Verwaltungsrecht

Asyl, Nigeria, Familie mit drei Kindern, Kind mit homozygoter Sichelzellerkrankung, Abschiebungsverbot aus wirtschaftlichen Gründen (bejaht)

Aktenzeichen  M 13 K 21.30920

Datum:
20.5.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 11669
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. April 2021 ( …-232) wird aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, den Bescheid vom 30. Mai 2017 ( …-232) dahingehend abzuändern, dass betreffend den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Nigeria vorliegen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist begründet.
Der Kläger hat einen Anspruch auf Abänderung des Bescheids vom 30. Mai 2017 dahingehend, dass die Beklagte für ihn ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Nigeria feststellt (mit dem sich daraus ergebenden weiteren Abänderungsbedarf hinsichtlich des Bescheids vom 20.5.2017).
Ein Ausländer darf nach § 60 Abs. 5 AufenthG nicht abgeschoben werden, wenn sich aus der Anwendung der EMRK ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Für die Annahme einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung (Art. 3 EMRK) müssen die im Zielstaat drohenden Gefahren ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen. Allgemein schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die nicht auf eine Handlung oder Unterlassung von Verfolgungsakteuren (vgl. § 3c AsylG) zurückzuführen sind, können nur in besonderen Ausnahmefällen zur Feststellung eines Abschiebungsverbots führen Denn Art. 3 EMRK enthält keine Verpflichtung der Vertragsstaaten, nicht bleibeberechtigte Ausländer in ihrem Hoheitsgebiet dauerhaft mit einer Wohnung oder finanzieller Unterstützung zu versorgen, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – NVwZ 2019, 61 Rn. 20). Nach der neueren Rechtsprechung kann das für Art. 3 EMRK erforderliche Mindestmaß an Schwere erreicht sein, wenn sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not wiederfände, die es ihr nicht erlauben würde, selbst die elementarsten menschlichen Grundbedürfnisse zu befriedigen, namentlich sich zu ernähren, zu waschen und ein Obdach zu finden, und ihre Gesundheit beeinträchtigen oder sie in einen mit der Menschenwürde unvereinbaren Zustand der Verelendung versetzen würde (vgl. Zimmerer in BeckOK MigR, Stand 1.1.2021, § 60 AufenthG Rn. 23). Einer weitergehenden abstrakten Konkretisierung ist das Erfordernis, dass ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreicht sein muss, nicht zugänglich. Vielmehr bedarf es insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – juris LS 1 und Rn. 9, 11).
Nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 21.4.2022, 1 C 10.21, Pressemitteilung Nr. 25/2022 vom 21.4.2022) ist Maßstab für die im Rahmen der Prüfung nationalen Abschiebungsschutzes nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK anzustellende Gefahrenprognose grundsätzlich, ob der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer nach seiner Rückkehr, gegebenenfalls durch ihm gewährte Rückkehrhilfen, in der Lage ist, seine elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen. Nicht entscheidend ist hingegen, ob das Existenzminimum eines Ausländers in dessen Herkunftsland nachhaltig oder gar auf Dauer sichergestellt ist.
Kann der Rückkehrer Hilfeleistungen in Anspruch nehmen, die eine Verelendung innerhalb eines absehbaren Zeitraums ausschließen, so kann Abschiebungsschutz ausnahmsweise nur dann gewährt werden, wenn bereits zum maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt davon auszugehen ist, dass dem Ausländer nach dem Verbrauch der Rückkehrhilfen ein einem engen zeitlichen Zusammenhang eine Verelendung mit hoher Wahrscheinlichkeit droht.
Im vorliegenden Fall geht der Einzelrichter davon aus, dass bereits jetzt absehbar ist, dass dem Kläger und seinem Familienverband mit seinen Eltern und zwei 2018 und 2021 geborenen Geschwistern bei einer Ausreise nach Nigeria mit hoher Wahrscheinlichkeit in einem engen zeitlichen Zusammenhang nach dem Verbrauch von Rückkehrhilfen eine Verelendung drohen würde.
