Verwaltungsrecht

Ausschluss eines Erstattungsanspruchs mangels Leistungsverpflichtung des Jugendhilfeträgers

Aktenzeichen  M 18 K 14.4527

Datum:
30.3.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 134013
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
SGB X § 104 Abs. 1
SGB VIII § 10 Abs. 4 S. 1, § 27 Abs. 1
GG Art. 6 Abs. 2 S. 1

 

Leitsatz

1. Eine Hilfe zur Erziehung scheidet aus, wenn im Rahmen der für die leistungsberechtigte Kindsmutter zu erbringenden Assistenz keine eigenverantwortliche, auch nur teilweise Übernahme von Erziehungsaufgaben stattfindet, sondern die Assistenzpersonen nur Boten der erzieherischen Tätigkeit der leistungsberechtigten Kindsmutter sind (vgl. VG Minden BeckRS 2009, 36343, LSG NRW BeckRS 2012, 68090). (redaktioneller Leitsatz)
2. Ein sozialhilferechtlicher Anspruch auf Eingliederungshilfe für behinderte Erziehungsberechtigte in Form der Elternassistenz stützt sich darauf, dass die Eltern-Kind-Beziehung existenziell und eine soziale Bindung von herausragender Bedeutung ist und damit die Verantwortungsübernahme der Eltern mit Behinderung für ihr Kind eine zentrale Frage der Teilhabe der Eltern am Leben in der Gemeinschaft ist.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Erstattungsanspruch aus § 104 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Nach dieser Vorschrift ist der vorrangig verpflichtete Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 SGB X vorliegen, soweit der vorrangig verpflichtet Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat.
Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Der Kläger hat nicht als gegenüber der Beklagten nachrangig verpflichteter Leistungsträger eine Sozialleistung an die Leistungsberechtigte erbracht. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger nach § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X, soweit er bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre. So liegt der Fall hier nicht. Eine vorrangige Leistungsverpflichtung der Beklagten ergibt sich nicht aus § 10 Abs. 4 Satz 1 Sozialgesetzbuch Achtes Buch (SGB VIII). Nach dieser Vorschrift gehen Leistungen nach SGB VIII den Leistungen nach SGB XII vor.
Die Voraussetzungen für Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe nach SGB VIII lagen hier jedoch nicht vor. Ein Anspruch auf Hilfe zur Erziehung nach § 27 Abs. 1 SGB VIII bestand nicht. Ein Personensorgeberechtigter hat nach dieser Vorschrift bei der Erziehung eines Kindes oder eines Jugendlichen Anspruch auf Hilfe (Hilfe zur Erziehung), wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung geeignet und notwendig ist. Voraussetzung ist demnach ein mit den Mitteln der Jugendhilfe zu behebendes Erziehungsdefizit.
Ein solches Erziehungsdefizit im Sinne der Jugendhilfe besteht vorliegend nicht.
Die leistungsberechtigte Kindsmutter ist in ihrer körperlichen Beweglichkeit erheblich eingeschränkt. Sie konnte nach den in der Sache nicht bestrittenen Stellungnahmen der Bezirkssozialarbeit der Beklagten jedoch in vollem Umfang die Verantwortung für die Erziehung ihrer Tochter übernehmen. Die körperlichen Einschränkungen der Leistungsberechtigten Kindsmutter haben ohne Zweifel Einfluss auf deren Fähigkeit, die im Rahmen der Erziehung ihrer Tochter erforderlichen (körperlichen) Tätigkeiten auszuführen.
Zur Abdeckung des daraus entstehenden Bedarfs sind jedoch nicht Leistungen der Hilfe zur Erziehung i.S.d. § 27 Abs. 1 SGB VIII geeignet und notwendig. Maßstab der Eignung ist der sozialpädagogische Gehalt der Hilfe (vgl. Stähr in Hauck/Noftz (Hrsg.), SGB VIII, Stand 10/2006, § 27 Rn. 26).
An einem solchen fehlt es hier. Eine Hilfe mit sozialpädagogischem Gehalt ist nicht notwendig. Im Rahmen der für die leistungsberechtigte Kindsmutter zu erbringenden Assistenz findet keine eigenverantwortliche, auch nur teilweise Übernahme von Erziehungsaufgaben statt. Die jeweiligen Assistenzpersonen sind gewissermaßen Boten der erzieherischen Tätigkeit der leistungsberechtigten Kindsmutter, nicht dagegen gewissermaßen Bevollmächtigte für die Erziehung, denen eigene erzieherische und pädagogische Entscheidungen übertragen sind. Dieses Ergebnis entspricht der zu vergleichbaren Konstellationen ergangenen Rechtsprechung (vgl. VG Minden, B.v. 31.7.2009 – 6 L 382/09 – juris Rn. 27 ff., LSG NW, U.v. 23.2.2012 – L 9 SO 26/11 – juris Rn. 68). Außerdem ist zu berücksichtigen, dass sich ein sozialhilferechtlicher Anspruch auf Eingliederungshilfe für behinderte Erziehungsberechtigte gerade darauf stützen kann, dass die Eltern-Kind-Beziehung existenziell und eine soziale Bindung von herausragender Bedeutung ist und damit die Verantwortungsübernahme der Eltern mit Behinderung für ihr Kind eine zentrale Frage der Teilhabe der Eltern am Leben in der Gemeinschaft ist (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 1519/08 – juris Rn. 16; VG Minden, a.a.O., Rn. 23). Umgekehrt würde es der sich auf das verfassungsrechtlich in Artikel 6 Abs. 2 Satz 1 GG geschützte Elternrecht stützenden hohen Bewertung der Eltern-Kind-Beziehung widersprechen, einer Erziehungsberechtigten mit körperlicher Behinderung allein wegen dieser Einschränkung eine reduzierte Erziehungsfähigkeit zuzusprechen und einen damit korrespondierenden, sozialpädagogisch zu deckenden Bedarf anzunehmen. Die vom Kläger gewährte Eingliederungshilfe dient im Übrigen ja auch gerade dazu, das Entstehen eines Erziehungshilfebedarfs zu verhindern.
Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens als unterliegende Partei nach § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 VwGO, § 709 Satz 1 und 2 ZPO.

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