Verwaltungsrecht

Äthiopischer Staatsangehörige, Minderjährig / in BRD geboren, Teil eines Familienverbundes (5 Personen), Volkszugehörigkeit: Oromo, Genitalverstümmelung infolge traditioneller Beschneidung, Interner Schutz, Existenzminimum, Eltern gesund und arbeitsfähig, Familiäre Unterstützung vorhanden, keine physischen oder psychischen Beeinträchtigungen / Erkrankungen.

Aktenzeichen  M 13 K 18.31714

Datum:
31.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 12487
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
AsylG § 4
AsylG § 3e
AufenthG § 60 Abs. 5
EMRK Art. 3
§ 60 Abs. 7 AufenthG.

 

Leitsatz

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. 
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. 
Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

I.
Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 19. Mai 2022 über die Verwaltungsstreitsache verhandeln und entscheiden, da die Beklagte mit der Ladung auf diese Folge ihres Ausbleibens hingewiesen worden ist, § 102 Abs. 2 VwGO.
II.
Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.
III.
Soweit die Klage aufrechterhalten wurde, ist sie zulässig, hat jedoch in der Sache keinen Erfolg.
Der streitgegenständliche Bescheid des Bundesamtes vom 16. April 2018 ist – in dem zur Entscheidung des Gerichts gestellten Umfang – rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 und Abs. 5 VwGO).
Die Klägerin hat zu dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Hs. 1 AsylG) weder Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 3 AsylG) noch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes (§ 4 AsylG) – hierzu sogleich unter den Ziffern 1 bis 3.
Darüber hinaus hat das Bundesamt zu Recht festgestellt, dass hinsichtlich Äthiopien keine zielstaatsbezogenen nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu Gunsten der Klägerin bestehen – hierzu sogleich unter Ziffer 4.
Auch die verfügte Abschiebungsandrohung sowie die vorgenommene Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbot sind rechtmäßig – hierzu sogleich unter Ziffer 5.
1. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund von in ihrer Person selbst begründeter Umstände.
a. Insbesondere ergibt sich ein solcher nach Überzeugung des Gerichts nicht aus der geltend gemachten Beschneidungsgefahr.
(1) Zwar besteht – unter Berücksichtigung der dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel über den Staat Äthiopien sowie den seitens der Eltern der Klägerin gemachten Angaben in der mündlichen Verhandlung – nach Überzeugung des Gerichts durchaus die Gefahr, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr in den Heimatort ihrer Eltern (Agaro / Jimma Zone / Bundesstaat Oromia) auch gegen den Willen der Eltern auf Veranlassung anderer Familienmitglieder sowie der Dorfgemeinschaft beschnitten wird.
(a) So ist die Beschneidungspraxis in Äthiopien, unter anderem auch in ländlichen, muslimisch geprägten Regionen des Bundesstaates Oromia, aus welchem die Eltern der Klägerin stammen, ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Äthiopien noch immer stark verbreitet.
Zwar ist in Äthiopien – bezogen auf das ganze Land – in den letzten sechzehn Jahren ein Trend zum Rückgang der Beschneidungspraxis erkennbar. Jedoch bestehen noch gravierende Unterschiede zwischen verschiedenen Landesteilen sowie generell zwischen Stadt und Land. Des Weiteren ist das Bildungsniveau sowie die Religionszugehörigkeit der Familien ein weiterer entscheidender Faktor.
So werden Frauen und Mädchen aus ländlichen Regionen, mit niedrigerem Bildungsniveau sowie jene, die sich selbst als muslimisch bezeichnen, nach einer UNICEF-Untersuchung mit größerer Wahrscheinlichkeit Opfer von Genitalverstümmelung infolge traditioneller Beschneidung. Frauen in ländlichen Gebieten werden mit höherer Wahrscheinlichkeit beschnitten (68 Prozent) als Frauen im urbanen Umfeld (54 Prozent). Am häufigsten ist die Praxis der Beschneidung in ländlichen Gebieten der an Dschibuti und Somalia grenzenden Regionen Somali und Afar, sowie in der gesamten Region Oromia anzutreffen. In den Grenzregionen Tigray (Grenze zu Eritrea) und Gambella (Grenze zu Südsudan) sowie in der Hauptstadt Addis Abeba ist sie am wenigsten verbreitet. (siehe hierzu insgesamt Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 14.6.2021, Seite 14; ACCORD, Verbreitung von FGM, 30.3.2020, Seiten 1 – 3).
