Verwaltungsrecht

Asylverfahren, Herkunftsland: Arabische, Republik Syrien, Aufstockerklage, Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (verneint), keine Vorverfolgung, keine Sippenhaft wegen Wehrdienstentzug des Ehemanns und der Söhne, Familienasyl (verneint), Asylantrag nicht unverzüglich gestellt

Aktenzeichen  M 22 K 18.32909

Datum:
13.6.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 16085
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen
II. Die Klägerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten ihr Einverständnis mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erklärt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die Klage ist zulässig, bleibt in der Sache jedoch ohne Erfolg.
Der angefochtene Bescheid vom … … … erweist sich als rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten, da in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) der Klägerin kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zusteht (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Zur Vermeidung von Wiederholungen verweist das Gericht zunächst vollumfänglich auf die Begründung des angefochtenen Bescheids (§ 77 Abs. 2 AsylG), der das Gericht folgt. Lediglich ergänzend ist noch Folgendes auszuführen:
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge – Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), wenn sich dieser aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will (zu Sonderkonstellationen, bei denen ungeachtet einer etwaigen Verfolgungsgefahr eine Flüchtlingseigenschaft nicht gegeben ist bzw. kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft besteht, vgl. § 3 Abs. 2 bis 4 AsylG).
1.1. Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
Eine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung kann gemäß § 3c AsylG u.a. vom Staat, von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sowie von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, soweit die vorgenannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, wirksamen Schutz vor Verfolgung zu bieten (vgl. dazu § 3d AsylG).
1.2. Zwischen den Verfolgungsgründen (vgl. die Aufzählung in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG sowie die näheren Erläuterungen in § 3b Abs. 1 AsylG) und den Verfolgungshandlungen (§ 3a Abs. 1 und 2 AsylG) bzw. dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen muss eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG). Dafür reicht grundsätzlich ein Zusammenhang im Sinne einer Mitverursachung aus (vgl. BVerwG, U.v. 22.5.2019 – 1 C 11.18 – juris Rn. 16). Gerade mit Blick auf komplexe und multikausale Sachverhalte ist nicht zu verlangen, dass ein bestimmter Verfolgungsgrund die zentrale Motivation oder die alleinige Ursache einer Verfolgungsmaßnahme ist. Indes genügt eine lediglich entfernte, hypothetische Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund den Anforderungen des § 3a Abs. 3 AsylG nicht (vgl. BVerwG, U.v. 19.4.2018 – 1 C 29.17 – juris Rn. 13).
Gemäß § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Betreffende sein Herkunftsland verlassen hat (sog. Nachfluchtgründe). Im Gegensatz zu Vorfluchtgründen, die lediglich glaubhaft zu machen sind, bedürfen Nachfluchtgründe, die auf Ereignissen innerhalb des Gastlandes beruhen, des vollen Nachweises, wobei insoweit nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts besonders strenge Anforderungen zu stellen sind. Insofern ist den Versuchen einer missbräuchlichen Inanspruchnahme des Asylrechtsschutzes im Bereich der Sachverhaltsermittlung zu begegnen (BVerwG, U.v. 21.10.1986 – 9 C 28.85; U.v. 8.11.1983 – 9 C 93.83 – alle juris).
Unerheblich ist dabei, ob der Ausländer tatsächlich die Merkmale der Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden (§ 3 b Abs. 2 AsylG). Bei einer politischen Verfolgung ist für die Bejahung der Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund bereits ausreichend, wenn der Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zugerechnet wird, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. Ob der Betreffende aufgrund der ihm zugeschriebenen Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung (überhaupt) tätig geworden ist, ist dabei irrelevant (BVerfG, B.v. 22.11.1996 – 2 BvR 1753/96 – juris Rn. 5; VGH BW, U.v. 18.8.2021 – A 3 S 271/19 – juris Rn. 22).
1.3. Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG (vgl. dazu Art. 2 Buchst. d) RL 2011/95/EU) besteht, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen. Bei der Verfolgungsprognose ist der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzulegen, der sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) orientiert, der bei der Prüfung von Art. 3 Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK auf eine tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt (vgl. EGMR (GK), U.v. 28.2.2008 – Saadi/Italien, Nr. 37201/06 – NVwZ 2008, 1330 Rn. 125 ff.; BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris Rn. 18 ff.; U.v. 5.7.2019 – 1 C 37/18 – juris Rn. 13).
