Verwaltungsrecht

1 C 27/20

Aktenzeichen  1 C 27/20

Datum:
24.6.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:240621U1C27.20.0
Spruchkörper:
1. Senat

Verfahrensgang

vorgehend Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, 16. März 2020, Az: A 11 S 2977/18, Urteilvorgehend VG Karlsruhe, 8. Juni 2018, Az: A 2 K 5519/17

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 16. März 2020 wird zurückgewiesen.
Der Kläger trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein nach eigenen Angaben 1997 geborener afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volkszugehörigkeit und sunnitischen Glaubens, begehrt die Zuerkennung subsidiären Schutzes.
2
Der Kläger stammt aus dem Distrikt Jalrez in der Provinz Wardek. Er floh im Oktober 2015 nach seinen Angaben vor Rekrutierungsbemühungen der Taliban und beantragte im Juni 2016 im Bundesgebiet Asyl.
3
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte den Asylantrag mit Bescheid vom 12. April 2017 ab, drohte dem Kläger unter Setzung einer Ausreisefrist die Abschiebung nach Afghanistan an und befristete das gesetzliche Einreise und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
4
Das Verwaltungsgericht hat die Klage in vollem Umfang abgewiesen (Urteil vom 8. Juni 2018), weil der Kläger in seiner Herkunftsprovinz keiner subsidiären Schutz erfordernden ernsthaften individuellen Bedrohung seines Lebens oder seiner Unversehrtheit ausgesetzt sei; die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbots lägen ebenfalls nicht vor.
5
Der Verwaltungsgerichtshof hat die von ihm hinsichtlich der Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung des subsidiären Schutzes zugelassene Berufung des Klägers mit Urteil vom 16. März 2020 zurückgewiesen und zur Begründung – u.a. unter Bezugnahme auf sein Urteil vom 29. November 2019 – A 11 S 2376/19 – im Kern ausgeführt: Ob die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 AsylG erfüllt seien, könne offenbleiben, weil in den drei größeren Städten Afghanistans (Kabul, Herat und Mazar-e Sharif) interner Schutz (§ 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e Abs. 1 AsylG) zur Verfügung stehe. Der Kläger sei in den genannten Städten frei von begründeter Furcht vor Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden; insbesondere sei dort nicht mit einem fortbestehenden Verfolgungsinteresse durch die Taliban zu rechnen. Diese drei Städte seien für den Kläger jedenfalls auf dem Luftweg sicher und legal zu erreichen; für den Zuzug bestünden keine rechtlichen oder administrativen Zuzugshindernisse. Von dem Kläger könne vernünftigerweise auch erwartet werden, dass er sich in einer der drei Städte niederlasse (Zumutbarkeit der Niederlassung). Die Feststellungen und Bewertungen des Senats in seinen Urteilen vom 29. November 2019 – A 11 2376/19 – und 29. Oktober 2019 – A 11 S 1203/19 – würden dabei durch die weiteren Erkenntnisquellen, die dem Senat zwischenzeitlich bekannt geworden seien, bestätigt; insbesondere hätten sich die Sicherheitslage in den drei Städten oder die sozioökonomischen Umstände dort nicht in relevanter Weise verändert. Auch Vereinbarungen, die zwischen einzelnen Konfliktbeteiligten im Hinblick auf ein Friedensabkommen geschlossen worden seien, sowie die politische Krise auf Ebene der Zentralregierung, die auf den umstrittenen Ausgang der Präsidentschaftswahl im September 2019 zurückzuführen sei, führten nicht zu einer relevanten Änderung der Bewertung. Gleiches gelte für die in der mündlichen Verhandlung aufgeworfene Frage, ob eine relevante Ausweitung der COVID-19-Infektionen auf die Bevölkerung von Afghanistan dazu führen könne, dass es dem Kläger nicht zuzumuten sei, sich in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif niederzulassen; dies gelte umso mehr, als im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung für das Bundesgebiet deutlich mehr Ansteckungs- und Verdachtsfälle verzeichnet gewesen seien als in Afghanistan. Die individuelle Situation des Klägers führe ebenfalls nicht dazu, dass für ihn die Niederlassung in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif unzumutbar wäre. Er verfüge über die Fähigkeiten, die erforderlich seien, um auf dem Arbeitsmarkt in Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif bestehen zu können; aus den vom Kläger vorgetragenen körperlichen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen (u.a. Amputation des Zeigefingers der rechten Hand; psychische Beeinträchtigungen) folge nicht, dass die Leistungsfähigkeit des Klägers auf relevante Weise eingeschränkt wäre.
6
Der Kläger rügt mit der Revision eine Verletzung des § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3e AsylG und macht geltend: An die Zumutbarkeit der Niederlassung seien über die Wahrung des Existenzminimums hinausgehende Anforderungen zu stellen. Das Berufungsgericht sei bei seiner Bewertung der allgemeinen Lebensverhältnisse mithin von einem bundesrechtswidrig zu strengen Maßstab ausgegangen und habe infolgedessen unzureichende tatsächliche Feststellungen zur Zumutbarkeit der Niederlassung getroffen. Es sei schon nicht deutlich, wie der Verwaltungsgerichtshof seine drei Kriterien – die Gewährleistungen des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC wahrendes Existenzminimum, keine anderweitige schwerwiegende Verletzung grundlegender Grund- und Menschenrechte, keine sonstige unerträgliche Härte – voneinander abgrenzen wolle. In Bezug auf die wirtschaftliche Existenzsicherung habe das Berufungsgericht die gegen seine Rechtsauffassung streitenden, auch im Ergebnis zutreffenden Argumente selbst benannt, auch wenn er diesen – rechtsfehlerhaft – nicht gefolgt sei.
7
Überdies hätte sich dem Berufungsgericht auch ohne einen entsprechenden Beweisantrag weiterer Aufklärungsbedarf zur Frage der Folgen der COVID-19-Pandemie auf die Möglichkeit, die eigene Existenz zu sichern, aufdrängen müssen. Jedenfalls bei der auf einen längeren Zeitraum bezogenen positiven Prognose hinreichender Existenzsicherung hätte es angesichts der festgestellten “angespannten” Lage nahegelegen, dass die COVID-19-bedingten Veränderungen Auswirkungen (nicht nur) auf die Wirtschaft, sondern auch auf die Gesamtbewertung hätten, denen auch ohne Beweisantrag durch weitere Aufklärung hätte nachgegangen werden müssen. Dies werde durch nachfolgende Veränderungen (u.a. kräftige Preissteigerungen, geringere Chancen für Tagelöhner) bestätigt.
8
Die Beklagte verteidigt das angegriffene Urteil.
9
Der Vertreter des Bundesinteresses bei dem Bundesverwaltungsgericht hat sich nicht an dem Verfahren beteiligt.


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