Verwaltungsrecht

Abschiebungsverbot hinsichtlich Sierra Leone

Aktenzeichen  M 30 K 17.40647

Datum:
20.12.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 38275
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7
AsylG § 3, § 4

 

Leitsatz

Die allgemein schlechten humanitären und wirtschaftlichen Bedingungen in Sierra Leone begründen für sich genommen kein Abschiebungsverbot, wenn nicht individuell gefahrerhöhende Umstände hinzutreten. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Mai 2017 wird in den Nrn. 4 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Sierra Leone vorliegen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt die Klägerin ¾ und die Beklagte ¼.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Hinsichtlich der ursprünglich erhobenen Klage auf Anerkennung der Klägerin als Asylberechtigte i.S.v. Art. 16a Grundgesetz (GG), die Zuerkennung des Flüchtlingseigenschaft i.S.v. § 3 AsylG sowie subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG ist das Verfahren nach der Erklärung der insoweit teilweisen Klagerücknahme in der mündlichen Verhandlung durch die Prozessbevollmächtigte einzustellen und der angegriffene Bescheid rechtskräftig geworden.
Im Übrigen ist die zulässige Klage begründet. Die ablehnende Entscheidung des Bundesamtes vom 11. Mai 2017 in Bezug auf die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG ist zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung, § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG, rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Bei der Klägerin liegt in Bezug auf Sierra Leone vielmehr ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vor.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschliche oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene für den Fall seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Auch wenn es an einem verantwortlichen Akteur für eine erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK fehlt, können auch schlechte humanitäre Verhältnisse ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK begründen (VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn 164 m.w.N.), allerdings nur in besonderen Ausnahmefällen, wenn außerordentliche individuelle Umstände hinzutreten. Dabei können außergewöhnliche individuelle Umstände auch solche sein, die eine Person mit anderen Personen teilt, die Träger des gleichen Merkmals sind bzw. sich in einer im Wesentlichen vergleichbaren Lage befinden (VGH BW, a.a.O. Rn 172 m.w.N.). Es sind also im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht nur Gefahren für Leib und Leben berücksichtigungsfähig, die seitens eines Staates oder einer staatsähnlichen Organisation drohen, sondern auch „nichtstaatliche“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen, wobei dies nur in ganz außergewöhnlichen Einzelfällen in Betracht kommt. Hierbei sind indes eine Vielzahl von Faktoren und somit die jeweiligen Gesamtumstände zu berücksichtigen, darunter etwa der Zugang für Rückkehrer zur Arbeit, Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung sowie die Chance, eine adäquate Unterkunft zu finden, der Zugang zu sanitären Einrichtungen und nicht zuletzt die finanziellen Mittel zur Befriedigung elementarer Bedürfnisse, auch unter Berücksichtigung von Rückkehrhilfen usw. (BayVGH, U.v. 23.3.2017 – 13a B 17.30030 – juris Rn 23; VGH BW, a.a.O. Rn 174 m.w.N.).
Auch wenn es sich bei den national begründeten Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK und dem nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris Leitsatz), lässt sich der nationale Maßstab für eine extreme Gefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht auf die in § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK getroffene Regelung übertragen. Erforderlich, aber auch ausreichend, ist vielmehr die tatsächliche Gefahr („real risk“), d.h. es muss eine ausreichend reale, nicht nur auf bloßer Spekulation, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr bestehen, was dem Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2010 – 10 C 11/09 – juris Rn. 14; VGH BW, a.a.O. Rn 183 ff.).
Dies ist vorliegend unter Berücksichtigung der von der Klägerin geltend gemachten besonderen Einzelfallumstände bei ihr in Bezug auf eine Abschiebung nach Sierra Leone bejahen. Dabei sieht das Gericht keine Anhaltspunkte, die gegen die Glaubhaftigkeit ihrer Angaben sprechen. Die Ungenauigkeiten bei der Angabe der Dauer ihres Schulbesuchs könnten durchaus als übersetzungsbedingt sein.
