Verwaltungsrecht

Asyl, Afghanistan, Provinz Kunduz – Kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, Gefahr durch Anschläge nicht beachtlich wahrscheinlich

Aktenzeichen  W 1 K 18.30126

Datum:
28.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 6613
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 4
VwGO § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1

 

Leitsatz

1 Es ist derzeit noch nicht davon auszugehen, dass aufgrund eines bewaffneten Konflikts praktisch jede Zivilperson schon allein aufgrund ihrer Anwesenheit in der afghanischen Provinz Kunduz einer ernsthaften Bedrohung für Leib und Leben infolge militärischer Gewalt ausgesetzt wäre. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
2 Es besteht keine individuelle und konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens iSd § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG aufgrund der Sicherheitslage in der Provinz Kunduz, auch wenn diese ersichtlich nicht als ruhig und positiv einzuschätzen ist. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die Anschlagswahrscheinlichkeit lag für die Nordostregion Afghanistans im Jahr 2017 bei deutlich unter 1:800 und damit weit entfernt von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, in dem betreffenden Gebiet verletzt oder getötet zu werden. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die Klage, über die in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig, jedoch unbegründet. Den Klägern stehen die geltend gemachten Ansprüche nicht zu. Der Bescheid des Bundesamtes vom 29. Dezember 2016 ist – soweit er noch Gegenstand dieser Klage ist (Ziffern 1 und 3) – rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1, Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Das Gericht folgt bezüglich der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzes der zutreffenden Begründung des Bundesamtsbescheides vom 29. Dezember 2016, § 77 Abs. 2 AsylG. Darüber hinaus ist Folgendes auszuführen:
I.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist vorliegend § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, soweit er keinen Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Nach § 77 Abs. 1 AsylG ist vorliegend das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 20. Juli 2017 (BGBl I S. 2780 ff.) geändert worden ist (AsylG), anzuwenden. Dieses Gesetz setzt in §§ 3 bis 3e AsylG – wie die Vorgängerregelungen in §§ 3 ff. AsylVfG – die Vorschriften der Art. 6 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt Nr. L 337, S. 9) – Qualifikationsrichtlinie (QRL) im deutschen Recht um. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK (BGBl 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind, wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betreffenden Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Nach § 3c AsylG kann eine solche Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen.
Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheitert bereits daran, dass ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG vorliegend nicht ersichtlich ist. Weder aus dem Vortrag vor dem Bundesamt noch aus den Ausführungen in der mündlichen Verhandlung wird auch nur ansatzweise ersichtlich, dass die Kläger aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, als Angehörige einer bestimmten sozialen Gruppe oder aufgrund ihrer politischen Überzeugung bzw. der Unterstellung eines dieser Merkmale verfolgt worden wären.
Darüber hinaus lassen sich den klägerischen Angaben vor dem Bundesamt keinerlei individuelle Verfolgungshandlungen gegenüber den Klägern entnehmen. Diese sind vielmehr aufgrund der allgemein schlechten Sicherheitslage und der bestehenden kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den afghanischen Sicherheitskräften und den Taliban aus ihrem Heimatland ausgereist. Bei den vorgetragenen Todesfällen durch kriegerische Auseinandersetzungen bzw. einen Raketenangriff in der Verwandtschaft der Kläger hat es sich evident nicht um eine gezielte Verfolgung der Familie bzw. der Kläger selbst gehandelt; vielmehr wurden diese Verwandten – die Glaubhaftigkeit des Vortrags insoweit unterstellt – zufällig Opfer gewaltsamer Kämpfe, wie der Kläger zu 1) in der mündlichen Verhandlung auch noch einmal dargelegt hat. Die Taliban und die staatliche afghanische Armee hätten in der Nähe ihres Wohnhauses seinerzeit jeweils ein Lager gehabt. Die Taliban hätten mit einer Rakete eigentlich das Lager der Nationalarmee treffen wollen, sodass das Wohnhaus der Kläger und darin befindliche Verwandte versehentlich Opfer der Auseinandersetzungen geworden sind, was im Rahmen des § 3 AsylG rechtlich nicht relevant ist. Ohne dass es von Rechts wegen noch hierauf ankäme, lag der Todesfall des Vaters zum Zeitpunkt der Ausreise der Kläger bereits etwa 26 Jahre zurück, der der Mutter und des Sohnes des Bruders des Klägers zu 1) mehr als ein halbes Jahr, so dass diese Vorfälle auch nicht direkt kausal für die Ausreise gewesen sind.
