Verwaltungsrecht

1 C 30/20

Aktenzeichen  1 C 30/20

Datum:
24.6.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:240621U1C30.20.0
Spruchkörper:
1. Senat

Leitsatz

1. Nach § 85a AufenthG kann die Feststellung, dass eine Vaterschaftsanerkennung i.S.d. § 1597a Abs. 1 Satz 1 BGB “missbräuchlich” ist, auch aus Anlass der Beurkundung der Zustimmungserklärung der Kindesmutter getroffen werden, und zwar auch dann, wenn die Anerkennungserklärung des Vaters bereits vor dem Inkrafttreten der Regelung wirksam beurkundet worden ist.
2. Eine i.S.d. § 1597a Abs. 1 BGB missbräuchliche Vaterschaftsanerkennung liegt jedenfalls dann nicht vor, wenn sie auch der Begründung, Fortsetzung oder Vertiefung einer Eltern-Kind-Beziehung und in diesem Sinne nicht gezielt gerade aufenthaltsrechtlichen Zwecken dient.
3. Der Anerkennende muss die aus der Vaterschaftsanerkennung resultierende elterliche Verantwortung auch tatsächlich wahrnehmen (“leben”) wollen; das konkret zu fordernde Maß der tatsächlichen Wahrnehmung hat die Vielfalt grundrechtlich geschützter Möglichkeiten zu berücksichtigen, Eltern-Kind-Beziehungen autonom und weitestgehend frei von staatlichen Vorgaben auszugestalten. Die elterliche Verantwortung muss nicht in allen Dimensionen wahrgenommen werden.
4. Die ausländerbehördliche Einstellung des Verfahrens nach § 85a Abs. 1 Satz 3 AufenthG ist kein Verwaltungsakt.

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, 30. Januar 2020, Az: OVG 3 B 31.19, Urteilvorgehend VG Berlin, 7. Juni 2019, Az: 11 K 381.18, Urteil

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Oberverwaltungsgerichts Berlin-Brandenburg vom 30. Januar 2020 wird mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Beklagte verurteilt wird, das Verfahren zur Prüfung, ob die Zustimmung der Kindesmutter zur Anerkennung der Vaterschaft missbräuchlich ist, einzustellen.
Die Beklagte trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.