Demnach bedingt der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für die Annahme eines reellen Verfolgungsrisikos sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Gemeint ist damit keine quantifizierende, sondern eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und deren Bedeutung. Entscheidend ist, ob bei einer Bewertung des aus den gegebenen Umständen ableitbaren Verfolgungsrisikos bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann und ihm wegen dieses Risikos eine Rückkehr nicht zumutbar erscheint (stRspr, vgl. zu Art. 16a GG BVerwG, U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17; zu § 3 AsylG vgl. BVerwG, U.v. 22.5.2019 – 1 C 11/18 – juris Rn. 25 sowie BayVGH, U.v. 23.6.2021 – 21 B 19.33586 – juris Rn. 34).
1.4. Bei der gebotenen Prognose, ob die Furcht des Ausländers vor Verfolgung im Rechtssinne begründet ist (ihm also mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht), ist es Aufgabe des erkennenden Gerichts, die Prognosetatsachen zu ermitteln, diese im Rahmen einer Gesamtschau zu bewerten und sich auf dieser Grundlage gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO eine Überzeugung zu bilden. Das Gericht muss sowohl von der Wahrheit – und nicht nur von der Wahrscheinlichkeit – des vom Schutzsuchenden behaupteten individuellen Schicksals (soweit es nach den Umständen des Falles hierauf ankommt) als auch von der Richtigkeit der Prognose einer beachtlich wahrscheinlichen Verfolgungsgefahr die volle Überzeugung gewinnen. Es darf jedoch insbesondere hinsichtlich relevanter Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen stellen und keine unumstößliche Gewissheit verlangen, sondern muss sich in tatsächlich zweifelhaften Fällen mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad, der Zweifeln Schweigen gebietet, auch wenn sie nicht völlig auszuschließen sind (stRspr, BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 109/84 – BVerwGE 71, 180; U.v. 4.7.2019 – 1 C 33/18 – juris Rn. 20).
Besonderes Gewicht ist den Berichten des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) beizumessen, der gemäß Art. 35 Nr. 1 GFK und Art. 2 Nr. 1 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 31. Januar 1967 die Durchführung der Genfer Flüchtlingskonvention überwacht (vgl. dazu EuGH, U.v. 30.5.2013 – Halaf, C-528/11 – juris Rn. 44). Im Übrigen sind das persönliche Vorbringen des Rechtsuchenden und dessen Würdigung, namentlich wenn eine relevante Vorverfolgung behauptet wird, von zentraler Bedeutung. Für den Fall, dass keine weiteren Beweismittel zur Verfügung stehen, kann ggf. allein dessen Tatsachenvortrag zum Erfolg der Klage führen, sofern sich das Gericht von der Richtigkeit der entsprechenden Einlassungen überzeugen kann (vgl. BVerwG, U.v. 12.11.1985 – 9 C 27/85 – juris Rn. 15 f. m.w.N.).
In diesem Zusammenhang ist weiter darauf hinzuweisen, dass für die Verfolgungsprognose beim Flüchtlingsschutz ein einheitlicher Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt, d.h. es ist irrelevant, ob der Ausländer vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Die Privilegierung des Vorverfolgten erfolgt nicht (mehr) durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern durch die Beweiserleichterung in Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU. Nach dieser Vorschrift wird für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür begründet, dass sie bei einer Rückkehr in ihr Heimatland erneut von Verfolgung bedroht sind (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – juris Rn. 21 f.; U.v. 18.2.2021 – 1 C 4/20 – juris Rn. 15).
2. Unter Anwendung der vorgenannten Grundsätze besteht für die Klägerin zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt bei einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien keine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung aus den in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Verfolgungsgründen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft lagen bei der Klägerin weder im Zeitpunkt ihrer Ausreise im Jahr … vor (dazu unter 2.1.) noch ergeben sie sich aus Ereignissen, die eingetreten sind, nachdem sie ihr Herkunftsland verlassen hat (dazu unter 2.2.).
2.1. Die Klägerin ist nach ihren Angaben gegenüber dem Bundesamt und im Klageverfahren zur Überzeugung des Gerichts nicht vorverfolgt aus Syrien ausgereist.
Soweit die Klägerin die Kriegshandlungen als Grund ihrer Ausreise aus Syrien und ihres Verbleibs im Ausland bezeichnet hat, wurde dieser Umstand bereits im Rahmen der Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 AsylG berücksichtigt.
