Verwaltungsrecht

Ausgestaltung der polizeilichen Generalklausel in Bezug auf die Gefährderansprache

Aktenzeichen  B 1 K 17.850

Datum:
12.9.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 35337
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
PAG Art. 2 Abs. 1, Art. 4, Art. 5, Art. 11 Abs. 2 S. 1
VwGO § 43

 

Leitsatz

1. Eine Gefährderansprache enthält im Allgemeinen keine über Mahnungen und Hinweise hinausgehende Regelungswirkung und ist als schlicht-hoheitliches Handeln zu qualifizieren. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)
2. Mit der Gefährderansprache soll einem zukünftig zu besorgenden Verhalten einer Person begegnet werden. In diesem Bereich der Gefahrenabwehr müssen aber konkrete Erkenntnisse vorliegen, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit von der betreffenden Person ausgeht. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)
3. Findet eine Ermessensauswahl hinsichtlich der Wahl des Mittels (statt der Gefährderansprache etwa ein Telefonat oder ein Gefährderanschreiben) nicht statt, ist von einem Ermessensausfall auszugehen. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

1. Es wird festgestellt, dass die polizeiliche Maßnahme vom 15. April 2016 (Aufsuchung und Befragung des Klägers an dessen Wohnanwesen (s. Rubrum) durch einen Beamten der Polizeiinspektion … rechtswidrig war.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.
Über den Rechtsstreit kann gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 VwGO durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Die Beteiligten wurden gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Entscheidung durch Gerichtsbescheid gehört.
II.
Die Klage hat in der Sache Erfolg.
1. Die Klage ist als Feststellungsklage zulässig.
a) Statthafte Klageart ist vorliegend die Feststellungsklage gemäß § 43 VwGO. Mit einer Feststellungsklage kann die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts begehrt werden, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Zwar ist fraglich, ob es sich bei der Maßnahme schon um eine Gefährderansprache gehandelt hat oder von der Intensität der Maßnahme eher eine Art Auskunftsverlangen vorlag. Selbst wenn man aber von einer Gefährderansprache ausgehen würde, würde es sich nicht um eine Maßnahme, die eine Behörde zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts trifft, und die auf unmittelbare Rechtswirkung nach außen gerichtet ist, handeln. Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat hierzu mit Urteil vom 07. Dezember 2017 (1 S 2526/16 – juris Rn. 32) ausgeführt, dass die polizeiliche Gefährderansprache im Allgemeinen keine über eine Warnung und Hinweise hinausgehende Regelungswirkung enthält. Sie hat zum Ziel, auf die Willensentschließung des Betroffenen einzuwirken. Ein bestimmtes Verhalten gibt sie diesem aber nicht auf und enthält folglich keine verbindliche Regelung. Somit ist die Gefährderansprache als schlicht-hoheitliches Handeln zu qualifizieren. Mit der Gefährderansprache ist zwischen dem Kläger und dem Beklagten eine Rechtsbeziehung entstanden, die ein konkretes und streitiges, mithin feststellungsfähiges Rechtsverhältnis bildet. Zu klären ist, ob der der Gefährderansprache zugrunde liegende Sachverhalt den handelnden Polizeivollzugsdienst ermächtigte, in der geschehenen Art und Weise zu verfahren. Zwar mag die Gefährderansprache faktisch nicht durchführbar gewesen sein, da der Kläger weitere Auskünfte verweigerte. Der Polizeibeamte hat aber nach eigener Einlassung des Beklagten zu einer Gefährderansprache ansetzen wollen, sodass von einem feststellungsfähigen Rechtsverhältnis ausgegangen werden kann.
b) Ein Feststellungsinteresse besteht deshalb, weil der Kläger in der Gewalttäterdatei Sport eingetragen ist und somit eine konkrete Wiederholungsgefahr besteht.
