Verwaltungsrecht

Abschiebungsschutz für werdenden Vater

Aktenzeichen  10 CE 21.313

Datum:
28.1.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1651
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
GG Art. 6 Abs. 4

 

Leitsatz

Die Zuerkennung von Abschiebungsschutz gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG für den ausländischen Vater eines noch nicht geborenen deutschen Kindes kommt dann in Betracht, wenn eine Gefahrenlage für das ungeborene Kind oder die Mutter (Risikoschwangerschaft) besteht und die Unterstützung der Schwangeren durch den Abzuschiebenden glaubhaft gemacht wird. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 10 E 20.6771 2021-01-21 Bes VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. In Abänderung von Nr. 1 des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 21. Januar 2021 wird die Antragsgegnerin verpflichtet, die für den 29. Januar 2021 geplante Abschiebung des Antragstellers auszusetzen.
II. In Abänderung von Nr. 2 des Beschlusses des Bayerischen Verwaltungsgerichts München vom 21. Januar 2021 trägt die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,- Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller seinen in erster Instanz erfolglosen Antrag, der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben, einstweilen von der Durchsetzung der Ausreisepflicht durch Abschiebung in die Ukraine abzusehen, weiter.
Diesen Antrag lehnte das Bayerische Verwaltungsgericht München mit Beschluss vom 21. Januar 2021 ab. Zur Begründung führte es aus, eine aufenthaltsrechtliche Vorwirkung des Art. 6 GG in Bezug auf die im April erwartete Geburt des Kindes des Antragstellers, die eine Unmöglichkeit der Ausreise begründen könnte, sei schon deshalb nicht anzunehmen, weil bisher zur Überzeugung der Kammer nicht belegt worden sei, dass der Antragsteller und seine Ehefrau bereits in Verhältnissen lebten, welche die gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung und eine gemeinsame Erziehung und Betreuung des Kindes sicher erwarten ließen. So bestünden nach wie vor Unklarheiten hinsichtlich des bisherigen Zusammenlebens des Antragstellers und seiner Ehefrau. Die widersprüchlichen früheren Angaben seien auch im vorliegenden Verfahren nicht ausgeräumt worden. Gerade weil sein Vortrag noch vor kurzem als nicht ausreichend und widersprüchlich erachtet worden sei, hätte es dem Antragsteller oblegen, die Wohnverhältnisse und damit das eheliche Zusammenleben nun widerspruchsfrei darzulegen. Zudem würde aus Art. 6 GG auch im Rahmen einer Vorwirkung kein Anspruch des Antragstellers auf Aufenthalt folgen, sondern eine Verpflichtung der entscheidenden Behörden und Gerichte zur angemessenen Berücksichtigung der familiären Beziehung. Aufgrund der vielfachen Straffälligkeit des Antragstellers und des nach wie vor bestehenden Aggressionspotentials sei auch in der Zukunft von weiteren Konflikten auszugehen, die sowohl das familiäre Verhältnis beeinträchtigen würden als auch weitere Freiheitsstrafen erwarten ließen. Das Interesse des Antragstellers an einem Zusammenleben mit seinem derzeit noch ungeborenen Kind dränge das öffentliche Interesse an einer Ausreise des Antragstellers damit nicht zurück. Zu einer anderen Beurteilung führe insoweit auch nicht, dass bei der Ehefrau des Antragstellers im Dezember 2020 eine vorzeitige Wehentätigkeit mit Frühgeburtsbestrebungen festgestellt worden sei (vgl. ärztliche Bescheinigung vom 21.12.2020). So sei seitens des Antragstellers bereits nicht glaubhaft gemacht worden, dass seine Anwesenheit zur Unterstützung seiner Ehefrau auch noch zum aktuellen Zeitpunkt erforderlich sei. Seine Ehefrau sei ausweislich der Bescheinigung zwar vor ca. einem Monat in einer Klinik stationär behandelt, aber inzwischen wieder entlassen worden. Dass der Gesundheitszustand der Ehefrau des Antragstellers aber nach der Entlassung aus der Klinik die