Verwaltungsrecht

Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis bei nachhaltiger Integration

Aktenzeichen  Au 1 K 16.1673

Datum:
27.6.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 25a Abs. 3, § 25b

 

Leitsatz

1. Ein lange zurückliegendes Fehlverhalten des Ausländers führt nicht zwingend zu der Annahme eines atypischen Ausnahmefalls, nach dem die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis trotz Vorliegens der sonstigen Voraussetzungen zu versagen ist.
2. § 25b Abs. 2 Nr. 1 AufenthG erfasst lediglich Fälle, in denen der Ausländer (noch) aktuell die Aufenthaltsbeendigung u.a. durch Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch Nichterfüllung zumutbarer Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen verhindert oder verzögert. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Nicht die Verwirklichung eines Ausweisungstatbestandes in der Vergangenheit, sondern lediglich der Fortbestand des Ausweisungsinteresses, also eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis hindert die Erteilung. (Rn. 29) (redaktioneller Leitsatz)
4. Zurückliegende Täuschungen und Straftaten stehen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (nur) dann entgegen, wenn die Täuschungshandlung aufgrund ihrer Art oder Dauer so bedeutsam ist, dass sie das Gewicht der relevanten Integrationsleistungen für die Annahme der für die Erteilung erforderlichen nachhaltigen Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse beseitigt. (Rn. 38) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid der Beklagten vom 7. November 2016 wird aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 b AufenthG zu erteilen.
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
IV. Die Berufung wird zugelassen.