Soweit der Kläger zu 1) nunmehr in der mündlichen Verhandlung erklärt hat, dass sie von den Taliban aufgefordert worden seien, diesen zu helfen und sie zu unterstützen und im Gegenzug die Regierungstruppen sie aufgefordert hätten, dies zu unterlassen, so ist dieser Vortrag schon so pauschal und unsubstantiiert, dass ihm aus diesem Grunde kein Glauben geschenkt werden kann. Überdies haben die Kläger hierzu vor dem Bundesamt keinerlei Ausführungen gemacht. Daher ist insoweit von einer erheblichen Steigerung im Sachvortrag auszugehen ist, ohne dass hierfür eine nachvollziehbare Begründung ersichtlich wäre, so dass auch diese Steigerung gegen die Glaubhaftigkeit des diesbezüglichen Vorbringens spricht. Schließlich ist diesem Vorbringen aber auch keine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG zu entnehmen, da die beschriebenen – gegensätzlichen – Aufforderungen alleine noch keine von der genannten Vorschrift geforderte schwerwiegende Menschenrechtsverletzung darstellen.
Der Kläger zu 1) hat vor dem Bundesamt erklärt, dass sie in Afghanistan keine Sicherheitsperspektive und für ihren Sohn keine Zukunftsperspektive mehr gesehen hätten, was auch dessen Ehefrau bestätigt hat. Dies spiegelt nach Überzeugung des Gerichts die Motivation zur Ausreise umfassend wider. Nach alledem sind die Kläger nicht vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist und es ist nichts dafür ersichtlich, dass ihnen nach ihrer Rückkehr dorthin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine individuelle Verfolgung nach § 3 AsylG droht. Ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft scheidet daher aus.
II.
Die Kläger haben weiterhin keinen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 Abs. 1 AsylG.
1. Den Klägern droht nach Überzeugung des Gerichts weder die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG noch droht ihnen ein ernsthafter Schaden durch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Die Kläger haben die Gefahr eines individuellen ernsthaften Schadens, wie er im Rahmen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG erforderlich ist, nicht geltend gemacht. Diesbezüglich kann vollumfänglich auf die obigen Ausführungen zu § 3 AsylG verwiesen werden.
2. Den Klägern droht auch keine individuelle und konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG aufgrund der Sicherheitslage in ihrer Herkunftsregion, der Provinz Kunduz, auch wenn diese ersichtlich nicht als ruhig und positiv einzuschätzen ist. In der Nordostregion, zu der die Provinz Kunduz gehört, wurden im Jahre 2017 758 Zivilpersonen getötet oder verletzt, während die Opferzahl im Jahre 2016 noch bei 1.271 lag. In der Provinz Kunduz selbst ging die Anzahl der zivilen Opfer im Jahre 2017 um 41% zurück (vgl. UNAMA, Annual Report 2017 Afghanistan, Februar 2018, S. 7, 67). Die Anschlagswahrscheinlichkeit lag damit für die Nordostregion im Jahr 2017 bei deutlich unter 1:800 und damit nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts weit von der Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit, in dem betreffenden Gebiet verletzt oder getötet zu werden, entfernt (vgl. BVerwG, U.v. 17.11.2011 – 10 C 13/13 – juris). Damit ist derzeit noch nicht davon auszugehen, dass bei Unterstellung eines bewaffneten Konflikts praktisch jede Zivilperson schon allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betreffenden Gebiet einer ernsthaften Bedrohung für Leib und Leben infolge militärischer Gewalt ausgesetzt wäre. Individuelle gefahrerhöhende Umstände in der Person der Kläger sind darüber hinaus nicht erkennbar. Insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. Überdies wird darauf hingewiesen, dass die Lage des Wohnhauses der Kläger zwischen den Stellungen der Taliban und der Regierungstruppen bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht mehr zum Tragen käme, da diese ihr Haus verkauft haben und ohnehin anderweitig Wohnraum suchen müssten.
Eine andere Einschätzung ergibt sich auch nicht aus der Abhandlung von Frau F. S. (Zur aktuellen Bedrohungslage der afghanischen Zivilbevölkerung im innerstaatlichen Konflikt, in: ZAR 5-6/2017, S. 189 ff.). Soweit diese darauf hinweist, dass in den UNAMA-Berichten eine Untererfassung der zivilen Opfer zu besorgen sei, so ist darauf hinzuweisen, dass anderes geeignetes Zahlenmaterial nicht zur Verfügung steht und zum anderen auf die von Frau S. alternativ genannte Zahl der kriegsbedingt Binnenvertriebenen angesichts der klaren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (a.a.O.) nicht abgestellt werden kann. Insoweit weist Frau S. eingangs ihrer Abhandlung auch selbst darauf hin, dass ihre Diskussion nicht den Anspruch habe, die Kriterien einer juristischen Prüfung zu erfüllen (vgl. Fußnote 1). Aber selbst unter Einrechnung eines gewissen „Sicherheitszuschlages“ wird die kritische Gefahrendichte noch nicht erreicht.
Nach alledem war auch der Hilfsantrag auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus abzulehnen und daher die Klage insgesamt mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei, § 83b AsylG.

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