Anwesenheit des Antragstellers zwingend erfordern würde, ergebe sich aus der nur wenige Sätze umfassenden Bestätigung nicht. Diese stelle jedenfalls im Hinblick auf die festgestellte vorzeitige Wehentätigkeit nur eine Momentaufnahme dar und äußere sich nicht zu dem voraussichtlichen weiteren Verlauf der Schwangerschaft. Auch das zuletzt vorgelegte ärztliche Attest (vom 18. Januar 2021) genüge zur Glaubhaftmachung eines Anordnungsanspruchs nicht. Dies ergebe sich bereits aus dem Umstand, dass das Attest nicht von einem Facharzt, sondern einem Allgemeinmediziner ausgestellt worden sei.
Zur Begründung seiner Beschwerde lässt der Antragsteller durch seine beiden Bevollmächtigten vortragen, der Ehefrau könne nicht zugemutet werden, dass sie mit ihrem Kind, um das sich der Antragsteller auch mitgekümmert habe, in die Ukraine ziehe, um dort mit dem Antragsteller zusammenzuleben. Weiter werde ein Attest vom 25. Januar 2021 vorgelegt, aus dem sich ergebe, dass die Ehefrau des Antragstellers bereits leichte Wehen zeige und eine Risikoschwangerschaft vorliege. Aus diesem Attest ergebe sich zudem, dass die Ehefrau aus ärztlicher Sicht dringend Bettruhe benötige und auf die Hilfe ihres Ehemannes angewiesen sei. Aus hiesiger Sicht sei auch hinreichend belegt, dass der Antragsteller und seine Ehefrau bereits in Verhältnissen lebten, welche die gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung und eine gemeinsame Erziehung und Betreuung der Kinder sicher erwarten ließen. Der Antragsteller sei zwar mit Wohnsitz in München gemeldet gewesen, habe aber tatsächlich bei seiner Ehefrau in Taufkirchen gelebt. Des Weiteren werde eine Vaterschaftsanerkennung vom 25. Januar 2021 vorgelegt sowie die Anhörungsprotokolle vom 26. Januar 2021 im Rahmen der Beschwerde gegen die Anordnung der Abschiebehaft. Darin trägt der Antragsteller vor, er sei von der Polizei observiert worden. Diese habe gesehen, dass er sich in Taufkirchen aufgehalten und mit dem Kind seiner Ehefrau zusammengelebt habe. Er habe keine Scheinehe geführt. Er wolle bei der Geburt seines Kindes dabei sein. Auch die Ehefrau gab bei dieser Anhörung an, dass der Antragsteller in den letzten zwei Jahren immer bei ihr gewohnt habe. Er sei zwar nicht bei ihr gemeldet gewesen, weil die Hausverwaltung dagegen gewesen sei, dass er bei ihr einziehe. Die Schwangerschaft sei am 19. August 2020, also vor der Eheschließung, festgestellt worden.
Die Antragsgegnerin beantragt die Zurückweisung der Beschwerde. Weder die Schwangerschaft der Ehefrau noch die Vaterschaftsanerkennung durch den Antragsteller führten zu einer anderen Bewertung, als sie das Verwaltungsgericht im angefochtenen Beschluss angestellt habe. Das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung überwiege die gegenläufigen Interessen des Antragstellers, der immer wieder in schwerer Weise straffällig geworden und zu Jugend- und Freiheitsstrafen in einer Gesamthöhe von sieben Jahren und acht Monaten und Geldstrafen in Höhe von insgesamt 240 Tagessätzen verurteilt worden sei.
II.
Die zulässige Beschwerde ist begründet. Das Beschwerdevorbringen, auf dessen Überprüfung der Senat beschränkt ist (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO), rechtfertigt eine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Ob das Verwaltungsgericht zu Recht davon ausgegangen ist, dass die Abschiebung des Antragstellers nicht wegen der aufenthaltsrechtlichen Vorwirkung der Geburt eines Kindes, für das der Antragsteller die Vaterschaft anerkannt hat bzw. als dessen Vater er aufgrund der Eheschließung mit der Kindesmutter gilt, aus rechtlichen Gründen unmöglich ist (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG), kann offenbleiben. Zwar dürften die vom Verwaltungsgericht geltend gemachten Zweifel zur Frage des Zusammenlebens durch die Angaben im Anhörungsverfahren inzwischen ausgeräumt sein. Allerdings verhält sich das Beschwerdevorbringen nicht zu dem weiter vom Verwaltungsgericht angeführten Gesichtspunkt, dass zweifelhaft erscheine, ob die Beziehung des Antragstellers zu seiner Ehefrau die gemeinsame Übernahme der elterlichen Verantwortung und eine gemeinsame Erziehung und Betreuung des Kindes sicher erwarten ließen.