c) Die Feststellungsklage ist auch nicht verwirkt. Nach dem auch im Verwaltungsrecht geltenden, aus dem Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB) abgeleiteten Rechtsgedanken der Verwirkung (vgl. BVerwG, B.v. 11.6.2010 – 6 B 86.09 – juris Rn. 11) kann ein Kläger sein Recht zur Erhebung der Klage nicht mehr ausüben, wenn seit der Möglichkeit der Geltendmachung eine längere Zeit verstrichen ist (Zeitmoment) und besondere Umstände hinzutreten (Umstandsmoment), die die verspätete Geltendmachung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (BayVGH, U.v. 9.10.2014 – 8 B 12.1546 – juris Rn. 17 m.w.N.). Das Umstandsmoment ist insbesondere erfüllt, wenn die Behörde infolge eines bestimmten Verhaltens des Adressaten des Verwaltungsaktes darauf vertrauen durfte, dass dieser nach längerer Zeit nicht mehr von seinem Klagerecht Gebrauch machen werde, und wenn sie sich infolge dieses Vertrauens so eingerichtet hat, dass ihr durch die verspätete Durchsetzung des Klagerechts ein unzumutbarer Nachteil entstehen würde (vgl. BVerwG, U.v. 18.7.2012 – 8 C 4.11 – BeckRS 2012, 57991 Rn. 86). Gemessen an diesen Grundsätzen liegt eine Verwirkung nicht vor.
Der Bevollmächtigte des Klägers hat die Behörde um Auskunft hinsichtlich der über den Kläger gespeicherten Daten erbeten und hat im Rahmen dieses Auskunftsverlangens zum Ausdruck gebracht, dass er von der Rechtswidrigkeit der polizeilichen Maßnahme ausgeht und eine weitere Prüfung anstrebt. Die beantragte Auskunft war im Hinblick auf die Prüfung der Voraussetzungen hinsichtlich der Zulässigkeit und der Begründetheit der Klage von Interesse. Die Auskunft hat der Kläger mit Schreiben des Bayerischen Landeskriminalamts vom 27. Februar 2017 erhalten. Die Klage wurde 8 Monate später erhoben und somit noch innerhalb der Frist von einem Jahr, welche mindestens für die Annahme einer Verwirkung heranzuziehen wäre (Rechtsgedanke aus § 58 Abs. 2 VwGO – auch wenn es sich bei der im Streit stehenden Maßnahme um keinen Verwaltungsakt gehandelt hat). Zudem hat der Kläger kein Umstandsmoment gesetzt, wonach er keinen gerichtlichen Rechtsschutz mehr suchen werde.
2. Die Feststellungsklage ist begründet. Die polizeiliche Maßnahme vom 15. April 2016 war rechtwidrig und verletzt den Kläger deshalb in seinen Rechten.
Nach Art. 2 Abs. 1 PAG hat die Polizei die Aufgabe, die allgemein oder im Einzelfall bestehenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Die Polizei wird tätig, soweit ihr die Abwehr der Gefahr durch eine andere Behörde nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint (Art. 3 PAG). Das Handeln der Polizei muss im Zeitpunkt der Maßnahme nach pflichtgemäßer Beurteilung durch den Polizeibeamten notwendig und unaufschiebbar sein. Die Aufgabeneröffnung ergibt sich hier dadurch, dass im Fall der Gefährderansprache eine andere Behörde die Gefahr aus tatsächlichen Gründen nicht abwehren kann, da sie aus faktischen Gründen gehindert ist (Mängel der Ausrüstung, in der Fortbildung und der Sachkenntnis (Nr. 3.2 VollzBek PAG, Holzner, BeckOK PolR Bayern, 10. Auflage, Stand 1.2.2019, Art. 3 PAG Rn. 8)). In der Literatur ist anerkannt, dass die Gefährderansprache zu einer Aufgabeneröffnung im Zusammenhang mit sportlichen Großveranstaltungen führt. So sind etwa im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland im Jahr 2006 Personen, die in der Vergangenheit am Rande von Fußballspielen gewalttätig geworden waren, von der Polizei darauf hingewiesen worden, dass sie im polizeilichen Fokus stünden und gegen sie bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen vorbeugende Maßnahmen ergriffen werden könnten.. Solche Hinweise können zusätzlich damit verbunden sein, dass den betreffenden Personen nahegelegt wird, eine bestimmte Veranstaltungsstätte zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht aufzusuchen (Prof. Dr. T. H., Die Gefährderansprache, NVwZ 2011, 1364).