Tatbestand

1
Der Kläger wendet sich gegen die Feststellung der Beklagten, dass die Zustimmungserklärung der Kindesmutter zur Anerkennung der Vaterschaft ihres Kindes durch diesen missbräuchlich ist.
2
Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und Beamter im Dienst des Auswärtigen Amtes. Er ist Vater im Rechtssinne von neun Kindern, deren auch leiblicher Vater er nach seinen – von der Beklagten nicht bezweifelten – Angaben ist. Drei Kinder (geboren 1992, 1997 und 2007) sind aus einer 2016 geschiedenen Ehe mit einer … Staatsangehörigen hervorgegangen. Die Vaterschaft für die weiteren sechs Kinder erkannte der Kläger an. Zwei Töchter (geboren 2002 und 2005) leben mit ihrer aus der M. stammenden Mutter mietfrei in einer Eigentumswohnung des Klägers in B. Auch die Mutter eines 2004 geborenen Sohnes ist … Staatsangehörige; dieser Sohn lebt in den …, deren Staatsangehörigkeit er besitzt. Ein aus der Beziehung zu einer weiteren … Staatsangehörigen hervorgegangener Sohn (geboren 2009) ist ebenfalls Staatsangehöriger der …, lebt in einer von dem Kläger angemieteten Wohnung in B. und erhält von diesem Unterhalt. Eine 2014 geborene Tochter und ein 2016 geborener Sohn haben eine … Mutter; der Kläger lebt gemeinsam mit ihnen in einer Wohnung in B.
3
Von Mai 2011 bis August 2015 war der Kläger an der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in J. eingesetzt. Dort lernte er im Jahr 2013 oder 2014 den im Jahr 2001 geborenen M. kennen, der ebenso wie seine Mutter die … Staatsangehörigkeit besitzt. Sein leiblicher Vater ist unbekannt.
4
Am 16. Dezember 2016 erkannte der Kläger bei einem Notar in B. an, Vater des M. zu sein. Ab Januar 2017 bemühte er sich bei der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in J., einen Termin zur Beurkundung der Zustimmung der Kindesmutter zur Vaterschaftsanerkennung zu vereinbaren. Mit Bescheid vom 20. April 2018 – adressiert an den Kläger als “im Verfahren Bevollmächtigten” – stellte die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in J. fest, dass die Zustimmungserklärung zur Anerkennung der Vaterschaft des M. missbräuchlich sei, weil der Kläger nicht der biologische Vater sei und zwischen ihm und M. auch keine sozial-familiären Beziehungen bestünden.
5
Der Kläger hat hiergegen Klage erhoben und im Kern geltend gemacht, zwischen ihm und M. bestehe ein sozial-familiäres Verhältnis, ein familiäres Zusammenleben sei weiterhin beabsichtigt. Das Verwaltungsgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen (Urteil vom 7. Juni 2019), weil die Vaterschaftsanerkennung missbräuchlich sei. Der Kläger sei nicht der leibliche Vater des M., zwischen beiden bestehe auch keine sozial-familiäre Beziehung, auf deren Grundlage der Kläger als rechtlicher Vater angesehen werden müsse.
6
Auf die Berufung des Klägers hat das Oberverwaltungsgericht den angegriffenen Bescheid aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, das Verfahren zur Prüfung, ob die Zustimmung der Mutter des M. zur Anerkennung der Vaterschaft missbräuchlich ist, einzustellen (Urteil vom 30. Januar 2020). Zur Begründung hat es im Kern ausgeführt: Der gegenüber der Kindesmutter ergangene, dem Kläger bekanntgegebene Bescheid könne auch von diesem angefochten werden. Er sei zwar nicht wegen Verfahrensfehlern in dem – dem Verfahren nach § 85a Abs. 1 AufenthG vorgelagerten – Verfahren nach § 1597a Abs. 2 BGB oder wegen mangelnder Anhörung aufzuheben. Die in § 1597a Abs. 1 BGB i.V.m. § 85a AufenthG definierten Voraussetzungen für die behördliche Feststellung, dass die Zustimmungserklärung zur Anerkennung der Vaterschaft missbräuchlich sei, seien indes nicht erfüllt, so dass der Bescheid materiell rechtswidrig sei. Diese Regelungen seien zwar verfassungsgemäß, ihre Anwendung verletze auch nicht das Rückwirkungsverbot. Nach Wortlaut sowie dem Sinn und Zweck der Regelungen, missbräuchliche Vaterschaftsanerkennungen zu verhindern, die zum Ziel hätten, einen Aufenthaltstitel zu erlangen, aber auch aus verfassungsrechtlichen Gründen sei indes ein enges Verständnis einer missbräuchlichen Anerkennung der Vaterschaft dahin geboten, dass eine solche nur anzunehmen sei, wenn der alleinige Zweck der Zustimmungserklärung darin bestehe, die rechtlichen Voraussetzungen für eine ansonsten verwehrte Einreise bzw. einen ansonsten verwehrten Aufenthalt zu schaffen. Dies gelte entsprechend für die Zustimmungserklärung der Mutter. Die