Sierra Leone gehört zu den ärmsten Staaten der Erde und belegt nach dem Human Development Index von 2017 Rang 184 der 189 untersuchten Länder. Ein Großteil der Bevölkerung (ca. 77%) lebt in absoluter Armut und hat weniger als 2 US-Dollar pro Tag zur Verfügung (vgl. Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ): LIPortal – Länder-Informations-Portal – Sierra Leone (LIPortal); BFA Republik Österreich: Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Sierra Leone, 3.5.2017). Die Nachwirkungen des Bürgerkrieges, die weit verbreitete Korruption und die unzureichend ausgebaute Infrastruktur beeinflussen die wirtschaftliche Lage in Sierra Leone (vgl. LIPortal). Die Arbeitslosigkeit im Land ist sehr hoch (Bertelsmann Stiftung, Bertelsmann Stiftung’s Transformation Index (BTI) 2016 – Sierra Leone Country Report, Gütersloh, Bertelsmann Stiftung, 2016; BFA Republik Österreich a.a.O.). Es wird geschätzt, dass ungefähr zwei Drittel der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig sind (vgl. LIPortal; BFA Republik Österreich a.a.O.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Informationszentrum Asyl und Migration, Glossar Islamische Länder – Band 17 Sierra Leone, Mai 2010). Die Mehrheit der Bevölkerung versucht zudem mit Gelegenheitsjobs oder Handel ein Auskommen zu erwirtschaften. Dabei wird die Subsistenzwirtschaft in Familien oft parallel oder alternativ genutzt, um den Lebensunterhalt zu sichern (LIPortal; BFA Republik Österreich a.a.O.). Die medizinische Versorgung ist in Sierra Leone nach wie vor schwierig und es herrscht ein ausgeprägter Mangel an Fachärzten (vgl. BFA Republik Österreich a.a.O.; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Informationszentrum Asyl und Migration, Glossar Islamische Länder – Band 17 Sierra Leone, Mai 2010).
Diese schlechten humanitären und wirtschaftlichen Bedingungen begründen zwar für sich genommen ohne weiteres noch kein Abschiebungsverbot nach Sierra Leone, jedoch vorliegend unter Berücksichtigung der individuellen gefahrerhöhenden und glaubhaften Umstände der Klägerin. Das Gericht sieht bei der Klägerin die reale beachtliche Gefahr, sich kein Existenzminimum in Sierra Leone sichern zu können.
Ausschlaggebend ist für das Gericht dabei, dass die Klägerin bereits im Alter von vier Jahren ihr Heimatland nach Nigeria verlassen hat. Der Klägerin mag zwar die west-afrikanische Kultur vertraut sein, die besonderen Lebensbedingungen, Verhältnisse, Gepflogenheiten, Bedingungen bei Wohnungs- und Berufssuche usw. in Sierra Leone sind der Klägerin hingegen fremd. Schließlich sind die Lebensbedingungen in Nigeria nicht mit denen in Sierra Leone vergleichbar. Wenn das Bundesamt im Bescheid annimmt, der Klägerin werde es gelingen, sich allmählich wieder in die sierra-leonische Gesellschaft zu integrieren, verkennt es, dass die Klägerin tatsächlich nie in der sierra-leonischen Gesellschaft integriert gewesen ist. Unterstützung durch Verwandte oder Bekannte in Sierra Leone kann die Klägerin nicht erfahren. Ihren Angaben nach hat die Klägerin in Sierra Leone keinerlei Familie oder soziales Netzwerk. Selbst ihre Onkel und Stiefmütter mit deren Kindern seien an Ebola gestorben. Von ihrem Mann lebt die Klägerin dauerhaft getrennt und hat von ihm ihrerseits keine Unterstützung zu erwarten. Vielmehr hat die Klägerin entgegen der Annahme des Bundesamtes im Bescheid vom 11. Mai 2017 letztlich doch Unterhaltslasten insoweit zu tragen, als sie ihre Kinder in Nigeria bei einem sie betreuenden Pastor zurückgelassen hat und diese finanziell unterstützt, u.a. um ihnen den Schulbesuch zu ermöglichen. Zwar mag die Klägerin auf ein gewisses Maß an Schulbildung und Ausbildung bzw. Berufserfahrung im Friseurbereich zurückblicken. Auch ist von einer grundsätzlichen gewissen Erwerbsfähigkeit auszugehen. Hierbei kommt aber den – den Anforderungen des § 60a Abs. 2c AufenthG zwar nicht genügenden und somit kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründenden – Attesten in Bezug auf die psychische Verfassung der Klägerin durchaus doch ein gewisses Gewicht zu. Auch unter Berücksichtigung des Eindrucks von der Klägerin in der mündlichen Verhandlung ist diese im Ergebnis dem vulnerablen Personenkreis für den Fall einer Abschiebung nach Sierra Leone zuzuordnen. Vorliegend ist sodann nicht mehr entscheidungserheblich, dass bzw. inwieweit weibliche Geheimgesellschaften wie … oder … etc. einen großen Einfluss in Sierra Leone haben und die Klägerin dort nicht Mitglied ist, sondern vielmehr in Nigeria entsprechende negative Erfahrungen und Probleme mit solchen Gesellschaften hatte.
Dass es der Klägerin unter Berücksichtigung all dieser Aspekte bei den vorherrschenden Bedingungen in Sierra Leone auf sich alleine gestellt gelingen wird, sich ein Existenzminimum zu sichern, ist entgegen der Ausführungen im Bescheid des Bundesamtes nicht wahrscheinlich und die Klage vielmehr insoweit begründet.
Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 VwGO mit einer Gewichtung des Asylantrags i.S.v. § 13 AsylG von ¾ und der nationaler Abschiebungsverbote von ¼. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG). Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung und die Abwendungsbefugnis ergeben sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordung (ZPO).

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