Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot für afghanischen Staatsangehörigen wegen fehlender Sicherung des Lebensunterhalts im Einzelfall

Aktenzeichen  Au 6 K 17.33009

Datum:
7.2.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 4127
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Volkszugehörige der Hazara einschließlich der Untergruppe der Sayed/Sadat sind in Afghanistan keiner an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten Verfolgung durch die Taliban oder andere nichtstaatliche Akteure ausgesetzt. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Auf die Klage hin wird Ziffer 4 des angefochtenen Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 16. Mai 2017 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet festzustellen, dass für den Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
Ziffern 5 und 6 dieses Bescheids werden aufgehoben, soweit sie dieser Verpflichtung entgegenstehen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Der Kläger hat von den Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zwei Drittel und die Beklagte hat ein Drittel zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch den jeweiligen Vollstreckungsgläubiger durch Sicherheitsleistung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Vollstreckungsgläubiger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist nur teilweise begründet. Der Kläger hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder auf die Gewährung subsidiären Schutzes, allerdings auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG (§ 113 Abs. 5 VwGO). Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes vom 16. Mai 2017 ist daher im tenorierten Umfang rechtswidrig und aufzuheben, aber im Übrigen rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Es wird insoweit Bezug genommen auf die Gründe des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
1. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i. S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten. Die Gefahr einer derartigen Verfolgung bei seiner Rückkehr nach Afghanistan hat der Kläger nicht glaubhaft gemacht.
a) Es ist Sache des Schutzsuchenden, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
b) Eine Verfolgung allein wegen seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara hat der Kläger nicht zu befürchten. Volkszugehörige der Hazara einschließlich der Untergruppe der Sayed/Sadat unterliegen in Afghanistan zwar einer gewissen Diskriminierung, sind aber keiner durch die Taliban oder anderer nichtstaatlicher Akteure an ihre Volks- oder Religionszugehörigkeit anknüpfenden gruppengerichteten politischen oder religiösen Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG ausgesetzt, noch besteht für sie eine entsprechende Gefahrendichte im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. Die Hazara sind eine in Untergruppen zerfallende Minderheiten-Volksgruppe in Afghanistan mit Siedlungsschwerpunkt in der Provinz Bamyan; ihre Zahl wird auf rund 1,5 Mio. Menschen in Afghanistan und rund 150.000 Menschen im Iran geschätzt. Hazara unterlägen zwar fortwährender, sozial, rassisch oder religiös motivierter gesellschaftlicher Diskriminierung in Form von Gelderpressungen durch illegale Besteuerung, Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Gewalt und Haft; die Zahl der Entführungen sei seit dem Jahr 2015 gestiegen, teils freigelassen bzw. gegen andere Häftlinge ausgetauscht worden (ACCORD, Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, Aktuelle Situation der Volksgruppe der Hazara, Abfrage vom 26.8.2016, http://www.ecoi.net/local_link/325973/465909_de.html). Es fehlt aber an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte (BayVGH, U.v. 3.7.2012 – 13a B 11.30064 – juris Rn. 20 ff.; BayVGH, B.v. 23.5.2017 – 13a ZB 17.30314 – Rn. 9; BayVGH, B.v. 14.9.2017 – 13a ZB 17.30854 – Rn. 6 f.). Auch unter Berücksichtigung und Würdigung der aktuellen Auskunftslage und der Stellungnahme des UNHCR (Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 19.4.2016) ergibt sich keine abweichende rechtliche Bewertung. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amts hat sich für die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgten Hazara die Lage grundsätzlich verbessert (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 19.10.2016, im Folgenden: Lagebericht, S. 9). Auch der im Lagebericht geschilderte Überfall auf eine Gruppe Hazara auf der Straße von Kabul nach Kandahar, zeigt die latenten Spannungen zwischen Taliban und Hazara, führt wegen der räumlichen Entfernung zu Kabul aber nicht zur Annahme einer auch dort generell für Hazara gesteigerten Leibes- und Lebensgefahr.
Dies gilt auch für die Zugehörigkeit zur Religionsgruppe der Schiiten, da Schiiten zwar nicht in allen Landesteilen gleichermaßen zahlenmäßig vertreten sind, aber doch neben den Sunniten mit etwa 19% die zahlenmäßig nächst große Religionsgruppe bilden (Lagebericht S. 10) und ein entsprechendes Gegengewicht bilden, so dass nicht von einer landesweiten Gruppenverfolgung ausgegangen werden kann. Einzelne lokale oder regionale Übergriffe radikaler Sunniten ändern nichts daran, dass die Bevölkerung Afghanistans seit jeher auch einen hohen Anteil an Schiiten umfasst und diese auch politisch repräsentiert sind (Lagebericht S. 10).
c) Der Kläger konnte auch mit seinem individuellen Vortrag nicht glaubhaft machen, dass ihm in Afghanistan eine flüchtlingsrelevante Verfolgung droht.
Soweit der Kläger als Fluchtgrund jährlich wiederkehrenden gewalttätigen Streit seiner Gruppe der Hazara im Heimatdorf mit nomadisierenden paschtunischen Volkszugehörigen (Kuche/Kuchi) angegeben hat, ist daraus keine ihn heute gezielt treffende und landesweite Verfolgung ersichtlich, da die Kuchi schon mangels Territorialgewalt keine Verfolger im Sinne des § 3c Nr. 2 AsylG sind. Darüber hinaus sind der afghanische Staat und seine Stellen bemüht, den Hazara Schutz zu gewähren und den Konflikt zu entschärfen bzw. zu lösen. Der afghanische Staat ist insoweit schutzwillig und schutzfähig, wobei kein lückenloser Schutz verlangt werden kann.
Der seit langem schwelende Konflikt zwischen nomadisierenden sunnitischen Paschtunen (Kuchi) und sesshaften schiitischen Hazara in den Provinzen Ghazni und Wardak in Zentralafghanistan kreist um Wasser und Weideland für beide in ihrem agrarischen Lebensstil darauf angewiesene Gruppen. Ausgangspunkt sind hierbei ungeklärte Rechte an Wasser und Boden (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 19.10.2016, S. 10), weil diese Rechte unter monarchischer Herrschaft im 19. Jahrhundert während einer damaligen Verfolgung bzw. Vertreibung der Hazara zunächst vielfach Kuchi zugewiesen wurden, die Rechteübertragung unter dem nachfolgenden Herrscher aber teilweise widerrufen und von Hazara nicht hingenommen wurde (vgl. Christina Köhler, Afghanistan: Der Kuchi-Hazara-Konflikt, www.vergessene-konflikte.de, Abruf vom 11.1.2018). Die Kuchi ziehen jedes Jahr im Frühjahr mit ihren Herden auf der Suche nach Weideland in das zentralafghanische Hochland, wo es zu Konflikten mit den dort ansässigen Hazara kommt, die ebenfalls ökonomisch auf das Weideland angewiesen sind. Seit 2007 hat sich der Streit verschärft und in nahezu jedem Frühjahr zu gewaltsam ausgetragenen Konflikten geführt; im Jahr 2008 wurde die afghanische Armee dorthin entsandt und zwang die Kuchi zum Rückzug, 2009 schwelte der Streit weiter und erreichte 2010 wieder einen gewalttätigen Höhepunkt. Die Regierung bemühte sich um eine langfristige politische Lösung; bislang ohne Erfolg (vgl. Köhler a.a.O.). Dürre und Bevölkerungswachstum verschärfen den Konflikt zusätzlich, zumal die Kuchi auf ihren Wanderungen im Winter aus Afghanistan über Pakistan bis in die chinesische Region Xinjiang und im Frühjahr zurück ins zentralafghanische Hochland (das mehrheitlich von Hazara bewohnte Hazarajat) nirgends sesshaft sind (vgl. Joachim Hoelzgen, Kampf mit Panzerfäusten um das Gras, Spiegel online vom 19.4.2008, www.spiegel.de; auch Accord, Informationen zu Auseinandersetzungen zwischen Kuchi und Hazara u.a. vom 5.2.2013, www.ecoi.net, jeweils Abruf vom 11.1.2018). Nicht belegt sei, dass die Kuchi von Taliban unterstützt würden oder einen Hazara in einem anderen Gebiet aufspüren könnten; Lösungsversuche durch Ansiedlung von Kuchi seien gescheitert; diese hätten ihnen übereignetes Land verkauft und seien weitergezogen (Accord a.a.O.).
Dies zu Grunde gelegt, handelt es sich beim Konflikt zwischen Kuchi und Hazara um einen vor allem ökonomischen, ethnisch-religiös überlagerten Konflikt, bei dem nicht von einer Territorialgewalt der ohnehin nicht sesshaften Kuchi und auch nicht von einer landesweiten und dauerhaften Bedrohung der Hazara, sondern allenfalls von einer jahreszeitlich wiederkehrenden regionalen Gefährdung ausgegangen werden kann. Es handelt sich um private Gewaltanwendung beider Seiten im Schatten des zentralen afghanischen Konfliktes zwischen Regierung und auswärtigen Mächten einerseits und Taliban sowie weiteren irregulären Kombattanten andererseits. Eine dauerhafte landesweite Bedrohung, ja auch nur eine die gesamte Herkunftsregion des Klägers erfassende Gefahr ist nicht erkennbar, zumal sein Vater und seine Brüder, zu denen er telefonisch Kontakt hat, offenbar weiterhin in der Herkunftsregion von der Weidewirtschaft leben. Für den Fall der Rückkehr nach Afghanistan fürchtet der Kläger zwar allgemein um sein Leben, aber daraus ist keine hinreichend konkrete Verfolgungsfurcht vor einer ihn heute gezielt treffenden und landesweiten Verfolgung zu entnehmen. Hinzu kommt, dass der Verfolgungszusammenhang zwischen der glaubhaften Geiselnahme und Misshandlung durch die Kuchi im Alter von zwölf Jahren und der Ausreise des Klägers im Alter von mindestens 15 Jahren wegen des zwischenzeitlichen Verbleibs im Herkunftsstaat fehlt.
d) Auf eine zumutbare inländische Fluchtalternative nach § 3e AsylG in den größeren Städten, insbesondere in Kabul, kommt es daher für den Kläger nicht an.
2. Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes i.S. des § 4 Abs. 1 AsylG. Er hat keine stichhaltigen Gründe für die Annahme vorgebracht, dass ihm bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein ernsthafter Schaden i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1 bis 3 AsylG droht.
a) Der Kläger hat eine ernsthafte Bedrohung, so sie eine Gefährdungslage i.S. des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG begründen würde, nicht glaubhaft gemacht (vgl. oben). Nach Auffassung des Gerichts hat der Kläger damit eine konkrete Gefährdungslage, die ihn zur Ausreise veranlasste und die heute seiner Rückkehr in sein Heimatland entgegensteht, nicht glaubhaft gemacht.
b) Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG liegen nicht vor. Dem Kläger droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan und insbesondere nach Kabul nach derzeitigem Kenntnisstand des Gerichts auch keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts.
Die Frage, ob die in Afghanistan oder Teilen von Afghanistan stattfindenden gewalttätigen Auseinandersetzungen nach Intensität und Größenordnung als vereinzelt auftretende Gewalttaten i.S. von Art. 1 Nr. 2 des Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte (BGBl. 1990 II S. 1637) – ZP II – oder aber als anhaltende Kampfhandlungen bewaffneter Gruppen im Sinne von Art. 1 Nr. 1 ZP II zu qualifizieren sind, kann dahinstehen, weil nach der Überzeugung des Gerichts der Kläger keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt wäre. Denn es fehlt vorliegend an einer Verdichtung allgemeiner Gefahren, die weitere Voraussetzung für die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG ist.
Eine Verdichtung allgemeiner Gefahren ist in der Heimatprovinz des Klägers in … nicht anzunehmen. Ausgehend von einer Bevölkerungszahl von über 596.000 Menschen in der Heimatprovinz … (EASO Country of Origin Information Report, Afghanistan, Security Situation, November 2016, S. 57, www.easo.europa.eu/sites/default/files/Nov%2016%20-Afghanistan%20 security%20report.compressed.pdf) und einer Opferzahl von 44 Personen im ersten Halbjahr (UNAMA, Midyear Report vom Juli 2017, S. 73, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/protection_of_civilians_in_armed_conflict_midyear_report_2017_july_2017.pdf) sind selbst bei Verdoppelung der Opferzahl (als Hochrechnung auf den Zeitraum eines ganzen Jahres) weder die Anforderungen der Rechtsprechung an einen bewaffneten innerstaatlichen Konflikt erfüllt (vgl. BayVGH, B.v. 17.8.2016 – 13a ZB 16.30090 – Rn. 10 m.w.N.; BayVGH, B.v. 25.1.2017 – 13a ZB 16.30374 – Rn. 11), noch ist ein im Sinne der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes (vgl. BVerwG, U. v. 17.11.2011 – 10 C 13.10 – juris) entsprechend hohes Risiko, Opfer willkürlicher Gewalt zu werden, gegeben. Für Wardak teilt UNAMA im Halbjahresbericht 2017 (a.a.O. S. 73) mit, dass dort 20 Zivilisten getötet und 23 verletzt worden seien sowie sich die Opferzahl gegenüber dem Vorjahreszeitraum um 22% verringert habe. Damit ist das Risiko, dort durch Anschläge Schaden an Leib oder Leben zu erleiden, noch weit unterhalb der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit.
Es spricht vorliegend auch nichts dafür, dass der Kläger sich sonst derart exponiert hat, dass er landesweit eine Verfolgung befürchten müsste. Dies ergibt sich zum Einen aus seiner eigenen Verfolgungsgeschichte, die keine aktuellen konkret-individuellen Bedrohungen seiner Person in Afghanistan aufweist, zum Anderen daraus, dass er nie mit der Waffe in der Hand in einen Konflikt verwickelt gewesen ist. Individuelle, gefahrerhöhende Umstände, die zu einer Verdichtung der allgemeinen Gefahren im Rahmen eines bewaffneten internationalen Konflikts in der Person des Klägers führen, hat dieser nicht vorgetragen. Zudem ist der Konflikt zwischen Kuchi und Hazara nicht dauerhaft, sondern jahreszeitlich bedingt aufflammend.
3. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG liegt allerdings vor.
a) Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK setzt voraus, dass der Betroffene im Falle einer Rückkehr einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt wäre. Dies wäre bei dem Kläger jedenfalls derzeit der Fall, wenn er nach Afghanistan zurückkehren müsste.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Dies ist insbesondere auch dann der Fall, wenn es dem Betroffenen nicht (mehr) gelingen würde, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (vgl. BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – Asylmagazin 2015, 197) und die aus zu erwartenden schwierigen Lebensbedingungen resultierenden Gefährdungen im Einzelfall eine solche Intensität aufweisen, dass auch ohne konkret drohende Maßnahmen von einer unmenschlichen Behandlung auszugehen ist.
Hier liegen diese besonders strengen Voraussetzungen vor. Der psychisch kranke und körperlich durch die Armverletzung ersichtlich eingeschränkt bewegungs- und damit auch erwerbsfähige Kläger würde im Fall seiner Abschiebung nach Afghanistan einer besonderen Ausnahmesituation ausgesetzt sein, die mit hoher Wahrscheinlichkeit dazu führen würde, dass seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums nicht gesichert wären.