in § 85a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 4 AufenthG normierten Voraussetzungen, bei deren Vorliegen eine missbräuchliche Anerkennung der Vaterschaft regelmäßig vermutet werde, seien nicht erfüllt, weil eine Regelvermutung jedenfalls im Einzelfall aufgrund atypischer Umstände erschüttert sei. Der Kläger habe keine Erklärung im Sinne des § 85a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG abgegeben, bei Berücksichtigung des Kontextes auch nicht im Rahmen einer von der Beklagten herangezogenen Schutzschrift. In Bezug auf die vorangehenden Anerkennungen der Vaterschaft von Kindern unterschiedlicher Mütter lägen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger entgegen seiner Behauptung nicht der leibliche Vater aller von ihm bereits wirksam anerkannten Kinder sei, so dass weitere Ermittlungen nicht veranlasst gewesen seien. Aufgrund der sonstigen Umstände des Einzelfalls sei das Berufungsgericht nicht davon überzeugt, dass der Kläger mit der Anerkennung der Vaterschaft den alleinigen Zweck verfolge, dem M. ein diesem anderweitig verwehrtes Einreise- und Aufenthaltsrecht zu verschaffen. Bei einer Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalles sei das Gericht vielmehr davon überzeugt, dass der Kläger die Vaterschaft nicht gezielt gerade zu dem Zweck anerkannt hat, um die rechtlichen Voraussetzungen für die erlaubte Einreise oder den erlaubten Aufenthalt des M. im Bundesgebiet zu schaffen. Bestehende Anhaltspunkte, die für eine rein aufenthaltsrechtlich motivierte Vaterschaftsanerkennung durch den Kläger sprechen könnten, seien durch gewichtige Umstände entkräftet. Zwischen dem Kläger und M. bestünden weitreichende persönliche Bindungen, die der Kläger als für sich verbindlich und von Dauer ansehe. Der Kläger sei bereit, für M. Verantwortung zu tragen; auch gehe er mit der Vaterschaftsanerkennung finanzielle Risiken ein. Dass die Kindesmutter nicht in der Lage gewesen sei, Fragen zu einer sozial-familiären Beziehung zwischen M. und dem Kläger zu beantworten, ergebe sich so nicht aus den Akten; die Kindesmutter sei mit der Vaterschaftsanerkennung einverstanden. Das Begehren auf Einstellung des Verfahrens nach § 85a Abs. 1 AufenthG sei als Verpflichtungsbegehren zulässig und mangels Missbräuchlichkeit der Vaterschaftsanerkennung auch begründet.
7
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 85a Abs. 1 und 2 AufenthG und § 1597a Abs. 1 BGB und macht zum Prüfungsmaßstab geltend, die Auslegung des Berufungsgerichts, nach der die Anerkennung der Vaterschaft nur missbräuchlich im Sinne von § 85a Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 1597a Abs. 1 BGB sein könne, wenn sie allein aufenthaltsrechtliche Zwecke verfolge, sei bundesrechtswidrig. Nach dem Wortlaut, der Systematik, dem Ziel und der Entstehungsgeschichte der Regelung umfasse die gesetzliche Legaldefinition für eine missbräuchliche Vaterschaftsanerkennung auch und gerade Fälle, in denen der aufenthaltsrechtliche Zweck ein gewichtiger Teil eines Motivbündels und das primäre und prägende Motiv gewesen sei. Bei Zugrundelegung der zutreffenden Auslegung des § 1597a Abs. 1 BGB und des § 85a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG sei bereits nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts der Missbrauchstatbestand erfüllt. Das Berufungsgericht habe zudem gegen den Überzeugungsgrundsatz verstoßen, indem es seiner Entscheidung tatsächliche Feststellungen zugrunde gelegt habe, die sich als aktenwidrige Annahmen darstellten, und auch sonst den Sachverhalt verfahrensfehlerhaft gewürdigt. Die hier zu überprüfende Zustimmung der Mutter des M. zur Vaterschaftsanerkennung des Klägers sei auch deswegen missbräuchlich, weil dieser die Umstände, die deren Missbräuchlichkeit durch den Kläger bewirkten, bekannt gewesen seien und die Mutter, die den Kläger kaum kenne und jedenfalls nicht mit diesem zusammengelebt habe, der Vaterschaftsanerkennung ersichtlich allein wegen der aufenthaltsrechtlichen Vorteile zugestimmt habe. Die Zielsetzung, die Zukunftsaussichten des eigenen Kindes verbessern zu wollen, sei für eine Mutter nachvollziehbar, aber aufenthaltsrechtlich eine missbilligte Zielsetzung.
8
Der Kläger verteidigt das angegriffene Urteil.
9
Der Vertreter des Bundesinteresses bei dem Bundesverwaltungsgericht beteiligt sich nicht am Verfahren.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben