Verwaltungsrecht

Asyl, Äthiopien: Drohende Zwangsbeschneidung

Aktenzeichen  AN 9 K 20.30809

Datum:
27.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 14596
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
VwGO § 113 Abs. 5 S. 1

 

Leitsatz

1. Der Klägerin, die islamischer Religionszugehörigkeit und der Ethnie der Oromo zugehörig ist, droht im Fall der Rückkehr nach Äthiopien die Genitalverstümmelung als Verfolgungshandlung.  (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine inländische Fluchtalternative, beispielsweise in der Hauptstadt Addis Abeba, ist unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls nicht gegeben. Die Gründung einer neuen wirtschaftlichen und sozialen Existenz in anderen Landesteilen Äthiopiens ist angesichts des niedrigen Existenzniveaus, der Schwierigkeit, Land zu erwerben sowie aufgrund ethnischer und sprachlicher Abgrenzungen schwierig. Hinzu kommt, dass die Verhältnisse in Äthiopien derzeit durch die Corona-Pandemie im Zusammenspiel mit der im Land herrschenden Heuschreckenplage geprägt sind. (Rn. 25 – 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 20. August 2020 wird in Ziffern 1, 3 bis 6 aufgehoben und die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG bei der Klägerin vorliegen.
2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist in Ziffer 3 vorläufig vollstreckbar. Der Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der Kostengläubiger vor Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet. Über die Klage konnte mit Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden.
Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. Die übrigen Anordnungen im streitgegenständlichen Ablehnungsbescheid Ziffern 3 bis 6 sind rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
Der angefochtene Bescheid ist insofern rechtwidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.
1.
Die Klägerin hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, sofern nicht die in dieser Bestimmung angeführten – hier nicht einschlägigen – besonderen Voraussetzungen nach § 60 Abs. 8 AufenthG erfüllt sind. Gemäß § 3 Absatz 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention vom 28. Juli 1951 (BGBl. BGBL Jahr 1951 Seite 1953 II S. BGBL Jahr 1953 II Seite 559, BGBL Jahr 1953 II 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründe) außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Als Verfolgung gelten nach § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Diese Art. 9 Abs. 1 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 (ABl. L 337 S. 9 – RL 2011/95/EU) umsetzende Legaldefinition der Verfolgungshandlung erfährt in § 3a Abs. 2 AsylG im Einklang mit Art. 9 Abs. 2 RL 2011/95/EU eine Ausgestaltung durch einen nicht abschließenden Katalog von Regelbeispielen. Die Annahme einer Verfolgungshandlung setzt einen gezielten Eingriff in ein nach Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU geschütztes Rechtsgut voraus (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 11). Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, sind unter anderem gemäß § 3c Nr. 2 AsylG der Staat und Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen. Zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den genannten Verfolgungshandlungen muss eine Verknüpfung bestehen wobei es unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden, § 3b Abs. 2 AsylG.
Die Furcht vor Verfolgung ist nach § 3 Abs. 1 AsylG dann begründet, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, das heißt mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Für die Verfolgungsprognose gilt ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab, auch wenn der Antragsteller Vorverfolgung erlitten hat. Dieser im Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ des Art. 2 Buchst. d RL 2011/95/EU enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. EMRK Artikel 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt; das entspricht dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 14). Vorverfolgte bzw. geschädigte Asylantragsteller werden durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU privilegiert. Wer bereits Verfolgung bzw. einen ernsthaften Schaden erlitten hat, für den besteht die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 15; EuGH, U.v. 2.3.2010 – C-175/08 – juris Rn. 94). Diese Vermutung kann widerlegt werden, wenn stichhaltige Gründe die Wiederholungsträchtigkeit solcher Verfolgungshandlungen entkräften (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5.09 – juris Rn. 23).
Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erfordert die Prüfung, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Asylsuchenden Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann, weil nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in den Heimatstaat als unzumutbar erscheint (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 14; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33.07 – juris Rn. 37).
Nach diesen Maßstäben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Angaben der Mutter der Klägerin in der Anhörung beim Bundesamt sind unter Berücksichtigung auch der Ausführungen der Prozessbevollmächtigten geeignet, hinsichtlich der Klägerin die Furcht vor Verfolgung nach § 3 Abs. 1 AsylG zu begründen. Der Klägerin droht nach Überzeugung des Gerichts im Fall der Rückkehr nach Äthiopien wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, nämlich der Gruppe der Frauen, in Form der geschlechtsspezifischen Verfolgung, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Zwangsbeschneidung.
Eine konkret drohende Genitalverstümmelung ist geeignet, Flüchtlingsschutz zu begründen (VG Ansbach, U.v. 06.02.2019 – AN 3 K 17.34974 – juris; U.v. 22.08.2019 – AN 9 K 16.31675 – juris) und ist als Verfolgungshandlung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V. m. § 3a Abs. 2 Nr. 6 AsylG einzustufen, denn diese Handlung knüpft an die Geschlechtszugehörigkeit an, da sie allein an Frauen und Mädchen vorgenommen wird und werden kann (VG Würzburg, U.v. 5.12.2014 – W 3 K 14.30001 – juris).
Ob die Genitalverstümmelung eines Mädchens tatsächlich verhindert werden kann, lässt sich für Mädchen in Äthiopien nicht generell und allgemeingültig beantworten, sondern richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere auch danach, ob sich die Eltern des betroffenen Kindes dem gesellschaftlichen Druck wiedersetzen und eine Beschneidung tatsächlich verhindern (vgl. BayVGH, B.v. 22.07.2019 – 8 ZB 19.31614; B.v. 22.2.2017 – 9 ZB 17.30027 – juris Rn. 6; B.v. 21.11.2018 – 8 ZB 18.32980 – juris; B.v. 27.3.2019 – 8 ZB 19.30972). Zudem wird die tatsächliche Durchführung einer Beschneidung im Einzelfall davon abhängen, welchem Druck die jeweiligen Eltern etwa auch aus dem eigenen familiären Umfeld ausgesetzt sind oder sich diesem entziehen können (vgl. BayVGH, B.v. 30.6.2004 – 25 B 01.30985 – juris Rn. 25) und inwieweit ein Beschneider in Äthiopien bereit ist, trotz der Strafbarkeit der Beschneidung eine solche durchzuführen.
Denn die weibliche Genitalverstümmelung ist in Äthiopien illegal, aber die äthiopische Regierung setzt dieses Verbot nicht konsequent durch. Seit der Reform des Strafgesetzbuches 2005 ist die weibliche Genitalverstümmelung gemäß Art. 565 mit Geldstrafe ab 500 Birr oder mit mindestens dreimonatiger, in besonders schweren Fällen mit bis zu 10 Jahren Gefängnisstrafe bedroht. Trotz sinkender Zahlen bleibt diese nach wie vor mit großen regionalen Unterschieden weit verbreitet, sodass die Zahlen zwischen 56% und über 70% landesweit schwanken, wobei in städtischen Gebieten die weibliche Genitalverstümmelung weniger verbreitet ist. Am häufigsten ist sie in ländlichen Gebieten der an Dschibuti und Somalia grenzenden Regionen Somali und Afar sowie in der gesamten Region Oromia anzutreffen (Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Äthiopien des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich vom 08.01.2019, S. 30 ff.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Äthiopien vom 17.10.2018).
Unter Zugrundelegung dieser Voraussetzungen droht der Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Äthiopien die Genitalverstümmelung als Verfolgungshandlung.
Die Familie der Klägerin ist islamischer Religionszugehörigkeit und gehört zur Ethnie der Oromo, gerade in Oromia ist aber nach den obigen Auskünften die Gefahr der Genitalverstümmelung für Mädchen besonders hoch. Die Mutter der Klägerin hat überzeugend dargetan, dass in der Familie der Klägerin Genitalverstümmelung verbreitet ist.