Der Antragsteller hat aber im Beschwerdeverfahren einen Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung (Duldung) nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG aus Art. 6 GG in Bezug auf seine Ehe und die bestehende (Risiko-)Schwangerschaft seiner Ehefrau hinreichend glaubhaft. Dieser Anspruch ergibt sich zwar noch nicht aus der Eheschließung als solcher (vgl. BayVGH, B.v. 12.11.2020 – 10 ZB 20.2257 – juris), aber aus der hinreichend glaubhaft gemachten Risikoschwangerschaft der Ehefrau. Nach Art. 6 Abs. 4 GG hat jede, insbesondere jede werdende Mutter Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der staatlichen Gemeinschaft. Der Schutz des Art. 6 Abs. 4 GG erfasst Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit. Neben dem verbindlichen Verfassungsauftrag an den Gesetzgeber, der vor allem die Gewährung einer „Schonzeit“ vor und nach der Geburt fordert, ist die Verfassungsnorm Ausdruck einer verfassungsrechtlichen Wertentscheidung, die für den gesamten Bereich des öffentlichen und privaten Rechts verbindlich ist (vgl. BVerfG, B.v. 8.6.2004 – 2 BvR 785/04 – juris m.w.N.). Die Zuerkennung von Abschiebungsschutz gemäß § 60a Abs. 2 AufenthG für den ausländischen Vater eines noch nicht geborenen deutschen Kindes kommt dann in Betracht, wenn eine Gefahrenlage für das ungeborene Kind oder die Mutter (Risikoschwangerschaft) besteht und die Unterstützung der Schwangeren durch den Abzuschiebenden glaubhaft gemacht wird (vgl. OVG LSA, B.v. 17.1.2019 – 2 M 153/18 – juris; OVG Berlin-Bbg, B.v. 3.9.2012 – OVG 11 S 40.12 – juris). Durch das im Beschwerdeverfahren vorgelegte Attest der Fachärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe L. K. vom 25. Januar 2021 hat der Antragsteller hinreichend glaubhaft gemacht, dass bei seiner Ehefrau eine Risikoschwangerschaft und die Gefahr einer Frühgeburt besteht. Dieses fachärztliche Attest enthält entgegen dem im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegten hausärztlichen Attest vom 18. Januar 2021 (auch) Ausführungen dazu, worauf sich die Diagnose der Risikoschwangerschaft stützt, und macht Angaben dazu, welcher Verlauf der Schwangerschaft zu erwarten ist. Zudem führt die Fachärztin nachvollziehbar aus, dass die Ehefrau dringend Bettruhe benötige und deshalb auf die Unterstützung ihres Ehemannes angewiesen sei. Soweit die Antragsgegnerin in ihrer Beschwerdeerwiderung insoweit lediglich darauf hinweist, dass die Ehefrau des Antragstellers immerhin am 26. Januar 2021 in der Lage gewesen sei, die Anhörung vor dem Landgericht Ingolstadt im Haftbeschwerdeverfahren durchzuführen, wird dadurch die fachärztliche Bewertung einer Risikoschwangerschaft und Frühgeburt nicht durchgreifend widerlegt. Ausreichende Anhaltspunkte für die Annahme, dass der Antragsteller die erforderliche Unterstützung bzw. Beistandsleistung nicht erbringen wird, liegen dem Senat aktuell nicht vor. Vor diesem Hintergrund gebietet die grundrechtliche Schutzwirkung aus Art. 6 GG ungeachtet des von der Antragsgegnerin nochmals betonten erheblichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung des vollziehbar ausreisepflichtigen Antragstellers aktuell die Aussetzung der Abschiebung. Sollte sich allerdings im weiteren Verlauf der Schwangerschaft ergeben, dass der Antragsteller seine Ehefrau entgegen der jetzigen Einschätzung nicht entsprechend unterstützt, fiele die dargelegte Schutzwirkung des Art. 6 GG und damit die rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG weg.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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