Im Übrigen hat das Gericht auch unter Berücksichtigung ihrer Einlassungen im Asylsowie Klageverfahren nicht die Überzeugung gewonnen, dass die Klägerin in Syrien vor ihrer Ausreise eine flüchtlingsrelevante (Vor-)Verfolgung durch den syrischen Staat oder sonstige Akteure im Sinne von § 3 c Nr. 2 und 3 AsylG erlitten hat. Eine solche ist jedenfalls weder in den Bombardierungen als Teil der allgemeinen Kriegshandlungen noch in der Einberufungsbenachrichtigung zu sehen.
2.2. Nach der in Auswertung der Erkenntnislage und unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls gewonnenen Überzeugung des Gerichts bestehen zudem auch keine Nachfluchtgründe, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft der Klägerin führen.
Es ist – auch unter Berücksichtigung des Charakters des syrischen Staates (dazu unter a) – nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Klägerin bei einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien und allein wegen ihrer (illegalen) Ausreise, ihres Asylantrags sowie des damit verbundenen Aufenthalts im Ausland eine politische Verfolgung droht (dazu unter b). Die Klägerin muss eine Verfolgung durch die syrischen Sicherheitskräfte auch nicht schon aufgrund ihrer Herkunft aus … befürchten (dazu unter c). Gleiches gilt auch bei einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Rahmen einer Gesamtwürdigung (dazu unter d). Schließlich ist die Klägerin auch nicht beachtlich wahrscheinlich von Sippenhaft bzw. Reflexverfolgung infolge der Wehrdienstentziehung ihres Ehemanns und ihrer Söhne bedroht (dazu unter e).
a) Zunächst wird darauf hingewiesen, dass das syrische Regime oppositionelle Bestrebungen seit jeher (von kurzen Tauwetterphasen abgesehen) massiv unterdrückt. Zum „Charakter des syrischen Staates“ führt der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (U.v. 23.6.2021 – 21 B 19.33586 – juris Rn. 36; U.v. 6.4.2022 – 21 B 19.34287 – juris Rn. 22) Folgendes aus:
„Das Herrschaftssystem des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad ist durch den seit dem Jahr 2011 anhaltenden militärischen Kampf gegen verschiedene feindliche Organisationen und infolge internationaler Sanktionen militärisch sowie wirtschaftlich unter erheblichen Druck geraten. Ziel der Regierung ist es, die bisherige Machtarchitektur bestehend aus dem Präsidenten Bashar al-Assad sowie den drei um ihn gruppierten Clans (Assad, Makhlouf und Shalish) ohne einschneidende Veränderungen zu erhalten und das Herrschaftsmonopol auf dem gesamten Territorium der Syrischen Arabischen Republik wiederherzustellen. Diesem Ziel ordnete die Regierung in den vergangenen Jahren alle anderen Sekundärziele unter (vgl. Gerlach, „Was in Syrien geschieht – Essay“ vom 19.2.2016). Sie geht in ihrem Einflussgebiet im Ganzen betrachtet zielgerichtet und ohne Achtung der Menschenrechte gegen tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner (Oppositionelle) mit größter Brutalität und Rücksichtslosigkeit vor. Dabei sind die Kriterien dafür, was als politische Opposition betrachtet wird, sehr weit: Kritik, Widerstand oder unzureichende Loyalität gegenüber der Regierung sollen Berichten zufolge zu schweren Vergeltungsmaßnahmen für die betreffenden Personen geführt haben (UNHCR, International Protection Considerations with Regard to People Fleeing the Syrian Arab Republic – Update VI, März 2021, S. 95 – im Folgenden UNHCR International Protection Considerations 2021; siehe auch Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien, Februar 2017, S. 8 – im Folgenden: UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen 2017). Seit dem Ausbruch des Krieges im März 2011 sind zahlreiche Fälle von Verhaftung, Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren, „Verschwindenlassen“, tätlichen Angriffen, Tötung in Gewahrsam der Sicherheitskräfte und Mordanschlägen belegt. Mittlerweile sollen bislang über 17.000 Menschen in syrischen Gefängnissen durch Folter oder aufgrund unmenschlicher Haftbedingungen gestorben sein. Das syrische Regime macht in der Regel keine Angaben zu Todesfällen in Folge von Gewaltanwendung in syrischen Haftanstalten, sondern benennt zumeist unspezifische Todesursachen wie Herzversagen, Schlaganfall und ähnliches (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 4.12.2020, S. 19).“