Es ist glaubhaft dargelegt, dass die Klägerin und ihre Mutter, bei einer Rückkehr zusammen mit dem Vater der Klägerin auch ihre Eltern, sich bei einer Rückkehr zu ihrer Großfamilie einer Genitalverstümmelung nicht entziehen wird können, obwohl ihre Mutter die Genitalverstümmelung selbst ablehnt. Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalls die Mutter der Klägerin in der patriarchalisch dominierten und von Traditionen stark geprägten Gesellschaft und ihrer Großfamilie gegenüber den – insbesondere älteren und männlichen – Leitfiguren keine greifbare Möglichkeit hätten, die Genitalverstümmelung der Klägerin zu verhindern.
Die staatlichen äthiopischen Stellen sind nicht effektiv in der Lage, die Klägerin vor nichtstaatlichen Akteuren – hier vor den Mitgliedern der Familie – Schutz vor Verfolgung zu bieten. Gerade im ländlich geprägten Raum existiert kein flächendeckender Schutz durch Organisationen oder die äthiopische Regierung vor Genitalverstümmelung.
Eine inländische Fluchtalternative, beispielsweise in der Hauptstadt Addis Abeba, ist unter Berücksichtigung der konkreten Umstände des Einzelfalls für die Klägerin nicht gegeben. Die Gründung einer neuen wirtschaftlichen und sozialen Existenz in anderen Landesteilen Äthiopiens ist bereits angesichts des niedrigen Existenzniveaus, der Schwierigkeit, Land zu erwerben sowie aufgrund ethnischer und sprachlicher Abgrenzungen schwierig.
Hinzu kommt, dass die Verhältnisse in Äthiopien derzeit durch die Corona-Pandemie im Zusammenspiel mit der im Land herrschenden Heuschreckenplage geprägt sind. Im vorliegenden Verfahren ist außerdem die durch die vorgelegten Atteste glaubhaft gemachte schwere Erkrankung der Klägerin zu berücksichtigen, die ein eigenständiges Überleben der Kernfamilie in Äthiopien im Hinblick auf die allgemeinen Zustände dort weiter erschweren würde.
Aus den zum Verfahrensgegenstand gemachten Unterlagen ergibt sich Folgendes:
Experten befürchten durch das Corona-Virus für den gesamten afrikanischen Kontinent eine Katastrophe. Sie nehmen eine extrem hohe Dunkelziffer an Infizierungen an und warnen insbesondere davor, dass sich überfüllte afrikanische Großstädte zu einem gefährlichen Herd für das Corona-Virus entwickeln könnten. Aufgrund der oftmals schlecht ausgestatteten Gesundheitssysteme – so soll es z.B. in Äthiopien für 105 Mio. Menschen 435 Beatmungsgeräte geben (Berliner Zeitung.de Politik-Gesellschaft vom 9.4.2020) – wird in Afrika durch die Pandemie eine ausmaßlose Katastrophe für möglich gehalten.
Nach einem Bericht der Stiftung Kinderdorf Pestalozzi vom 14.4.2020 hat Äthiopien für vorerst 5 Monate den Ausnahmezustand angeordnet. Damit sind alle Schulen, Universitäten und Kirchen geschlossen, Beamte sollen von zu Hause aus arbeiten. Mehr als 4.000 Gefangene wurden begnadigt, die äthiopische Fluglinie Äthiopien Airlines stellte die Flüge zu 82 Zielen ein. In der Region Tigray wurde der Ausnahmezustand aufgerufen und alle Bewegungen von den ländlichen Gebieten in die Städte untersagt.