Denn es ist nicht nur zu berücksichtigen, ob die Eltern des Klägers voraussichtlich in der Lage sein würden, zusammen – ggf. unter wechselseitiger Betreuung der Kinder unter Umständen auch mit Unterstützung ihrer jeweiligen Familien (lt. den im humangenetischen Gutachten vom 23.5.2018 wiedergegebenen Angaben lebten in Nigeria noch die 42 Jahre alte gesunde Mutter der Mutter des Klägers sowie ein 29 Jahre alter gesunder Bruder und eine zehn Jahre alte gesunde Schwester der Mutter des Klägers [insofern hat die Mutter der Klägerin gegenüber dem Bundesamt abweichende Angaben gemacht] sowie die ebenfalls 42 Jahre alte gesunde Mutter des Vaters des Klägers) – das ganz normale alltägliche Existenzminimum für die insgesamt fünfköpfige Familie – also ohne Berücksichtigung von Behandlungskosten für den Kläger – zu erwirtschaften.
Es ist auch nicht nur zu berücksichtigen, ob die – erstmals anlässlich des stationären Aufenthalts des Klägers vom 17. Juli 2017 bis 25. Juli 2017 durch das LMU Klinikum der Universität M. neu diagnostizierte (vgl. Arztbrief vom 25.7.2017) – homozygote Sichelzellerkrankung des Klägers irgendwo in Nigeria grundsätzlich adäquat behandelbar ist und ob die – zusätzlichen – Kosten hierfür ggf. unter Verwendung von Rückkehrhilfen für eine gewisse Zeit finanziert werden könnten, so dass dem Kläger zumindest alsbald nach einer Ankunft in Nigeria keine lebensbedrohliche Gesundheitsgefahr drohen würde.
Vielmehr ist in einer Gesamtbetrachtung mit zu berücksichtigen, dass sich die Eltern des Klägers mit dem Kläger und den weiteren Kindern dauerhaft in unmittelbarer Nähe einer Fachklinik mit Erfahrung in der Betreuung von Kindern mit Sichelzellerkrankung und einer Notfallaufnahme sowie Kinderintensivstation niederlassen müssten, um im Falle einer jederzeit unerwartet möglichen medizinischen Krise mit dem Kläger innerhalb der nächsten 60 Minuten in einer solchen Klinik sein zu können (vgl. Schreiben des LMU Klinikums der Universität M. vom 4.9.2019 und 10.5.2022).
Es ist zur Überzeugung des Einzelrichters nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass den Eltern des Klägers dies – selbst mit (nicht als gesichert anzusehender) finanzieller Unterstützung durch deren Familien -gelingen könnte. Vielmehr geht der Einzelrichter davon aus, dass nach dem Verbrauch von Rückkehrhilfen unter Aufbietung aller Kräfte auf Dauer vielleicht die Finanzierung der Krankheitskosten des Klägers gerade so möglich wäre, deswegen aber der Familie als Ganzes Verelendung drohen würde. Denn solche Gegebenheiten würden die Eltern des Klägers nur in einer der großen Städte Nigerias vorfinden können, mit einerseits gegenüber auf dem Land absehbar viel höheren Lebenshaltungskosten, insbesondere auch zu erwartenden höheren Mietkosten, und andererseits einem angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation in Nigeria hart umkämpften Arbeitsmarkt bei hoher Arbeitslosigkeit.
Aus diesen Anforderungen an die sofortige Erreichbarkeit notfalls kinderintensivmedizinischer Versorgung resultiert auch plausibel die dem Kläger in der ärztlichen Bescheinigung des LMU Klinikums der Universität M. vom 26. Januar 2018 attestierte Reiseunfähigkeit, weil solche Anforderungen bereits während eines mehrstündigen Fluges von Deutschland nach Nigeria nicht erfüllt werden könnten – was allerdings kein hier zu berücksichtigendes zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis darstellt, sondern ein von der Ausländerbehörde zu berücksichtigendes inlandsbezogenes Abschiebungshindernis.
Ob die Eltern des Klägers wirklich staatlichen Krankenversicherungsschutz als „Selbständige“, wohl quasi als freiwilliges Mitglied, erlangen könnten, wie das Bundesamt im Bescheid vom 13. April 2021 meint (solche Ausführungen des Bundesamts sind dem Einzelrichter jedenfalls bislang in keinem seiner anderen Verfahren begegnet), an welche Bedingungen dies geknüpft wäre und ob die Eltern diese erfüllen könnten, erscheint völlig ungeklärt. Im zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 5. Dezember 2020 lässt sich dies jedenfalls so ebenso wenig nachvollziehen (Seite 24: „Es gibt eine allgemeine Kranken- und Rentenversicherung, die allerdings nur für Beschäftigte im formellen Sektor gilt.“) wie im nicht zum Gegenstand des Verfahrens gemachten aktuellen Lagebericht vom 22. Februar 2022 (dort gleichlautend auf Seite 21).
Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beim Kläger ebenfalls erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung mehr, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG um einen einheitlichen Verfahrensgegenstand handelt (vgl. BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – NVwZ 2012, 240 Rn. 16).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Nach § 83b AsylG ist das Verfahren gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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