b) Diese Umstände allein rechtfertigen allerdings nicht die begründete Furcht, dass syrische staatliche Stellen die Klägerin bei einer (hypothetischen) Rückkehr nach Syrien als Oppositionellen betrachten und sie deshalb wegen einer ihm unterstellten politischen Überzeugung verfolgen werden, zumal die Familie nach den eigenen Angaben der Klägerin nicht politisch aktiv gewesen sei. Das erkennende Gericht schließt sich in diesem Zusammenhang den Entscheidungen des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. Dezember 2016 (21 B 16.30338; 21 B 16.30364; 21 B 16.30371 – alle juris) an, der nach Auswertung der maßgeblichen und auch in das vorliegende Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen zu diesem Ergebnis kommt (so auch BayVGH, U.v. 9.5.2019 – 20 B 19.30643 – juris Rn. 35 ff.; U.v. 10.9.2019 – 20 B 19.32549 – juris Rn. 21 ff. m.w.N.; U.v. 14.12.2021 – 21 B 19.32688) und auch im Übrigen mit der gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung übereinstimmt (ebenso mit teilweise abweichender Begründung: OVG RhPf, U.v. 12.4.2018 – 1 A 10988.16; ThürOVG, U.v. 15.6.2018 – 3 KO 155.18; HessVGH, U.v. 26.7.2018 – 3 A 809/18.A; OVG Saarl, U.v. 14.11.2018 – 1 A 609.17; OVG Berlin-Bbg, U.v. 12.2.2019 – OVG 3 B 27.17; VGH BW, U.v. 27.3.2019 – A 4 S 335.19; OVG Hamburg, U.v. 29.5.2019 – 1 Bf 284/17.A; SächsOVG, U.v. 21.8.2019 – 5 A 50/17.A; OVG SH, U.v. 3.1.2020 – 5 LB 34.19; OVG NW, U.v. 22.3.2021 – 14 A 3439/18.A; OVG Bremen, U.v. 24.3.2021 – 2 LB 123.18; NdsOVG, U.v. 22.4.2021 – 2 LB 147.18; BayVGH, U.v. 14.12.2021 – 21 B19.32688 – alle juris).
Auch die neueren Erkenntnisse über die Lage in Syrien, wonach einem Rückkehrer, der nicht explizit als politischer Oppositioneller aufgefallen bzw. nicht in einer Fahndungsliste (sog. wanted list) angeführt ist, regelmäßig keine Repressionen drohen (vgl. Europäisches Zentrum für Kurdische Studien (EZKS), Auskunft an das Verwaltungsgericht Berlin vom 11.3.2019; Immigration and Refugee Board of Canada, Responses to Information Requests, SYR106356.E, 9.9.2019, S. 3; United States Department of State, Syria 2020 Human Rights Report, S. 45; Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 4.12.2020, S. 24 ff.; EASO, Syria Situation of returnees from abroad, Country of origin information report, Juni 2021, S. 11 ff.; Bundesamt für Fremdwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation: Syrien, Country of origin information, 30.6.2021, S. 100 ff.; Amnesty International, „You are going to your death“ – Violations against syrian refugees returning to Syria, September 2021, S. 15 ff.), geben aktuell keinen Anlass von dieser Rechtsprechung abzuweichen.
c) Auch mit Blick auf die Herkunft der Klägerin aus einem (vormals) überwiegend regierungsfeindlichen Gebiet ( …) droht ihr bei einer hypothetischen Rückkehr nach Syrien keine flüchtlingsrelevante Verfolgung durch den syrischen Staat. Insoweit geht das Gericht im Einklang mit der einheitlichen obergerichtlichen Rechtsprechung davon aus, dass die Herkunft aus einem oppositionellen Gebiet für sich genommen nicht ausreicht, eine begründete Furcht vor Verfolgung zu bewirken. Vielmehr bedarf es daneben eines Hinzutretens weiterer gefahrerhöhender Umstände, wie etwa einer oppositionellen Tätigkeit (vgl. hierzu zuletzt BayVGH, U.v. 21.11.2019 – 20 B 19.30456 – juris Rn. 34; U.v. 12.4.2019 – 21 B 18.32459 – juris Rn. 93 ff.; U.v. 20.6.2018 – 21 B 17.31605; NdsOVG, U.v. 16.1.2020 – 2 LB 731/19 – juris Rn. 78 ff.; OVG SH, U.v. 27.9.2018 – 2 LB 71/18; OVG NW, U.v. 3.9.2018 – 14 A 837/18.A – alle juris; ähnlich auch Auskunft des Auswärtigen Amtes an den Hessischen Verwaltungsgerichtshof vom 12.2.2019, Antwort auf Frage 4; Danish Refugee Council/The Danish Immigration Service, Syria – Security Situation in Damascus Province and Issues Regarding Return to Syria, Februar 2019, S. 15 f.). Die Klägerin verneinte gegenüber dem Bundesamt, in Syrien oppositionell bzw. politisch tätig gewesen zu sein. Insofern ist nicht davon auszugehen, dass sie dem syrischen Regime als Regimegegnerin bekannt gewesen wäre.