Diese Angaben werden so auch in den „Reise- und Sicherheitshinweisen des Auswärtigen Amtes“, Stand: 15.4.2020, wiedergegeben. Danach müssen nach Äthiopien Einreisende sich auf eigene Kosten in eine 14-tägige Quarantäne in einem von der äthiopischen Regierung bestimmten Hotel begeben. Der Empfang von Besuchern dort ist nicht erlaubt. Die bisher landesweit geltenden Restriktionen umfassen das Verbot größerer Veranstaltungen, die Schließung aller Schulen, Restaurants und Clubs. Öffentliche Ämter sind seit 24.3.2020 bis auf einen Notbetrieb geschlossen. In allen Bundesstaaten wurde der öffentliche Personenverkehr verboten; Reisen aus Addis Abeba über Land sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln derzeit nicht möglich.
In vielen Städten herrschen weitreichende Ausgangssperren. In Gondar z.B. ist sowohl öffentlicher als auch privater Personennahverkehr verboten. Alle nicht lebensnotwendigen Geschäfte sind geschlossen.
Die für den 29.8.2020 geplanten Parlamentswahlen sind auf unbestimmte Zeit verschoben.
Neben der Corona-Pandemie und den damit für die Bevölkerung Äthiopiens einhergehenden Bedrohungen auch in wirtschaftlicher Hinsicht droht den Staaten des östlichen Afrika eine Hungersnot, seit gewaltige Heuschreckenschwärme eingefallen sind. Der Kampf gegen Corona verschlimmert die Lage noch. Infolge der bereits dargestellten Reisebeschränkungen ist es den Trupps, die versuchen, die Kurzfühlerschrecken mit Pestiziden zu bekämpfen, nahezu unmöglich, an ihre Einsatzorte zu kommen. Das ermöglicht den Insekten, sich ungehemmt zu vermehren. Die nun bevorstehende zweite Heuschreckengeneration könnte 500 mal so gewaltig wie die erste sein, wenn sie nicht bekämpft wird. Die gefräßigen Tiere sind mobil, ihre Jäger sind es nicht, so Thilo Thielke in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung „Nur die Heuschrecken sind noch mobil“ v. 7.4.2020. Im Dezember hatte die Invasion der Heuschrecken begonnen. Sie fraßen kahl, was auf ihrem Weg lag und zerstörten die Ernte. Es handelt sich aktuell um die schlimmste Plage seit 25 Jahren. Weil viele Länder ihre Grenzen geschlossen haben, gehen in Ostafrika die für die Bekämpfung der Heuschreckenplage erforderlichen Pestizide aus.
Die nach Auffassung des Gerichts derzeit zu berücksichtigenden prekären Lebensbedingungen sind z.Zt. im Hinblick auf die der herrschenden Pandemie immanenten Beschränkungen und die daraus folgenden Probleme der Erlangung eines Zugangs zu Arbeit und adäquater Unterkunft, zu Wasser, Nahrung, Gesundheitsversorgung und zur Erlangung der für die Befriedigung elementarer Bedürfnisse nötigen finanziellen Mittel sowie der durch die Heuschreckenplage zusätzlich zur Pandemie verursachten schwierigen wirtschaftliche Situation nach Auffassung des Gerichts gegeben.
Die Möglichkeit eines internen Schutzes nach § 3e Abs. 1 AsylG ist somit im konkreten Einzelfall unter Berücksichtigung der familiären Situation, insbesondere der Tatsache, dass die Mutter der Klägerin als Alleinerziehende für ihr Kleinkind sorgen muss, nicht erkennbar. Die Mutter der Klägerin kann aufgrund der schwierigen Gesamtsituation in Äthiopien gerade nicht ohne Weiteres ihren Aufenthalt an einem von der Familie entfernten Ort nehmen und sich dadurch dem familiären Druck entziehen. Dies gilt auch in dem Fall, dass die Klägerin zusammen mit ihren Eltern und ihrem Bruder zurück nach Äthiopien gehen würde, da dann die Eltern sich um zwei Kleinkinder kümmern müssten.
2.
Nach alledem war die Beklagte unter Aufhebung der Ziffer 1 des angefochtenen Bescheides zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.
3.
Nach alldem war der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154, 155 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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