Aktenzeichen M 6 S 21.31054
Leitsatz
Nach der Machtübernahme der Taliban ist ein normales wirtschaftliches Leben in Afghanistan derzeit nicht möglich. Die Lage wird sich künftig weiter verschärfen, weil Entwicklungshilfeleistungen und Rückkehrhilfen bereits ausgesetzt wurden und Hilfsorganisationen teilweise ihr Personal aus Afghanistan abgezogen haben. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ziffer 3 des Bescheids der Antragsgegnerin vom 23. April 2021 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Gründe
I.
Der Antragsteller, nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger, wendet sich im Wege des Eilrechtsschutzes gegen eine von der Antragsgegnerin verfügte Abschiebungsandrohung nach Afghanistan.
Der Antragsteller hat in Griechenland bereits ein Asylverfahren durchlaufen und sein Asylantrag wurde abgelehnt. Nach Mitteilung der griechischen Behörden vom 23. Februar 2021 wurde die Berufung gegen die ablehnende Entscheidung am 10. Juli 2020 endgültig zurückgewiesen.
Am … Februar 2021 stellte der Antragsteller in der Bundesrepublik Deutschland einen Asylantrag.
Die Begründung des Zweitantrages erfolgte im Rahmen der persönlichen Anhörung des Antragstellers am … Februar 2021.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 23. April 2021, lehnte das Bundesamt den Antrag als unzulässig ab (Nr. 1), stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (Nr. 2), drohte dem Antragsteller unter Setzung einer einwöchigen Frist zur freiwilligen Ausreise nach Bekanntgabe der Entscheidung die Abschiebung nach Afghanistan oder in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder dazu seine Rückübernahme verpflichtet ist, an (Nr. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung. Auf die Begründung des Bescheids wird Bezug genommen.
Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller am 5. Mai 2021 Klage zur Niederschrift beim Bayerischen Verwaltungsgericht München und beantragte, den Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 23. April 2021 aufzuheben und das Bundesamt verpflichten festzustellen, dass Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG vorliegen (M 6 K 21.31053). Ferner hat er beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage hinsichtlich der Abschiebungsandrohung anzuordnen.
Zur Begründung bezog er sich auf seine Angaben gegenüber dem Bundesamt.
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schreiben vom 17. Mai 2021,
den Antrag abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichts- und die Behördenakten Bezug genommen.
II.
1. Die Entscheidung ergeht nach § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG durch den Berichterstatter als Einzelrichter.
2. Der Antrag ist zulässig und begründet.
a) Der Antrag ist zulässig, soweit damit die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, § 75 i.V.m. §§ 71a Abs. 4, 36 AsylG) sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheids erreicht werden soll. Die Antragstellung erfolgte auch fristgerechnet innerhalb der Wochenfrist des § 71a Abs. 4 i.V.m. § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG, nachdem der Bescheid der Antragstellerin am 30. April 2021 zugestellt wurde.
b) Der Antrag ist auch begründet. Gemäß §§ 71a Abs. 4, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung im Falle eines Zweitantrages, der nicht zur Durchführung eines weiteren Asylverfahrens führt, nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – DVBl 1996, 739 – juris Rn. 99). Dies ist vorliegend im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung der Fall.