d) Selbst bei Einbeziehung aller vorgenannten Umstände in die zu treffende Prognoseentscheidung und unter Zugrundelegung der aktuellen Erkenntnislage ergibt sich im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nach Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine flüchtlingsrechtlich relevante (politische) Verfolgung i.S.v. § 3 Abs. 1 AsylG. Bei der Klägerin liegen keine besonderen individuellen risikoerhöhenden Umstände vor, weshalb ihr vom syrischen Staat eine oppositionelle Haltung unterstellt werden könnte und ihr deshalb Verfolgungsmaßnahmen drohen würden.
e) Schließlich ist es ebenfalls nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Klägerin bei einer hypothetischen Rückkehr nach Syrien unter dem Gesichtspunkt der Sippenhaft eine politische (Reflex-)Verfolgung durch den syrischen Staat zu erwarten hätten (vgl. grundlegend zur Reflexverfolgung BayVGH, U.v. 20.6.2018 – 21 B 18.30825 und 21 B 17.31605 – juris Rn. 52 ff.), allein weil sich ihr Ehemann und ihre Söhne durch Ausreise ins Ausland dem Militärdienst entzogen hätten.
Zwar stellt die Reflexverfolgung von Familienangehörigen in Syrien ein vertrautes und weit verbreitetes politisches Instrument dar (vgl. etwa UNHCR, Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Asylsuchendenden aus Syrien – illegale Ausreise und verwandte Themen, Februar 2017, S. 12 f.; Schweizerische Flüchtlingshilfe – SFH – Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 25.1.2017 zu Syrien: Reflexverfolgung, S. 1). Jedoch ist eine Verhaftung bzw. menschenrechtswidrige Behandlung von Familienangehörigen nur dann mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, wenn die gesuchte Person ein politisches Profil – insbesondere in Form einer oppositionellen, regimekritischen Tätigkeit aufweist, was hier hinsichtlich der Klägerin deren eigenen Angaben zufolge nicht der Fall war (vgl. hierzu etwa die Beispiele in Fußnote 61 des UNHCR, a.a.O., S. 12; so auch VGH BW, U.v. 9.8.2017 – A 11 S 710.17 – juris Rn. 50; in diese Richtung auch AA – Bericht über die Lage in der arabischen Republik Syrien vom 13.11.2018, S. 17 oben). Dies ist im Falle der Wehrdienstentziehung jedoch nicht anzunehmen. Dazu besteht Einigkeit in der Rechtsprechung der deutschen Oberverwaltungsgerichte (vgl. BayVGH, U.v. 20.6.2018 – 21 B 17.31605 – juris Rn. 52 ff.; U.v. 22.6.2018 – 21 B 18.30852 – juris Rn. 39; U.v. 9.5.2019 – 20 B 19.30534 – juris Rn. 63 ff.; B.v. 26.2.2020 – 20 B 19.30719; VGH BW, U.v. 9.8.2017 – A 11 S 710.17 – juris Rn. 50; SächsOVG, U.v. 7.2.2018 – 5 A 1246/17.A – juris Rn. 49 f.; OVG NW, U.v. 12.12.2018 – 14 A 847/18.A – juris Rn. 37).
3. Schließlich kann die Klägerin die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach den Grundsätzen über den internationalen Schutz für Familienangehörige – abgeleitet etwa von ihrem Sohn als Stammberechtigtem – nach § 26 Abs. 2 i.V.m. Abs. 5 AsylG schon deshalb nicht beanspruchen, weil sie ihren Asylantrag nicht „unverzüglich“ im Sinne des § 26 Abs. 3 Nr. 3 AsylG, sondern erst knappe zwei Jahre nach der Einreise in Deutschland gestellt hat. Es liegen auch keine Anhaltspunkte für ein früheres Asylgesuch im Sinne des § 13 AsylG vor.
4. Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen, weil nicht festgestellt werden kann, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gegenüber der Klägerin vorliegen. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben.
5. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. Zivilprozessordnung (ZPO).


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