Auch die Tatsache, dass der äthiopische Staat im Jahr 2005 die weibliche Genitalverstümmelung unter Strafe gestellt sowie das äthiopische Gesundheitsministerium seit Januar 2017 allen öffentlichen und privaten medizinischen Einrichtungen des Landes unter Androhung entsprechender rechtlicher Konsequenzen untersagt hat, weibliche Genitalverstümmelung in irgendeiner Form durchzuführen, hat in den betroffenen Regionen in der Praxis zu keiner nennenswerten Veränderung geführt. So ist in der Praxis die Strafverfolgung schwach ausgeprägt. Festnahmen oder Verurteilungen erfolgen kaum. Zudem ist in der Bevölkerung das Bewusstsein hinsichtlich der bestehenden Gesetzeslage generell sehr gering, auch unter den Exekutivbehörden. Zudem besteht ein Widerwille lokaler Beamter, die Gesetze voll umzusetzen. Einige lokale Community-Führer schützen immer noch Personen n, die Mädchen beschneiden, obwohl es illegal ist. Darüber hinaus wenden sich insbesondere in vielen ländlichen Gemeinden die Menschen n erster Linie nicht an staatliche Gerichte, sondern an traditionelle oder informelle Justizsysteme, die zum Beispiel durch Älteste ausgeübt werden. Des Weiteren führen Familien im ländlichen Raum Genitalverstümmelung vermehrt im Verborgenen durch, um Gesetze zu umgehen, wodurch die betroffenen Mädchen in noch größere Gefahr gebracht werden (siehe hierzu insgesamt ACCORD, Verbreitung von FGM, 30.3.2020, Seiten 4 – 6; Auswärtiges Amt, Lagebericht v. 14.6.2021, Seite 14).
(b) Vor diesem Hintergrund ist nach Überzeugung des Gerichts die Gefahr durchaus gegeben, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in das Heimatdorf ihrer Eltern zwar nicht auf Veranlassung ihrer Eltern, wohl aber – im Falle von deren kurzfristiger Abwesenheit – auf Veranlassung anderer Familienmitglieder beschnitten wird.
So haben die Eltern glaubhaft ausgeführt, dass sie zwar beide eine Beschneidung ihrer Tochter strikt ablehnen würden, zudem auch die Dorfgemeinschaft nicht so weit gehen würde, die Beschneidung gewaltsam gegen den Widerstand des anwesenden Vaters mittels unmittelbaren Zwangs durchzusetzen, jedoch nach der Tradition ihres Dorfes jede weibliche Familienangehörige, etwa die Großmutter der Klägerin oder eine Tante, welche eine Beschneidung befürworten würden, berechtigt seien, eine Beschneidung zu initiieren, welche auch sehr kurzfristig (binnen einer Stunde) organisiert und durchgeführt werden könne, so dass die Familie des Vaters in der Lage wäre, eine Beschneidung dann auszuführen, wenn der Vater gerade nicht anwesend und daher seine Tochter nicht beschützen könne.
Angesichts der obigen Ausführungen ist zudem auch davon auszugehen, dass die örtlichen Behörden diesbezüglich wohl nicht einschreiten würden und es somit in der Heimatregion der Eltern der Klägerin an einem schutzbereiten staatlichen Akteur i.S.v. § 3d AsylG fehlt.
(2) Jedoch besteht vorliegend in Bezug auf die Klägerin und die ihr zumindest im Heimatdorf ihrer Eltern drohende Gefahr einer Beschneidung die Möglichkeit internen Schutzes nach § 3e AsylG.
(a) Gemäß § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslands keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (sog. „interner Schutz“, vgl. § 3e Abs. 1 AsylG).
Bei der Zumutbarkeit sind in einer umfassenden wertenden Gesamtbetrachtung die allgemeinen sowie individuellen Verhältnisse am Ort der Niederlassung in den Blick zu nehmen. Dies betrifft insbesondere die Gewährleistung des wirtschaftlichen Existenzminimums. Maßstab für eine Zumutbarkeit ist, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK nicht zu besorgen ist (vgl. BVerwG, U. v. 18.2.2021 – 1 C 4.20 – juris Rn. 27).
(b) Aus den oben genannten Ausführungen unter Ziffer (1) (a) geht hervor, dass die Gefahr einer Beschneidung von Mädchen oder Frauen nicht landesweit besteht, die Klägerin einer Gefahr vielmehr dadurch entgehen kann, indem sie und ihr Familienverbund sich in in der Hauptstadt Addis Abeba oder in den nördlichen Landesteilen Äthiopiens, wie etwa Tigray niederlassen.
Zwar scheidet eine Verlagerung nach Tigray scheidet jedoch vorliegend aus, da – infolge der seit November 2020 andauernden Kämpfe zwischen der äthiopischen Armee und der TPLF und den in diesem Zusammenhang dort von beiden Seiten begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen – der Klägerin dort jedenfalls ein ernsthafter Schaden i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG droht und zudem aufgrund der dort bestehenden katastrophalen Versorgungslage das Existenzminimum des Familienverbundes nicht sichergestellt wäre.
(c) Eine Verlagerung des Wohnsitzes in die – derzeit sichere – Hauptstadt Addis Abeba ist vorliegend jedoch zumutbar. Insbesondere ist unter Berücksichtigung der dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Äthiopien und den seitens der Eltern der Klägerin im Verfahren vor dem Bundesamt sowie in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben – nach Überzeugung des Gerichts davon auszugehen, dass es den Eltern der Klägerin auch in Addis Abeba gelingen wird, für diese und den ganzen Familienverbund eine existenzsichernde Lebensgrundlage zu schaffen – siehe hierzu die Ausführungen im Rahmen der Prüfung eines zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK unter Ziffer 4. a. und b. jeweils unter (1).
b. Auch ist den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln über den Staat Äthiopien nicht zu entnehmen, dass oromische Volksangehörige seit dem Machtwechsel 2018 (vgl. hierzu ausführlich AA – Lagebericht v. 17. Okt. 2018) per se pauschaler, flächendeckender Verfolgung ausgesetzt sind (siehe hierzu AA, Lagebericht v. 18.01.2022), zumal Teile der Oromos selbst Teil der Machtelite geworden oder für diese bzw. die Sicherheitskräfte arbeiten.
2. Auch ein Anspruch der Klägerin auf Zuerkennung subsidiären Schutzes aufgrund von in ihrer Person selbst begründeter Umstände ist vorliegend nicht gegeben.
Gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gelten dabei nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3).
a. Gemäß § 4 Abs. 3 AsylG finden die Regelungen über den internen Schutz nach § 3e AsylG auch im Rahmen des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG Anwendung, so dass hinsichtlich einer im Heimatdorf der Eltern der Klägerin etwaig drohenden Beschneidung und einer sich hieraus ergebenden unmenschlichen Behandlung der Klägerin i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr.2 AsylG auf die zur Flüchtlingseigenschaft gemachten Ausführungen verwiesen werden kann.
b. Auch mit Blick auf § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG und den bewaffneten Konflikt zwischen der TPLF und der Bundesregierung im Norden des Landes im Bundesstaat Tigray sowie in Teilen der Bundesstaaten Afar und Amhara ist keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr beachtlich wahrscheinlich. Bei einer Einreise der Klägerin über den Internationalen Flughafen von Addis Abeba wird die Klägerin mit dem Kampfgebiet nicht in räumlichen Kontakt kommen.
3. Auch ein über ihre Eltern oder ihre Geschwister abgeleiteter Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutzes gemäß § 26 Abs. 5 i.V.m. den Abs. 2 Satz bzw. Satz 2 AsylG scheidet vorliegend aus, da weder ihren Eltern noch ihrem Bruder oder ihrer Schwester bislang die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiärer Schutz zuerkannt worden ist.
4. Des Weiteren bestehen zu Gunsten der Klägerin auch keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 AufenthG, EMRK oder nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Bei den nationalen Abschiebungsverboten im Sinne des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – juris; BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – juris).
Da das Bundesamt in dem angefochtenen Bescheid allein eine Abschiebung nach Äthiopien angedroht hat, kommt es für die Feststellung von Abschiebungsverboten ausschließlich auf die Situation in Bezug auf Äthiopien an.
Insbesondere besteht vorliegend nicht die Gefahr, dass die Eltern der Klägerin nicht in der Lage sind, nach einer Rückkehr nach Äthiopien und Wohnsitznahme in Addis Abeba für die Klägerin und deren Familienverbund das Existenzminimum zu decken – sogleich unter a. sowie b. jeweils unter (1.)
a. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig ist. Dies umfasst auch das Verbot der Abschiebung in einen Zielstaat, in dem dem Ausländer eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung im Sinne von Art. 3 EMRK droht.