Eine Abschiebungsandrohung kann nach § 34 Abs. 1 Nr. 3 AsylG nur ergehen, wenn die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und 7 des AufenthG nicht vorliegen. Zumindest hieran bestehen ernstliche Zweifel.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685; Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 = NVwZ 2013, 1167 – juris Rn. 25). Soweit ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch (schlechte) humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – Asylmagazin 2019, 311 – juris Rn. 12; B.v. 23.8.2018 – 1 B 42.18 – juris Rn. 9: „nur in besonderen Ausnahmefällen“; U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – BVerwGE 147, 8 – NVwZ 2013, 1489 – juris Rn. 25; U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12 – NVwZ 2013, 1167 – juris Rn. 25 unter Bezugnahme auf EGMR, U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681 Rn. 278 ff.; BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 19; U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – Asylmagazin 2015, 197 – juris Rn. 17; OVG NW, U.v. 18.6.2019 – 13 A 3930/18 – juris Rn. 104 ff. m.w.N.; NdsOVG, U.v. 29.1.2019 – 9 LB 93/18 – juris Rn. 45 ff. m.w.N.; VGH BW, U.v. 12.10.2018 – A 11 S 316/17 – juris Rn. 176 f.). Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner neueren Rechtsprechung zum inhaltlich Art. 3 EMRK entsprechenden Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 202 v. 7.6.2016, S. 389 – GRCh) darauf ab, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (EuGH, U.v. 19.3.2019 – Ibrahim, C-297/17 u.a. – juris Rn. 89 ff.; U.v. 19.3.2019 – Jawo, C-163/17 – juris Rn. 92 ff.; vgl. auch BVerwG, U.v. 18.2.2021 – 1 C 4.20 – juris Rn. 65.). In zeitlicher Hinsicht geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41738/10 Paposhvili – NVwZ 2017, 1187 Rn. 175 ff.) davon aus, dass ein schwerwiegender, irreversibler Zustand schnell eintreten müsse. Diese Rechtsprechung bezieht sich zwar auf eine Erkrankung, kann aber auf die hier maßgebliche Befriedigung der elementarsten Bedürfnisse bzw. den Zustand der Verelendung übertragen werden (so auch OVG Hamburg, U.v. 25.3.2021 – 1 Bf 388/19.A – juris Rn. 49; OVG Bremen, U.v. 12.2.2020 – 1 LB 276/19 – juris Rn. 48; a.A. VGH BW, U.v. 17.12.2020 – A 11 S 2042/20 – juris Rn. 110 f., der eine nachhaltige Existenzsicherung fordert).
Hiervon ausgehend droht dem Antragsteller bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung.
Die Taliban haben, nachdem sie nach dem Abzug der ausländischen Truppen in schneller Folge große Gebietsgewinne haben verzeichnen können und ganze Provinzen kampflos durch die Regierungstruppen aufgegeben worden sind, am 15. August 2021 kampflos Kabul eingenommen. Der gewählte afghanische Präsident ist ins Ausland geflüchtet. Die internationalen Truppen hielten noch bis 30. August 2021 den Flughafen Kabul, um eigene Staatsangehörige und auch Ortskräfte, deren Familien und besonders gefährdete Personen evakuieren zu können. Der zivile Luftverkehr wurde eingestellt.
Auch dürfte sich die wirtschaftliche Lage in Afghanistan weiter verschlechtern, sodass es dem Antragsteller auch aus diesem Grund schwerfallen dürfte seinen Lebensunterhalt zu sichern. In den von den Taliban beherrschten Städten, insbesondere Kabul, wurden Checkpoints errichtet und die Bevölkerung fürchtet sich vor Racheakten der Taliban (vgl. https://www.tagesschau.de/ausland/asien/afghanistan-rache-taliban-101.html). Ein normales wirtschaftliches Leben ist derzeit nicht möglich. Insoweit dürfte es dem Antragsteller schwerfallen, auf dem für Rückkehrer bislang allein offenstehenden Tagelöhnermarkt eine Arbeit zu finden. Hinzu kommt, dass die Gefahr besteht, dass Afghanistan, welches bereits durch die Covid-19-Pandemie von erheblichen Preissteigerungen gerade für Nahrungsmittel betroffen ist und sich diese Lage weiter verschärft (vgl. WFP – Countrywide Market Price Bulletin vom 22. August 2021), zukünftig wohl auf Geldzuflüsse aus dem Ausland wird verzichten müssen. So hat bereits Deutschland die Entwicklungshilfe für Afghanistan ausgesetzt (vgl. https://www.tagesschau.de/newsticker/liveblog-afghanistan-103.html#Bundesregierung-setzt-Entwicklungshilfe-fuer-Afghanistanaus). Hilfsorganisationen haben teilweise ihr Personal aus Afghanistan abgezogen, Hilfsleistungen sowie Rückkehrhilfen wurden zumindest vorläufig ausgesetzt (vgl. https://www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan/).
Unter Zugrundelegung dieser Umstände wird es dem Antragsteller nicht gelingen, seinen Lebensunterhalt zu sichern.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
4. Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.
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