, die sie auch außerhalb der Corona-Pandemie erbracht hat. Dass der Klägerin durch die Behörden der Regelbetrieb untersagt war und dass deswegen auch für Personen, die sonst Zutritt zu der Einrichtung hatten, ein Betretungsverbot bestand, ändert daran nichts. Im Versicherungsvertrag sind Leistungen für den Fall der vollständigen Schließung vereinbart. Diese lag nicht vor. Ein Leistungsanspruch besteht damit nicht.
d) Ob eine faktische Schließung – also die Fortsetzung eines Betriebs in gänzlich unerheblichem Umfang – grundsätzlich oder im hier zu entscheidenden Einzelfall geeignet ist, einen Leistungsanspruch zu begründen, bedarf keiner Entscheidung. Eine solche faktische Betriebsschließung lag im Fall der Klägerin jedenfalls nicht vor. Die Klägerin hat ihren Betrieb in erheblichem Umfang fortgesetzt.
Dabei kommt es nicht auf starre Grenzen oder Prozentwerte an, wie der Klägervertreter zutreffend erkannt hat. Vielmehr ist eine Beurteilung anhand der Umstände des Einzelfalls erforderlich.
Die Klägerin setzte den Betrieb mit zwei von regulär sechs Gruppen fort. Fast ein Drittel der sonst tätigen Betreuer (6 von 17) war dabei im Einsatz. Die Küche wurde durchgehend mit vollem Personalbestand fortgeführt und die in der Einrichtung anwesenden Kinder wurden verpflegt. Die Anzahl der in der Einrichtung anwesenden Kinder beschränkte sich ebenfalls nicht auf Einzelfälle, sondern schwankte im März 2020 von sechs bis zwölf und steigerte sich im April 2020 auf ca. 20 betreute Kinder. Dies ergibt sich aus den glaubhaften Angaben, die die Geschäftsführerin der Klägerin im Rahmen ihrer Anhörung im Termin vom 31.07.2020 machte. Soweit die Klagepartei mit Schriftsatz vom 20.08.2020 ausführte, es seien zwischen 4 und 27 Kinder bereut worden, führt dies nicht zu einer abweichenden Beurteilung.
e) Unter Abwägung sämtlicher Umstände des Einzelfalls ist festzustellen, dass die Klägerin zwar ihrer Tätigkeit nicht in normalem Umfang nachgehen konnte, dass sie den Betrieb jedoch tatsächlich in nicht unerheblichem Umfang aufrecht erhielt. Dabei war – wenn auch teilweise wechselschichtig – fast die Hälfte des regulären Betreuungs- und Küchenpersonals (9 von 20) sowie ein erheblicher Anteil der zu betreuenden Kinder anwesend.
Auch eine faktische Schließung des Betriebs lag damit zu keinem Zeitpunkt vor.
In wirtschaftlicher Hinsicht ist anzumerken, dass die in der Einrichtung anwesenden Kinder die Elternbeiträge geleistet haben. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin etwa 1/3 ihres Gesamtumsatzes durch staatliche Zuschüsse erzielt, die auch im streitgegenständlichen Zeitraum unverändert an sie gezahlt wurden. Zudem hat die Klägerin für die Kinder, die der Einrichtung ab dem 16.03.2020 ferngeblieben sind, einen staatlichen Zuschuss erhalten.
3. Nachdem eine Schließung der Einrichtung im Sinne der Versicherungsbedingungen nicht vorliegt, besteht auch kein Leistungsanspruch der Klägerin gegenüber der Beklagten. Die Klage war damit erfolglos.
Die als Nebenforderung eingeklagten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten teilen das Schicksal der Hauptforderung.
Die Klage war insgesamt abzuweisen.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 S. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 709 ZPO. Der Streitwert war nach § 3 ZPO festzusetzen. Er entspricht der Höhe der Klageforderung.
 Verkündet am 17.09.2020


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