Verwaltungsrecht

1 C 54/20

Aktenzeichen  1 C 54/20

Datum:
24.6.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:240621U1C54.20.0
Spruchkörper:
1. Senat

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen, 26. Mai 2020, Az: 1 LB 56/20, Urteilvorgehend VG Bremen, 14. November 2019, Az: 5 K 1243/17

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Oberverwaltungsgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 26. Mai 2020 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Oberverwaltungsgericht der Freien Hansestadt Bremen zurückverwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Tatbestand

1
Der Kläger, ein nach eigenen Angaben 1993 geborener, afghanischer Staatsangehöriger sunnitischen Glaubens tadschikischer Volkszugehörigkeit, und die Beklagte streiten um deren Verpflichtung, die Flüchtlingseigenschaft des Klägers festzustellen.
2
Der Kläger stammt aus einem Dorf im Distrikt Jalriz in der Provinz (Maidan-)Wardak. Er reiste nach seinen Angaben im Oktober 2015 auf dem Landweg in das Bundesgebiet ein. Zur Begründung seines im März 2016 gestellten Asylantrages berief er sich im Kern auf eine drohende Zwangsrekrutierung durch die Taliban.
3
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 10. Mai 2017 ab, drohte dem Kläger unter Setzung einer Ausreisefrist die Abschiebung nach Afghanistan an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Der Kläger habe es unterlassen, vor den Drohungen der Taliban die staatlichen Organe, die schutzfähig und schutzbereit seien, um Schutz zu ersuchen, so dass Flüchtlingsschutz ausscheide; der in allen Teilen Afghanistans unterschiedlich stark ausgeprägte innerstaatliche bewaffnete Konflikt führe für den Kläger auch nicht zu einer solchen Gefährdung, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes erfüllt seien.
4
Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft verpflichtet, weil der Staat in der Herkunftsregion keinen wirksamen Schutz vor Zwangsrekrutierung durch die Taliban gewährleisten könne und von dem Kläger wegen der dort herrschenden Existenzbedingungen nicht erwartet werden könne, dass er sich in den für eine Neuansiedlung ernsthaft in Betracht kommenden Großstädten (Kabul, Herat und Masar-e Sharif) oder sonst in Afghanistan niederlasse. Zu gewährleisten sei eine ausreichende Lebensgrundlage, die über die von Art. 3 EMRK gestellten Anforderungen hinausgehe.
5
Das Oberverwaltungsgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es im Kern ausgeführt: Der Kläger habe ein individuelles Schicksal, das seine Vorverfolgung belege, hinreichend glaubhaft gemacht; der Senat sei davon überzeugt, dass der Kläger in dem Dorf, in dem er vor seiner Ausreise nach Deutschland gelebt habe, von den Taliban mit dem Tod bedroht worden sei und im Falle seiner Rückkehr erneut bedroht wäre, ohne dort Schutz durch den afghanischen Staat erlangen zu können, so dass er in nahem zeitlichen Zusammenhang mit seiner Ausreise aus Afghanistan politische Verfolgung im Sinne der §§ 3 und 3a AsylG erlitten habe. Er könne auch nicht auf internen Schutz in anderen Regionen Afghanistans verwiesen werden. Er werde zwar in Teilen seines Heimatlandes, insbesondere in den Großstädten Kabul, Herat und Masar-e Sharif, nicht verfolgt; dort drohe ihm auch sonst kein ernsthafter Schaden. Auch wenn der Kläger sicher und legal in diese Landesteile reisen und dort aufgenommen werden könne, könne von ihm unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass er sich in diesen Landesteilen niederlasse. In Abgrenzung zur Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg (Urteil vom 29. November 2019 – A 11 S 2376/19 -) seien in Bezug auf das wirtschaftliche Existenzminimum an den Zumutbarkeitsmaßstab bzw. das Zumutbarkeitsniveau im Vergleich zu den Abschiebungsverboten wegen schlechter, nicht durch einen verantwortlichen Akteur verursachter humanitärer Verhältnisse nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und § 60 Abs. 7 AufenthG höhere Anforderungen zu stellen. Auf der Grundlage dieses Maßstabes könne es dem Kläger nicht zugemutet werden, sich in Kabul, Herat oder Masar-e Sharif niederzulassen, weil nicht davon auszugehen sei, dass er dort über die Befriedigung seiner elementarsten Bedürfnisse hinaus (Maßstab des Art. 3 EMRK) gemäß den höheren Anforderungen des § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG sein Existenzminimum auf Dauer werde sichern können.
6
Mit seiner Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 3e AsylG. Weder aus dem Wortlaut des Art. 8 Abs. 1 RL 2011/95/EU noch der Entstehungsgeschichte der Regelung folgten ausreichend tragfähige und überzeugende Gründe dafür, bei der wirtschaftlichen Existenzsicherung einen höheren Maßstab als jenen der Art. 3 EMRK/Art. 4 GRC anzulegen; auch sonst sei der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg zu folgen. Soweit das Berufungsgericht eine Vorverfolgung des Klägers angenommen habe, fehle es an tragfähigen Feststellungen zur Verknüpfung der (drohenden) Verfolgungshandlung mit einem Verfolgungsgrund; unter Verletzung von § 86 VwGO habe das Berufungsgericht nicht ermittelt, ob Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die Drohungen der Taliban und die Forderung, sich ihnen anzuschließen, an einen Verfolgungsgrund anknüpften.
7
Der Kläger verteidigt das Berufungsurteil und hebt hervor, dass Voraussetzung des internen Schutzes nicht nur die Abwesenheit von Gefahren, sondern die Gewährleistung von bestimmten Rechten sei; eine “Privilegierung” von subsidiär Schutzberechtigten und Flüchtlingen sei dem Gesetz nicht fremd. Auch der UNHCR fordere, dass am Ort des internen Schutzes ein “relativ normales Leben” möglich sein müsse. Wäre das Existenzminimum am Ort des internen Schutzes am Maßstab des Art. 3 EMRK/Art. 4 GRC zu messen, liefe § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG ins Leere. Die von der Beklagten erhobene Rüge sei mit Blick auf die vom Berufungsgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen bereits unzulässig und jedenfalls unbegründet.
8
Der Vertreter des Bundesinteresses bei dem Bundesverwaltungsgericht hat sich nicht an dem Verfahren beteiligt.


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