(1) Eine Verletzung von Art. 3 EMRK (sowie von Art. 4 GRCh, der Art. 3 EMRK entspricht, vgl. Art. 52 Abs. 3 GRCh), kommt in besonderen Ausnahmefällen auch bei „nichtstaatlichen“ Gefahren aufgrund prekärer Lebensbedingungen in Betracht, bei denen ein „verfolgungsmächtiger Akteur“ (siehe § 3c AsylG), fehlt, wenn die humanitären Gründe mit Blick auf die allgemeine wirtschaftliche Lage und die Versorgungslage betreffend Nahrung, Wohnraum, Hygiene und Gesundheitsversorgung „zwingend“ sind (BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris, Rn. 12 m.v.N.). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen hierfür jedenfalls ein „Mindestmaß an Schwere“ (minimum level of severity) aufweisen (vgl. EGMR, U.v. 13.12.2016 – 41 738/10, Paposhvili/Belgien – NVwZ 2017, 1187 Rn. 174; EuGH, U.v. 16.2.2017 – C-578/1, C. I. u.a. – NVwZ, 691, Rn. 68). Dieses Mindestmaß kann erreicht sein, wenn der Ausländer seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhält (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 – juris Rn. 11).
Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen einer drohenden menschenunwürdigen Verelendung setzt dabei keine „Extremgefahr“ voraus, die für die Durchbrechung der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG notwendig ist (vgl. BVerwG, Beschluss vom 8.8.2018, 1 B 25.18 – juris Rn. 13). Der Gerichtshof der Europäischen Union stellt in seiner Rechtsprechung (EuGH, Urteile v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a., Ibrahim – JZ 2019, 999, Rn. 89 ff., und C-163/17, Jawo, InfAuslR 201 9, 236, Rn. 90 ff.) unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (U.v. 21.1 .2 0 1 1, 30696/09, M.S.S. / Belgien und Griechenland, NVwZ 2011, 413, Rn. 252 ff.) darauf ab, ob sich die betroffene Person „unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not“ befindet, „die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre“ (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – juris, Rn. 12; OVG Hamburg, U.v. 18.12.2019 – 1 Bf 132/17.A – juris, Rn. 39).
Gemessen an diesen Grundsätzen besteht unter Berücksichtigung der vorliegenden Erkenntnisquellen über den Staat Äthiopien sowie den Angaben der Eltern der Klägerin in der Anhörung vor dem Bundesamt sowie in der mündlichen Verhandlung – und insbesondere auch unter Berücksichtigung von Umständen, die erst nach Erlass des angefochtenen Bescheids eingetreten sind, wie etwa die sich durch Heuschreckenplage, Dürrekatastrophe, Tigray-Konflikt und COVID-19-Pandemie / in diesem Zusammenhang national wie international ergriffener Pandemieschutzmaßnahmen sowie dem Ukraine-Krieg und den sich hieraus ergebenden Auswirkungen auf die allgemeine Versorgungslage, Wirtschaft und Arbeitsmarkt in Äthiopien – nach Überzeugung des Gerichts nicht die Gefahr, dass es den Eltern der Klägerin nicht möglich sein wird, für sich, die Klägerin und deren zwei Geschwister das Existenzminimum durch eigene Erwerbstätigkeit, gegebenenfalls mit zusätzlicher Unterstützung ihrer Familienangehörigen in Äthiopien sowie der Rückkehrerhilfen zu decken.
(a) Die minderjährige Klägerin ist selbst nicht arbeits- und erwerbsfähig, infolge dessen auf die Versorgung durch ihren Vater sowie ihre Mutter angewiesen.
Neben der Klägerin müssen zudem der sechsjährige Bruder sowie die ein Jahr und vier Monate alte Schwester der Klägerin ebenfalls versorgt werden.
(b) Der Vater der Klägerin verfügt über eine sechsjährige Schulausbildung, eine Berufsausbildung als Schweißer in Äthiopien und hat als solcher bereits von 2006 bis 2014 in Addis Abeba seinen Lebensunterhalt verdient. Des Weiteren hat er in Äthiopien erfolgreich einen Lebensmittelladen betrieben, zudem in Deutschland als Reinigungskraft gearbeitet.
Neben seiner Muttersprache Oromo spricht er auch Amharisch sowie etwas Deutsch, was er im Falle einer Rückkehr ebenfalls gewinnbringend auf dem Arbeitsmarkt einsetzen kann, etwa in der Tourismusindustrie oder als Dolmetscher / Mitarbeiter für westliche Hilfsorganisationen oder die deutsche Auslandsvertretung.