Gründe

Die zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg.
1. Gegenstand der Klage ist die Verpflichtung der Beklagten, dem Kläger die beantragte Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 b AufenthG aufgrund nachhaltiger Integration zu erteilen.
2. Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 b AufenthG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 AufenthG), weshalb der ablehnende Bescheid vom 7. November 2016 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten war, dem Kläger die beantragte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
a) Gemäß § 25 b AufenthG soll einem geduldeten Ausländer abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich nachhaltig in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland integriert hat. Die im Rahmen des § 25 b Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu prüfende Tatbestandsvoraussetzung der nachhaltigen Integration wird dabei in Satz 2 Nummer 1 bis 5 durch regelhafte Voraussetzungen näher bestimmt. Die Nummern 1 bis 4 sind im Fall des Klägers erfüllt (Nummer 5 ist hier nicht einschlägig).
(1) Der Kläger hält sich seit Juni 2000 und somit über 16 Jahre ununterbrochen geduldet oder gestattet im Bundesgebiet auf (§ 25 b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG).
(2) Seine gemäß § 25 b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AufenthG erforderlichen Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet hat der Kläger durch Vorlage einer Bescheinigung über die erfolgreiche Teilnahme am Test „Leben in Deutschland“ vom 8. April 2017 (s. Bl. 36 der Gerichtsakte) nachgewiesen (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 25 b AufenthG Rn. 15). Das notwendige Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland ist ebenso anzunehmen. Nach Durchführung der mündlichen Verhandlung geht das Gericht davon aus, dass dieses Bekenntnis spätestens bei Abholung der Aufenthaltserlaubnis bei der Beklagten abgegeben wird.
(3) Die Voraussetzung der Nummer 3 – zu erwartende Sicherung des Lebensunterhalts im Sinne von § 2 Abs. 3 AufenthG – ist ebenfalls erfüllt. Aus dem vom Kläger vorgelegten Versicherungsverlauf vom 1. Juni 2017 (Bl. 50 der Gerichtsakte) geht hervor, dass dieser seit dem Jahr 2008 fast durchgängig erwerbstätig war und kaum Sozialleistungen in Anspruch genommen hat. Aktuell ist der Kläger mit einem monatlichen Verdienst von circa 1.600,- EUR netto (Bl. 47 der Gerichtsakte) als Pizzabäcker beschäftigt. Somit sichert er zum einen aktuell seinen derzeitigen Lebensunterhalt überwiegend durch Erwerbstätigkeit und zum anderen ist im Hinblick auf seine Erwerbsbiographie auch zu erwarten, dass er zukünftig seinen Lebensunterhalt sichern wird (§ 25 b Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AufenthG).
(4) Schließlich sind auch die gemäß § 25 b Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 AufenthG erforderlichen Deutschkenntnisse nachgewiesen (s. Bl. 637 der Behördenakte).
b) Zwingende Versagungsgründe gemäß § 25 b Abs. 2 AufenthG sind zu verneinen. Nummer 1 dieser Regelung erfasst lediglich Fälle, in denen der Ausländer (noch) aktuell die Aufenthaltsbeendigung u.a. durch Täuschung über seine Identität oder Staatsangehörigkeit oder durch Nichterfüllung zumutbarer Anforderungen an die Mitwirkung bei der Beseitigung von Ausreisehindernissen verhindert oder verzögert (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 25 b AufenthG Rn. 31 m.w.N.). Dies ergibt sich klar aus der Verwendung der Präsensform „verhindert oder verzögert“ im Gesetzestext und entspricht auch dem Willen des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 18/4097, S. 44 zu Absatz 2 Nr. 1: „Diese Regelung knüpft nur an aktuelle Mitwirkungsleistungen des Ausländers an, …“), auch wenn einzuräumen ist, dass die Gesetzesbegründung hier nicht ganz widerspruchsfrei ist. So heißt es kurz vorher, die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis sei ausgeschlossen, wenn der Ausländer “…die Aufenthaltsbeendigung vorsätzlich verhindert oder hinausgezögert hat“ (a.a.O., zu Absatz 2) (OVG Hamburg, B.v. 19.5.2017 – 1 Bs 207/16 – juris Rn. 31).
Eine gegenwärtige Täuschungshandlung des Klägers oder eine noch andauernde Verletzung seiner Mitwirkungspflichten liegen hier nicht vor. Die Identität des Klägers ist seit der Vorlage des irakischen Personalausweises am 30. Mai 2008 geklärt. Ab Juli 2008 bemühte sich der Kläger außerdem um die Ausstellung eines Reisepasses und legte am 21. August 2014 seinen am 21. April 2014 ausgestellten irakischen Pass vor.
