Aktenzeichen AN 3 S 17.51416
AsylG AsylG § 1 Abs. 1 Nr. 2, § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 75 Abs. 1
RL 20/95/EU Art. 20 ff.
Leitsatz
Nach der aktuellen Auskunftslage ist nicht geklärt, ob in Ungarn die Anforderungen der Art. 20 ff. RL 20/95/EU eingehalten werden, was auch vor dem Hintergrund gilt, dass der BayVGH mit Beschluss vom 23. März 2017 festgestellt hat, dass das ungarische Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen an systemischen Mängeln leiden (vgl. BayVGH BeckRS 2017, 113723). (Rn. 16) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 22. November 2017 wird angeordnet.
2. Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
3. Der Gegenstandswert beträgt 1.500,00 EUR.
Gründe
I.
Der Antragsteller, syrischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Religionszugehörigkeit, hat bereits unter dem Aktenzeichen … ein Asylverfahren in der Bundesrepublik geführt. Mit Bescheid vom 29. August 2016 wurde sein Antrag als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Ungarn angeordnet. Die hiergegen gerichtete Klage wurde mit Urteil des Verwaltungsgerichts Regensburg (* …*) abgewiesen. Das Urteil ist seit dem 30. Dezember 2016 rechtskräftig.
Der Antragsteller wurde am 25. Januar 2017 nach Ungarn abgeschoben.
Am 25. Oktober 2017 stellte der Antragsteller erneut persönlich einen Antrag auf Durchführung eines weiteren Asylverfahrens (Folgeantrag), das Gegenstand vorliegenden Antrags ist.
Den Erkenntnissen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge zufolge (Eurodac-Treffer 1) lagen Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) vor.
Am 10. November 2017 wurde ein Übernahmeersuchen nach der Dublin III-Verordnung an Ungarn gerichtet, auf welches die ungarischen Behörden mit Schreiben vom 16. November 2017 erklärten, dass der Antragsteller bereits am 25. März 2016 einen Asylantrag in Ungarn gestellt hat und ihm am 17. März 2017 internationaler Schutz (subsidiärer Schutzstatus) nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zuerkannt wurde.
Im Rahmen seiner Anhörung vor dem Bundesamt zur Zulässigkeit des Asylantrags trug der Antragsteller im Wesentlichen vor, er sei in Ungarn zwei Mal inhaftiert worden, das erste Mal für 48 Stunden, das zweite Mal für zwei Monate. Warum er inhaftiert worden sei wisse er nicht. Auf Nachfrage, wie er denn frei gekommen sei, gab er an, es habe im Gefängnis einen Aufstand gegeben, danach seien die syrischen Häftlinge freigelassen worden. Während des Aufstands sei er von den Polizisten geschlagen worden.
In Bezug auf Tatsachen, die gegen ein Einreise- und Aufenthaltsverbot sprechen, gab der Antragsteller an, er habe eine Verlobte in Deutschland.
Mit Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 22. November 2017 wurde in Ziffer 1) der Antrag als unzulässig abgelehnt, in Ziffer 2) festgestellt, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, forderte in Ziffer 3) den Antragsteller auf, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe dieser Entscheidung zu verlassen und drohte andernfalls die Abschiebung nach Ungarn oder in einen anderen zur Rücknahme bereiten oder verpflichteten Staat an und befristete in Ziffer 4) das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung.
Am 30. November 2017 ließ der Antragsteller durch seine Prozessbevollmächtigte Klage erheben (AN 3 K 17.51417) und Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stellen.
Zur Begründung wird ausgeführt, das Asylverfahren in Ungarn leide unter systematischen Mängeln. Unabhängig davon seien die Bedingungen für die Asylbewerber nach wie vor menschendunwürdig.
Die Beklage beantragt,
Der Antrag wird abgelehnt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf die Behörden- und die Gerichtsakten sowie auf die über die mündliche Verhandlung gefertigte Niederschrift.
II.
Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO, die aufschiebende Wirkung gegen die in Ziffer 3) des angefochtenen Bescheids ausgesprochene Abschiebungsandrohung anzuordnen, ist wegen als offen zu beurteilender Erfolgsaussichten in der Hauptsache auch begründet.
Das Interesse der Antragstellerin überwiegt im Rahmen der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO vorzunehmenden Interessenabwägung das gesetzlich angeordnete Vollzugsinteresse nach § 75 Abs. 1 AsylG, weshalb die aufschiebende Wirkung ihrer Klage anzuordnen ist, § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO.
Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 27. Juni 2017 (1 C 26/16) dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens gemäß Artikel 267 AEUV unter Anderem die folgenden Fragen vorgelegt:
„Darf ein Asylantrag nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 als unzulässig abgelehnt werden, wenn ein anderer EU-Mitgliedstaat bereits Flüchtlingsschutz gewährt hat, in diesem Mitgliedstaat anerkannten Flüchtling aber
a) keine oder im Vergleich zu anderen Mitgliedstaaten nur deutlich eingeschränkt im Umfang existenzsichernde Leistungen gewährt werden, sie insoweit aber nicht anders behandelt werden als die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates?
b) Die Rechte nach Artikel 20 ff. AL 20/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) zwar gewährt werden, sie aber faktisch erschwerten Zugang zu den damit verbundenen Leistungen haben oder solchen Leistungen familiärer oder zivilgesellschaftliche Netzwerke haben, die staatlichen Leistungen ersetzen oder ergänzen?“
Bis zur Entscheidung des EuGH hat das Bundesverwaltungsgericht das Revisionsverfahren ausgesetzt. Diese zu den Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Italien ergangene Rechtsprechung lässt sich auf die Verhältnisse in Ungarn übertragen, denn nach der bestehenden Auskunftslage ist ebenfalls nicht geklärt, ob in Ungarn die Anforderungen der Artikel 20 ff. der EU-Qualifikationsrichtlinie eingehalten werden. Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass der Bayerische Verwaltungsgerichtshof mit Beschluss vom 23. März 2017 festgestellt hat, dass das ungarische Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen an systemischen Mängeln leiden (13 a B 17.50003). Vor diesem Hintergrund ist derzeit offen und bedarf einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren nach Klärung der Vorlagefragen durch den EuGH, ob der Antragsteller angesichts der Lebensbedingungen international Schutzberechtigter in Ungarn auf europarechtskonforme Weise nach Ungarn abgeschoben werden darf.
Bei der deshalb vorzunehmenden Interessenabwägung überwiegt das Interesse des Antragstellers an der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes das öffentliche Interesse an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung. Für den Fall, dass sich im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Antragsteller angesichts der Lebensbedingungen international Schutzberechtigte in Ungarn auf europarechtskonforme Weise nicht nach Ungarn abgeschoben werden darf, würde er bei einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung auf europarechtswidrige Weise diesen Lebensbedingungen und den damit einhergehenden Gefahren jedenfalls für sein Recht auf körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ausgesetzt werden. Demgegenüber sind die öffentlichen Interessen an einer sofortigen Aufenthaltsbeendigung, insbesondere des Bezuges weiterer Sozialleistungen für die Dauer des Verfahrens, geringer einzustufen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG, der Gegenstandswert aus § 30 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 RVG.
Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde angreifbar, § 80 AsylG.