Ausweislich seiner Angaben ist er gesund und arbeitsfähig.
(b) Die Mutter der Klägerin verfügt über eine dreijährige Schulausbildung in Äthiopien und hat bis vor ihrer Ausreise zusammen mit ihrem Mann einen Lebensmittelladen betrieben.
Sie spricht ebenfalls neben ihrer Muttersprache Oromo auch Amharisch sowie etwas Deutsch.
Auch sie ist gesund und arbeitsfähig.
(c) Im Hinblick auf die der Klägerin sowie ihrer Schwester im Heimatdorf der Eltern etwaig drohenden Gefahr einer Beschneidung und die aus diesen Gründen gebotene Wohnsitznahme in Addis Abeba ist zudem nicht nur zu berücksichtigen, dass der Familienverbund der Klägerin nicht in Addis Abeba – im Vergleich zu kleineren Städten / Dörfern – erhöhten Wohnungskosten in der Hauptstadt ausgesetzt ist, sondern dass darüber hinaus die Klägerin bzw. deren Eltern wohl nicht auf (faktische oder finanzielle) Unterstützung durch Familienangehörige der Eltern aus deren Heimatdorf zurückgreifen können.
(d) Jedoch ist in diesem Zusammenhang zugleich zu berücksichtigen, dass in Gestalt des Onkels des Vaters der Klägerin und dessen Familie der Familienverbund der Klägerin auch über familiäre Unterstützung in Addis Abeba verfügt. Insbesondere ist hierbei zu berücksichtigen, dass der Onkel nach Angaben des Vaters der Klägerin bereits die Ausreise der Eltern der Klägerin finanziert hat.
(e) Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass der Vater der Klägerin bereits mehrere Jahre in Addis Abeba gelebt und dort seinen Lebensunterhalt als Schweißer verdienen konnte, zumal die Hauptstadt als wirtschaftliches Zentrum des Landes einen hohen Bedarf an Arbeitskräften bzw. hohes Potential für eine wirtschaftliche Betätigung aufweist.
(f) Zudem ist auch zu berücksichtigen, dass die Klägerin und ihr Familienverbund im Falle einer freiwilligen Rückkehr auf umfangreiche Leistungen diverser Rückkehrerprogramme zurückgreifen können (https://www.returningformgermany.de/de/programmes; abgerufen am 14.2.2022):
Neben einer einmaligen finanziellen Starthilfe von jedenfalls insgesamt 3.500 EUR (1.000 EUR pro Person, 500 EUR bei Personen unter achtzehn Jahren) sowie der Übernahme der Reisekosten im Rahmen des Reintegration and Emigration Programme for Asylum-Seekers in Germany (REAG) sowie des Government Assisted Repatriation Programme (GARP) sind dies u.a.:
Im Vorfeld, noch vor seiner Rückkehr nach Äthiopien: Rückkehrvorbereitende Maßnahmen (RkVM) wie etwa Coachings und Workshops in entsprechender Sprache zur Existenzgründung im Zielstaat.
Nach Ankunft in Äthiopien: Reintegrationsunterstützungen, zum einen in Form von nicht-monetären Unterstützungsleistungen wie etwa (neben der In-Empfangnahme am Flughafen u.a. auch) die Unterstützung beim Aufbau eines kleinen Unternehmens oder bei der Jobsuche sowie die Unterstützung bei der Suche nach Kontaktpersonen im Rahmen der Nolawi Services Äthiopien, sowie ggf. auch weitere finanzielle Unterstützung wie etwa die sog. 2. Starthilfe nach sechs bis acht Monaten im Rahmen des sog. StarthilfePlus-Programms.
Zudem werden im Rahmen des European Return and Reintegration Network (ERRIN) für vulnerable Personen individuelle Unterstützungsleistungen durch ein Netzwerk lokaler Service Provider und Partner sowie im Rahmen der Nolawi Services Äthiopien Hilfeleistungen für Menschen in Not, wie etwa Frauen und Kinder, zur Verfügung gestellt.
(g) Zudem ist die äthiopische Wirtschaft bzw. der dortige Arbeitsmarkt derzeit nicht infolge weitreichender Pandemieschutzmaßnahmen (allgemeiner oder zumindest Teil-Lockdown / Geschäftsschließungen o.Ä.) in vielen Teilen lahmgelegt, Hotels, Gaststätten, Kinos und Clubs etc. geöffnet (https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/aethiopien-node/aethiopiensicherheit/209504; abgerufen am 18.5.2022).
(h) Aufgrund der vorgenannten Faktoren (Qualifikationen und Arbeitsfähigkeit der Eltern, vorhandenes familiäres Netzwerk in Addis Abeba (Onkel des Vaters) sowie Rückkehrerhilfen,) ist das Gericht davon überzeugt, dass es den Eltern der Klägerin trotz der derzeit schwierigen wirtschaftlichen Lage in Äthiopien gelingen wird, das Existenzminimum der Klägerin und ihres Familienverbundes sichern zu können.
b. Ebenso wenig besteht ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
(1) Liegen – wie hier – die Voraussetzungen eines nationalen Abschiebungsverbotes wegen schlechter humanitärer Bedingungen nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht vor, so scheidet auch eine im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in verfassungskonformer Anwendung allein relevante extreme Gefahrenlage aus (vgl. VGH Bad.-Württ., U.v. 9.11.2017 – A 11 S 789/17 – juris Rn. 282).
(2) Auch in Äthiopien derzeit bestehende allgemeine Gesundheitsgefahren begründen vorliegend kein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu Gunsten der Kläger. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die Gefahr einer Ansteckung mit dem auch in Äthiopien grassierenden Sars-Cov-2-Virus und einer anschließenden COVID-19-Erkrankung.
(a) Beruft sich ein Ausländer auf allgemeine (hier: Gesundheits) Gefahren im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG, wie etwa die sämtliche Menschen in Äthiopien treffende Gefahr einer Ansteckung mit dem Sars-Cov-2-Virus und einer daran anschließenden COVID-19-Erkrankung, wird Abschiebungsschutz grundsätzlich ausschließlich durch eine generelle Regelung der obersten Landesbehörde nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG gewährt.
Allerdings kann ein Ausländer in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG auch bei Fehlen einer solchen generellen Regelung ausnahmsweise dann individuellen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 AufenthG beanspruchen, wenn er bei einer Rückkehr aufgrund der im Zielstaat herrschenden allgemeinen Bedingungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einer extremen Gefahrenlage ausgesetzt wäre. Denn in diesem Fall gebieten es die Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, ihm trotz einer fehlenden politischen Leitentscheidung nach § 60a Abs. 1 Satz 1 i.V. m. § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu gewähren. Wann danach allgemeine Gefahren von Verfassung wegen zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt wesentlich von den Umständen des Einzelfalles ab und entzieht sich einer rein quantitativen oder statistischen Betrachtung. Die drohenden Gefahren müssen nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Schließlich müssen sich diese Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren.
b) Zwar besteht auch für die Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien, wie für jeden anderen Menschen in Äthiopien auch, die Gefahr, sich dort mit SARS-CoV-2 anzustecken und infolge dessen Schaden an Leib oder Leben zu erleiden. Jedoch ist die Gefahr hinsichtlich der Klägerin nicht derart extrem, dass diese im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien „sehenden Auges dem Tod oder schwersten Verletzungen“ ausgesetzt würden (vgl. zu diesem Maßstab: BVerwG, U.v. 17.10.2006 – 1 C 18/05 -, juris Rn. 16) und deshalb aus verfassungsrechtlichen Gründen die Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG entfällt.
So kann eine COVID-19-Erkrankung zwar bei schwerem Verlauf zum Tod führen oder zumindest schwere, dauerhafte bzw. lange andauernde gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich ziehen. Auch hängt der Grad der Gefahr, im Falle eines schweren Verlaufes zu sterben, neben individuellen Faktoren wie etwa der gesundheitlichen Disposition des Erkrankten sowie der bei Ansteckung ausgesetzten Virusmenge u.a. auch von allgemeinen Umständen wie Qualität und Kapazitäten der vor Ort vorhandenen medizinischen Behandlung (Personal / Intensivbetten / Sauerstoff etc.) sowie den vor Ort ergriffenen Infektionsschutzmaßnahmen ab.
Die Klägerin ist jung und gesund und weist auch im Übrigen keinen Risikofaktor für einen schweren Verlauf im Falle einer Infektion auf.
(3) Individuelle Gesundheitsgefahren hinsichtlich der Klägerin wurden vorliegend geltend gemacht.
5. Auch die verfügte Abschiebungsandrohung sowie die vorgenommene Befristung des Einreiseund Aufenthaltsverbotes begegnen keinerlei rechtlichen Bedenken.
IV.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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