Auch Ausweisungsinteressen im Sinne von § 25 b Abs. 2 Nr. 2 i.V.m. § 54 Abs. 1 und 2 Nr. 1 und 2 AufenthG sind nicht gegeben.
c) Die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG sind – soweit sie im Rahmen des § 25 b AufenthG zu prüfen sind (s. § 25 b Abs. 1 Satz 1 AufenthG) – ebenfalls erfüllt.
Insbesondere liegt kein Ausweisungsinteresse im Sinne von § 5 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 54 Abs. 2 Nr. 8 und 9 AufenthG vor. Diese allgemeine Voraussetzung ist trotz der Spezialregelung in § 25 b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG anwendbar (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 25 b AufenthG Rn. 33; BT-Drs. 18/4097, S. 45 zu Absatz 2 Nr. 2). Zwar findet im Rahmen von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG keine hypothetische Prüfung, ob eine Ausweisung rechtsfehlerfrei verfügt werden könnte, statt, eine Gefährdungsprognose ist jedoch auch hier anzustellen (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 5 AufenthG Rn. 47 ff.). Das Ausweisungsinteresse muss demnach noch aktuell sein. Nicht die Verwirklichung eines Ausweisungstatbestands in der Vergangenheit, sondern lediglich der Fortbestand des Ausweisungsinteresses, also eine gegenwärtige Gefahr für die öffentliche Sicherheit im Zeitpunkt der Entscheidung über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, soll die Erteilung hindern (OVG Hamburg, B.v. 19.5.2017 – 1 Bs 207/16 – juris Rn. 41).
Die Gefährdungsprognose fällt vorliegend zu Gunsten des Klägers aus. Zu berücksichtigen ist hier insbesondere die Dauer seines straffreien Aufenthalts im Verhältnis zur Gesamtdauer des Aufenthalts (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 5 AufenthG Rn. 50).
Die einzige nicht-aufenthaltsrechtliche Verurteilung des Klägers liegt bereits mehr als 16 Jahre zurück. Die letzte aufenthaltsrechtliche Verurteilung erfolgte ebenfalls bereits vor über 9 Jahren. Seitdem ist der Kläger nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten. Von einer noch andauernden Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung kann somit nicht mehr gesprochen werden. Auch das Täuschungsverhalten des Klägers dauerte lediglich bis zum 30. Mai 2008 an. Seitdem ist seine Identität durch Vorlage richtiger Dokumente eindeutig geklärt.
Schließlich kann in den letzten circa 9 Jahren nicht mehr von einer fehlenden Mitwirkung seitens des Klägers im Sinne von § 54 Abs. 2 Nr. 8 Buchst. b) AufenthG ausgegangen werden. Wie sich aus den Behördenakten ergibt, wurden dem Kläger von Juli 2008 bis April 2014 zahlreiche sogenannte Verlassenserlaubnisse zur Vorsprache bei der irakischen Botschaft bzw. dem irakischen Generalkonsulat erteilt. Anhaltspunkte, dass es der Kläger selbst zu verantworten hätte, dass es trotzdem bis August 2014 gedauert hat bis er einen irakischen Reisepass vorlegen konnte, sind nicht ersichtlich. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass der zeitliche Abstand (auch) dem Umstand geschuldet war, dass die irakischen Auslandsvertretungen über Jahre hinweg nicht in der Lage waren, Reisepässe auszustellen. Dies ergibt sich aus einer Stellungnahme der irakischen Botschaft auf ihrer Internetseite vom 17. Dezember 2010 (http://www.iraqiembassy-berlin.de/docs/de/konsulat8_de.php, Stand: 5. Juni 2017), wonach das irakische Innenministerium die Auslandsvertretungen angewiesen habe, bis auf weiteres keine Anträge auf Passausstellung anzunehmen (vgl. auch BayVGH, B.v. 6.8.2012 – 10 C 11.1840 – juris Rn. 17). Erst seit Anfang Februar 2012 war eine Passbeantragung wieder uneingeschränkt möglich (BayVGH, B.v. 3.11.2014 – 10 ZB 12.2688 – juris Rn. 10). Anlässlich der zahlreichen Vorsprachen des Klägers bei der Botschaft bzw. dem Generalkonsulat kann ihm ein schuldhafter Verstoß gegen seine Mitwirkungspflichten nicht zur Last gelegt werden.