Das Gericht geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass ein alleinstehender Mann seinen Lebensunterhalt in Kabul sicherstellen kann (vgl. BayVGH, B.v. 13.12.2016 – 13a ZB 16.30116 – Rn. 4, 6; BayVGH, B.v. 3.7.2017 – 13a ZB 17.30531 – Rn. 4), wenn er volljährig, arbeitsfähig und mit den Lebensverhältnissen in Afghanistan vertraut ist, wobei maßgeblich nicht einmal ein Vertrautsein erforderlich ist, sondern es für einen Rückkehrer genügt, wenn er den größten Teil seines Lebens in einer islamisch geprägten Umgebung verbracht hat und eine der beiden Landessprachen spricht (BayVGH, B.v. 13.12.2016 – 13a ZB 16.30116 – Rn. 4). Daran fehlt es beim Kläger insoweit, als er zwar gerade volljährig und in Deutschland unter den hier für ihn deutlich günstigeren Umständen (Betreuungs- und Wohnsituation) ausbildungs- und erwerbsfähig ist, vor seiner Ausreise aus Afghanistan aber nicht erwerbstätig war, derzeit jedenfalls physisch und psychisch deutlich gemindert belastbar ist, so dass er voraussichtlich außer Stande wäre, ohne Hilfe Dritter – er hat zwar Familie in Afghanistan, aber nicht in Kabul – sich dort zurechtzufinden und seine elementarsten Bedürfnisse im Sinne eines absoluten Existenzminimums noch zu sichern. Der Kläger ist jedenfalls derzeit aufgrund seiner individuellen Disposition besonders schutzbedürftig:
Unter Zurückstellung der Bedenken gegen die Aussagekraft der ärztlichen Atteste hinsichtlich der dort diagnostizierten, aber anamnestisch – z.B. hinsichtlich der behaupteten Flashbacks im Bundesgebiet ohne Nennung der Trigger – nicht ausreichend substantiierten Posttraumatischen Belastungsstörung (zu den Anforderungen an die traumatisierenden Erlebnisse für eine Diagnose einer PTBS BayVGH, B.v. 17.10.2012 – 9 ZB 10.30390 – AuAS 2013, 9) ist der Kläger derzeit jedenfalls psychisch erkrankt und eingeschränkt belastbar. Nach dem fachärztlichen Attest (Dr., Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Attest vom 31.5.2017, VG-Akte Bl. 55, Attest vom 5.2.2018, jeweils unter Bestätigung früherer Diagnosen) leidet der Kläger an einer akuten Belastungsreaktion, Depression, PTBS und erhält eine medikamentöse Behandlung mit Opipramol sowie seit einigen Monaten und noch andauernd eine ambulante psychotherapeutische Behandlung. Die Erkrankung bestand schon vor Erhalt des Ablehnungsbescheides des Bundesamtes, so dass die deutliche Verschlechterung der depressiven Symptomatik nach dessen Erhalt nicht auf eine inlandsbezogene Erkrankung hinweist, wie dies bei einer erstmals nach Erhalt aufgetretenen Erkrankung naheläge. Auf Grund der Problematik sei weiterhin eine regelmäßige psychotherapeutische, psychiatrische und medikamentöse Behandlung erforderlich. Bei einem Wegfall der Therapien z.B. durch Abschiebung sei von einer massiven Verschlimmerung der Problematik auszugehen.
Dies zu Grunde gelegt, ist der Kläger jedenfalls derzeit besonders schutzbedürftig, da eine hinreichende Besserung seiner psychischen Gesundheit noch nicht absehbar ist.
b) Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16 und 17). Es kann daher dahingestellt bleiben, ob die bisher vorliegenden Atteste bereits ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 2 AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, rechtfertigen.
4. Die Gewährung von Abschiebungsschutz hat zur Folge, dass auch die entsprechende Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 (§ 34 Abs. 1 AsylG) sowie das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot in Ziffer 6 des streitgegenständlichen Bescheids (§ 11 Abs. 1 AufenthG) derzeit aufzuheben waren.
3. Kosten: § 155 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG; vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. der Zivilprozessordnung (ZPO).

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