Rechtsgrundlage für die Maßnahme ist nicht der am 1. August 2017 neu eingeführte Art. 11 Abs. 3 Satz 1 PAG, sondern die zum Zeitpunkt der Maßnahme geltende polizeiliche Generalklausel des Art. 11 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 oder Nr. 3 PAG (Holzner, BeckOK PolR Bayern, 10. Auflage, Stand 1.2.2019, Art. 11 PAG Rn. 212).
Bei einer Gefährderansprache handelt die Behörde „im Frühstadium“ von Gefahren, denn es soll einem zukünftig zu besorgenden Verhalten einer bestimmten Person begegnet werden. Der Bereich der Gefahrenabwehr darf indes nicht verlassen und der Bereich der bloßen Gefahrenvorsorge nicht betreten werden, denn so weitgehend zu Gunsten der Polizeibehörden ist die polizeiliche Generalklausel nicht ausgestaltet. Es müssen daher konkrete Erkenntnisse vorliegen, dass mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von der betreffenden Person eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht (Prof. Dr. T. H., Die Gefährderansprache, NVwZ 2011, 1364). Das Vorliegen einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit einer Gefahr wurde hier vom Beklagten nicht dargelegt. Der Kläger ist in der Datei „Gewalttäter Sport“ wegen Landfriedensbruchs und einhergehendem Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte anlässlich eines Fußballspiels in … am … eingetragen. Im Raum soll auch noch stehen, dass der Kläger am … mit Fußballfans in der U-Bahn in Nürnberg gewesen sei, wobei aus dieser Gruppe ein Feuerlöscher gegen einen entgegenkommenden U-Bahn-Zug geworfen worden sei. Dies wird vom Kläger allerdings bestritten. Das Lagebild sollte zu den ab 10. Juni 2016 bis zum 10. Juli 2016 in Frankreich stattfindenden Spielen der UEFA EURO 2016 erstellt werden. Da der Kläger aber bereits zwei Jahre nicht mehr in Erscheinung getreten war und in der Zwischenzeit schon vermehrt Bundesligaspiele stattgefunden hatten (zu deren Besuchen der Kläger nicht befragt wurde) und auch ein Auftreten in Zusammenhang mit Spielen der Nationalmannschaft noch nie im Raum stand, kann nicht davon ausgegangen werden, dass bei einem in … wohnenden Kläger konkret die Gefahr bestand, dass er sich die bevorstehenden Fußballspiele vor Ort (in Paris) ansehen werde und auch hier in irgendeiner Form auffällig in Erscheinung treten wird.
Selbst wenn man eine konkrete Gefahr bejahen würde, müsste eine ordnungsgemäße Ermessensausübung erfolgen (Art. 5 PAG). Da im vorliegenden Fall nicht einmal ein Aktenvermerk angefertigt wurde, scheint es sich bei der Maßnahme eher um eine Einzelmaßnahme, die willkürlich gegenüber einem Einzelnen getroffen wurde, als um die Erstellung eines allgemeinen Lagebildes gegenüber einer Mehrheit von Personen, die im Hinblick auf die Spiele in Frankreich gefährlich erscheinen könnten, gehandelt zu haben. In den Akten finden sich keine Hinweise, die auf die Erstellung eines Lagebildes hindeuten (also weder ein Anschreiben des Polizeipräsidiums … hierzu wie im später gefertigten Aktenvermerk angedeutet – noch sonstige Anhaltspunkte, die auf die Erstellung eines allgemeinen Lagebildes schließen lassen). Wäre tatsächlich ein Lagebild zu erstellen gewesen, so hätte gerade die Weigerung der Auskunft des Klägers Anlass geboten, weiter zu ermitteln und der anfragenden Stelle Mitteilung zu machen. In jedem Fall hätte dann schon viel früher eine Akte angelegt werden müssen und nicht erst zum Zeitpunkt des Akteneinsichtsgesuchs des Bevollmächtigten des Klägers. Zudem wären hinsichtlich der Wahl des Mittels auch andere Maßnahmen wie ein Telefonat oder ein Gefährderanschreiben denkbar gewesen. Eine Ermessensauswahl hierzu fand nicht statt, sodass von einem Ermessensausfall auszugehen ist. Hinzu kommt, dass die zuletzt genannten Maßnahmen wohl auch weniger einschneidend gewesen wären und nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 4 PAG) vorrangig zu prüfen gewesen wären.
III.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit richtet sich nach § 167 Abs. 1 und 2 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben