Verwaltungsrecht

Ausweisung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern, Gefahrenprognose, Interessenabwägung, langjähriger rechtmäßiger Aufenthalt, familiäre Beziehungen

Aktenzeichen  10 ZB 21.761

Datum:
23.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 10962
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1 und 2
GG Art. 6 Abs. 1

 

Leitsatz

Verfahrensgang

M 4 K 20.2211 2021-02-09 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger seine gegen den Bescheid der Beklagten vom 15. April 2020 gerichtete Klage weiter, mit dem diese unter Anordnung des Sofortvollzugs seine Ausweisung verfügt und ein (unter der Bedingung des Nachweises der Straffreiheit) auf fünf bzw. (ansonsten) sieben Jahre ab Ausreise befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot erlassen hat.
Der zulässige Antrag ist unbegründet. Die Berufung ist nicht wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16; B.v. 8.5.2019 – 2 BvR 657/19 – juris Rn. 33). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Soweit sich der Kläger zur Begründung auf eine fehlerhafte Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts beruft, weil er bereits seit 27 Jahren in Deutschland lebe und sich bis auf die Anlasstat straffrei geführt habe, die Vollstreckung der diesbezüglich verhängten Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt worden sei und er sich seither wiederum bereits zwei Jahre straffrei führe, greift dieser Einwand nicht durch. Denn unabhängig davon, dass das Verwaltungsgericht eine tatbestandsmäßige Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung im Sinne von § 53 Abs. 1 AufenthG auch aus generalpräventiven Gründen angenommen hat (UA S. 15: „Unabhängig davon gefährdet der Aufenthalt des Klägers auch im Hinblick auf generalpräventiven Erwägungen …“), hat es bei seiner Gefahrenprognose und Annahme einer beachtlichen Wiederholungsgefahr zu Recht darauf verwiesen, dass der wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei tatmehrheitlichen Fällen in Tatmehrheit mit versuchtem sexuellem Missbrauch von Kindern in zwei tatmehrheitlichen Fällen verurteilte Kläger durch seine sich über einen Zeitraum von etwa eineinhalb Jahren erstreckenden Taten die hochrangigen Rechtsgüter der sexuellen Selbstbestimmung und seelischen Unversehrtheit von besonders schützenswerten Kindern verletzt habe. Auch träfen die der günstigen Legalprognose des Strafgerichts, das die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren zur Bewährung ausgesetzt habe, zugrundeliegenden Annahmen zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts nicht mehr zu. Denn der Kläger leugne inzwischen seine Taten, bestreite den abgeurteilten sexuellen Missbrauch und versuchten sexuellen Missbrauch seiner Enkelin und lasse sich vielmehr dahingehend ein, deren Mutter „habe das Ganze gedeichselt“. Er habe nach seinen jetzigen Angaben das Geständnis vor dem Strafgericht nur auf Drängen seines Rechtsanwalts abgelegt und der Zahlung eines Schmerzensgeldes zugestimmt, um eine Bewährungsstrafe zu erlangen. Daraus hat das Verwaltungsgericht aber in rechtlich nicht zu beanstandender Weise gefolgert, dass der Kläger keinerlei Einsicht in sein strafrechtliches Fehlverhalten habe, eine Aufarbeitung der Straftaten nicht erfolgt und eine auf einen Fortfall der Wiederholungsgefahr hindeutende Verhaltensänderung bei ihm gerade nicht festzustellen sei. Weiter hat es bei seiner Gefahrenprognose ohne Rechtsfehler berücksichtigt, dass der Kläger bei seinen Taten eine erhebliche kriminelle Energie gezeigt habe und das vom Strafgericht noch positiv gewürdigte „stabile familiäre Umfeld“ des Klägers diesen in der Leugnung der Taten bzw. ihrer Verdrängung und Bagatellisierung sogar bestärke. Diesen die Gefahrenprognose wesentlich tragenden Erwägungen ist der Kläger aber im Zulassungsverfahren nicht durchgreifend entgegengetreten.
Auch der weitere Einwand, die Ausweisung erweise sich jedenfalls als unverhältnismäßig, weil der Kläger seit 27 Jahren im Bundesgebiet lebe, nunmehr kurz vor dem Rentenalter stehe und sowohl körperlich wie auch psychisch schwer erkrankt sei, der ebenfalls vielfältig erkrankten Ehefrau eine gemeinsame Ausreise mit dem Kläger in den Herkunftsstaat (Bosnien-Herzegowina) nicht zumutbar sei, so dass faktisch eine Trennung der Ehegatten erfolgen und eine spätere Familienzusammenführung schon infolge der Unmöglichkeit der Lebensunterhaltssicherung durch die Ehefrau scheitern würde, vermag keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts zu begründen. Vielmehr hat das Verwaltungsgericht bei der gemäß § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG vorzunehmenden Gesamtabwägung die Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Klägers im Bundesgebiet in rechtlich nicht zu beanstandender Weise abgewogen. Dabei hat es den Umstand, dass der Kläger eine Niederlassungserlaubnis besitzt, sich seit vielen Jahren im Bundesgebiet rechtmäßig aufhält und hier in ehelicher Lebensgemeinschaft mit seiner Ehefrau lebt, die ebenfalls eine Niederlassungserlaubnis besitzt, angemessen gewürdigt. Es hat die aufenthaltsrechtliche Bedeutung der familiären Bindung (Art. 6 Abs. 1 GG) des Klägers an seine sich berechtigterweise (ebenfalls) mit einer Niederlassungserlaubnis im Bundesgebiet aufhaltende Ehefrau nicht verkannt, jedoch zu Recht festgestellt, dass es der Ehefrau als bosnisch-herzegowinischen Staatsangehörigen grundsätzlich möglich und zumutbar wäre, mit dem Kläger nach Bosnien-Herzegowina zurückzukehren, zumal sich dieser ausweislich zahlreicher Stempel in seinem Reisepass und seiner Angaben in der mündlichen Verhandlung mit der gesamten Familie – einschließlich Ehefrau – regelmäßig dort aufgehalten habe. Selbst wenn die Ehefrau den Kläger nicht begleiten würde, sei es ihnen für die begrenzte Zeit des Einreise- und Aufenthaltsverbots – mit der Möglichkeit von Betretenserlaubnissen für den Kläger nach § 11 Abs. 8 AufenthG – zumutbar, die Ehe „auf Entfernung zu führen“. Den Kontakt zu den weiteren Familienmitgliedern – Kindern, Enkelkindern sowie zwei Schwestern und weitere Verwandte – könne der Kläger zumutbar auch über moderne Kommunikationsmittel und Besuchsaufenthalte aufrechterhalten. Dafür, dass eine spätere erneute Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet aufgrund fehlender Lebensunterhaltssicherung von vornherein ausgeschlossen wäre, hat der Kläger nichts Substantiiertes vorgetragen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 und § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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