d) Das Gericht folgt auch nicht der Ansicht der Beklagten, die strafrechtlichen Verurteilungen des Klägers stünden einer Erteilung der Aufenthaltserlaubnis generell entgegen. Die Beklagte beruft sich in diesem Zusammenhang auf die Wertung des § 25 a Abs. 3 AufenthG. Danach ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach Absatz 2 ausgeschlossen, wenn der Ausländer wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach diesem Gesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, grundsätzlich außer Betracht bleiben. Diese Regelung entspricht der Altfallregelung in § 104 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 AufenthG. Aufgrund seiner beiden Freiheitsstrafen aus dem Jahr 2005 bzw. 2008, die noch nicht aus dem Bundeszentralregister getilgt wurden, würde der Kläger unter diese zwingende Ausschlussnorm fallen. In § 25 b AufenthG findet sich jedoch gerade keine entsprechende Regelung. Die Vorschrift des § 25 b AufenthG wurde mit dem AufenthÄndG2015 (Ges. v. 27.7.2015, BGBl. I 1386) in das Aufenthaltsgesetz eingefügt. Nach der Gesetzesbegründung sollten damit unter anderem Integrationsleistungen, die nicht in den engen Anwendungsbereich des bereits zum 1.7.2011 in Kraft getretenen § 25 a AufenthG fallen, honoriert werden (BT-Drs. 18/4097, S. 23). Eine dem § 25 a Abs. 3 AufenthG entsprechende Vorschrift wurde bewusst nicht aufgenommen. Der Erteilung zwingend entgegenstehende Verurteilungen des Ausländers werden vielmehr allein über die Regelung in § 25 b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG – welche hier wie oben ausgeführt nicht einschlägig ist – erfasst.
Auch der von der Beklagten angeführte Vergleich mit § 60 a Abs. 2 Satz 6 AufenthG geht nach Ansicht der Kammer fehl. Danach wird eine Ausbildungsduldung ebenfalls nicht erteilt, wenn der Ausländer wegen einer vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei auch hier Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen oder bis zu 90 Tagessätzen wegen Straftaten, die nach diesem Gesetz oder dem Asylgesetz nur von Ausländern begangen werden können, grundsätzlich außer Betracht bleiben. Die Argumentation der Beklagten lässt unberücksichtigt, dass sich Ausländer, die die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 b AufenthG beantragen, auf die in § 25 b Abs. 1 Satz 2 Nrn. 1-5 AufenthG genannten Integrationsleistungen – insbesondere auf einen Aufenthalt im Bundesgebiet von mindestens 8 Jahren – berufen können, während eine Ausbildungsduldung nach § 60 a Abs. 2 Satz 4 AufenthG in der Regel bereits nach einem viel kürzerem Aufenthalt erteilt wird. Es fehlt somit an der Vergleichbarkeit der beiden Regelungen. Wer nach einem kurzen Aufenthalt bereits straffällig wird, muss sich somit den Ausschlussgrund in Satz 6 entgegenhalten lassen, während im Fall des § 25 b AufenthG etwaige strafrechtliche Verurteilungen, die die Schwelle des § 25 b Abs. 2 Nr. 2 AufenthG nicht überschreiten, unberücksichtigt bleiben können, sofern die restlichen Voraussetzungen einer nachhaltigen Integration vorliegen.
e) Nach der Systematik des § 25 b Abs. 1 Satz 1 besteht in der Regel ein Anspruch auf die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis. Diese „soll“ erteilt werden, wenn – wie beim Kläger der Fall – von einer nachhaltigen Integration in die Lebensverhältnisse der Bundesrepublik Deutschland im Sinne des § 25 b Abs. 1 Satz 2 Nummern 1 bis 5 auszugehen ist. Nur wenn ein atypischer Fall vorliegt, kann trotz Vorliegens der Voraussetzungen ausnahmsweise von der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis abgesehen werden (Samel in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 11. Auflage 2016, § 25 b AufenthG Rn. 4; BT-Drs. 18/4097 S. 42).
Es müssen somit besondere Umstände vorliegen, um die Erteilung trotz vorliegender nachhaltiger Integration ausnahmsweise zu versagen (vgl. zur Bedeutung einer Soll-Regelung: BVerwG, U.v. 17.12.2015 – 1 C 31.14 – juris Rn. 21 f.). Die Frage, ob ein atypischer Ausnahmefall vorliegt, bei dem der Verwaltung ein Rechtsfolgenermessen eröffnet ist, unterliegt nach ständiger Rechtsprechung in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung und ist in diesem Sinne im ersten Schritt eine rechtlich gebundene Entscheidung (vgl. BVerwG, a.a.O. Rn. 21).
Solche besonderen Umstände liegen im Fall des Klägers nach Ansicht der Kammer – auch unter Berücksichtigung seines Verhaltens in den ersten acht Jahren nach seiner Einreise in die Bundesrepublik – nicht vor.
(1) Zurückliegende Täuschungen und Straftaten stehen der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (nur) dann entgegen, wenn die Täuschungshandlung aufgrund ihrer Art oder Dauer so bedeutsam ist, dass sie das Gewicht der nach Satz 2 Nummern 1 bis 5 relevanten Integrationsleistungen für die Annahme der nach Satz 1 für die Erteilung erforderlichen nachhaltigen Integration in die hiesigen Lebensverhältnisse beseitigt (OVG NRW, B.v. 21.7.2015 – 18 B 486/14 – juris Rn. 15). Außerdem können zu Beginn des Verfahrens begangene Täuschungshandlungen zur Identität – insbesondere bei „tätiger Reue“ – unberücksichtigt bleiben, sofern diese nicht allein kausal für die lange Aufenthaltsdauer waren (BT-Drs. 18/4097, S. 44).
Ausgehend von diesen Maßstäben ist dem Kläger nach Ansicht der Kammer die begehrte Aufenthaltserlaubnis zu erteilen.
Dabei lässt das Gericht nicht unberücksichtigt, dass der Kläger erst im Jahr 2008 – und somit acht Jahre nach seiner Einreise in die Bundesrepublik – seine richtigen Personalien durch Vorlage eines irakischen Personalausweises offenbart hat. Zuvor hat er ein Asylverfahren unter falschen Personalien – jedoch ebenfalls als irakischer Staatsangehöriger – durchgeführt und im Jahr 2003 nochmals andere (wiederum falsche) Personalien angegeben. Ebenfalls wird bedacht, dass sich im Bundeszentralregister für den Kläger fünf Eintragungen finden: eine Verurteilung zu 5 Tagessätzen wegen Diebstahls aus dem Jahr 2000 sowie vier aufenthaltsrechtliche Verurteilungen aus den Jahren 2001, 2003, 2005 und 2008. In den beiden letztgenannten Urteilen wurde der Kläger vom AG … zu einer Freiheitsstrafe von 4 bzw. 6 Monaten, deren Vollstreckung jeweils zur Bewährung ausgesetzt wurde, wegen unerlaubten Aufenthalts bzw. Aufenthalts ohne Pass verurteilt.
Diese Verurteilungen führen jedoch nach Auffassung des Gerichts nicht zu einer Entkräftung der Integrationsleistungen im Sinne von § 25 b Abs. 1 AufenthG. Bei der Gewichtung der Integrationsleistungen des Klägers ist zu berücksichtigen, dass dieser die von § 25 b Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AufenthG geforderte Mindestaufenthaltsdauer um mehr als das Doppelte erfüllt. Außerdem ging er in den letzten 9 Jahren fast durchgängig einer geregelten Erwerbstätigkeit nach. Gerade die wirtschaftliche Integration des Klägers ist somit sehr stark zu werten. Dagegen liegt die einzige nicht-aufenthaltsrechtliche Verurteilung mittlerweile über 16 Jahre zurück. Unabhängig davon handelte es sich hierbei um einen Diebstahl am untersten Rand der Strafbarkeitsschwelle, was an der geringen Strafe von 5 Tagessätzen unschwer zu erkennen ist. Die sonstigen Verurteilungen des Klägers sind alle aufenthaltsrechtlicher Natur. Die beiden oben angeführten Verurteilungen aus den Jahren 2005 und 2008 waren der Passlosigkeit des Klägers geschuldet. Auch hier liegt die letzte Verurteilung nunmehr bereits über 9 Jahre zurück. Seit November 2007 ist der Kläger nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung getreten.
Um hier von einem atypischen Fall, der die Versagung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertigen würde, ausgehen zu können, müssten nach Auffassung der Kammer entweder Straftaten von einigem Gewicht vorliegen oder zumindest aber die letzte Verurteilung noch nicht allzu lange her sein. Beides ist beim Kläger nicht der Fall.
(2) Auch eine Verletzung seiner Mitwirkungspflichten kann dem Kläger seit 2008 nicht mehr in einem solchen Umfang vorgeworfen werden, der das Gewicht der genannten Integrationsleistungen entkräften könnte. Diesbezüglich wird auf die Ausführungen unter Randnummer 32 verwiesen.
Insgesamt ist somit nicht von einem Ausnahmefall auszugehen, sondern die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die beantragte Aufenthaltserlaubnis aufgrund nachhaltiger Integration zu erteilen.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Beklagte hat als unterlegener Teil die Kosten des Verfahrens zu tragen.
4. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
5. Die Berufung war zuzulassen, da der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung zukommt (§ 124 Abs. 2 Nr. 3, § 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Eine grundsätzliche Bedeutung in diesem Sinne weist eine Rechtsstreitigkeit dann auf, wenn sie eine rechtliche oder tatsächliche Frage aufwirft, die für die Berufungsinstanz entscheidungserheblich ist, über den zu entscheidenden Einzelfall hinausgeht und im Sinne der Rechtseinheit einer Klärung bedarf (vgl. Kopp/ Schenke, VwGO, 22. Auflage 2016, § 124 Rn. 10).
Vorliegend besteht angesichts der relativ neuen Regelung des § 25 b AufenthG und der vermehrt auftretenden Einzelfälle ein Bedürfnis, höchstrichterlich zu klären, ob ein lange zurückliegendes Fehlverhalten des Betroffenen, insbesondere strafrechtliche Verurteilungen im Sinne von § 25 a Abs. 3 AufenthG, zwingend zu einem Ausnahmefall führen, nach dem die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis trotz Vorliegens der sonstigen Voraussetzungen zu versagen ist.


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